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Neue Freie Presse
Morgenblatt
Nr. 12005. Wien, Dienstag, den 25. Januar 1898

[1]

Hofoperntheater.

(Bizet’s einactige Oper „Djamileh“.)


0003Ed. H. Bizet’s „Djamileh“ spielt im Orient, einem
0004Gebiet, das, von Operncomponisten des vorigen Jahrhunderts
0005sehr fleißig betreten, seit siebzig Jahren immer mehr aus
0006der Mode gekommen ist. Am wenigsten fühlte Deutschland 
0007sich zu einem Welttheil hingezogen, mit dem es, im Gegen-
0008satz zu Frankreich und Italien, nur spärliche Beziehungen
0009hatte. Vielleicht gewinnen wir eines Tages aus Kiaotschau 
0010neue chinesische Opernstoffe. Nach Mozart’s „Entführung“
0011und Winter’s „Opferfest“, war über ein Vierteljahrhundert
0012verflossen bis zu Spohr’s indischer „Jessonda“, und seit
0013dieser vor siebzig Jahren erschienenen Oper haben nur
0014Goldmark und Cornelius vorübergehend den Orient aufge-
0015sucht. Italienische Operncomponisten benützen den Orien-
0016talen, speciell den Türken, gern als komische Figur; wie
0017viel ist nicht gelacht worden in Rossini’s „Italienerin in
0018Algier“, seinem „Türken in Italien“ und deren späterem
0019Nachzügler „Tutti in maschera“ von Pedrotti! Mit einer
0020einzigen hervorragenden Ausnahme („Aïda“) zogen alle diese
0021italienischen Opern ihre Hauptwirkung aus dem Gegensatz
0022zwischen Europäern und Orientalen. Dieses Motiv beherrscht
0023auch die französische Opern-Production, welche relativ noch
0024am häufigsten zurückgekehrt ist zu orientalischen Stoffen.
0025Auber’s „Premier jour de bonheur“ und der „Kadi“ von
0026Ambroise Thomas bringen orientalische Sitten in komischen
0027Contrast zu französischer Cultur; Delibes’ „Lakmé“ spielt
0028Engländer und Indier gegen einander aus. Félicien David,
0029unter den Franzosen der musikalische Generalpächter des
0030Orients, verzichtet in seiner indischen „Lalla Rookh“ auf
0031diesen Contrast, und gleicherweise behilft sich Bizet’s kleine
0032Oper, bei der wir nun wieder angelangt wären, ohne
0033Europäer.


0034Nur drei Personen bewegen die einfache Handlung von
0035Djamileh“: ein reicher junger Türke, Namens Harun,
0036dann sein Hausverwalter und ehemaliger Erzieher Splendiano,
0037endlich die Sklavin Djamileh. Harun lebt ein lustiges, ver-
0038schwenderisches Junggesellenleben. Gewarnt durch die unglück-
0039liche Ehe seines Vaters, hütet er sich ängstlich, von einem
0040Weibe gefesselt zu werden. Daher sein streng eingehaltenes
0041Princip, keine Sklavin länger als einen Monat in seinem
0042Dienst zu behalten. Seine letzte Sklavin, Djamileh, eine
0043sinnige, tief empfindende Natur, verhehlt mühsam die leiden-
0044schaftliche Liebe für ihren Herrn. Harun, der nichts
0045davon ahnt, behandelt sie gleichgiltig. Um so sicherer
0046rechnet Splendiano darauf, die Schöne für sich zu ge-
0047winnen. Er erinnert seinen Gebieter, daß der festgesetzte
0048Tag der Verabschiedung Djamileh’s gekommen sei, und
0049Harun bestellt unverzüglich den Sklavenhändler, der ihm
0050neue Waare bringen soll. Während Harun mit seinen
0051Freunden sich am Würfelspiel ergötzt, verkündet Splendiano 
0052der armen Djamileh, was ihr bevorsteht. Sie erbittet sich
0053nur das Eine: daß sie noch einmal an Stelle der neuge-
0054wählten Sklavin, in deren Tracht verkleidet, Harun bedienen
0055dürfe. Vielleicht gelänge es ihr, in dieser Täuschung Harun’s
0056Herz zu rühren. Splendiano geht darauf ein, verrechnet sich
0057aber in seinen Erwartungen. In dem entscheidenden Augen-
0058blick fühlt Harun von Djamileh’s treuer Hingebung sich
0059mächtig bewegt; er erkennt, wo das wahre Lebensglück ihm
0060winke, und denkt nicht mehr an eine Trennung.


0061Das Textbuch ist nach Alfred de Musset’s „Namouna“
0062von L. Gallet geschickt bearbeitet. Dem Uebersetzer Herrn
0063Ludwig Hartmann gebührt das Verdienst, die halbver-
0064gessene Oper Bizet’s der deutschen Bühne erobert zu haben.
0065Die Handlung zeigt in ihrem Hauptmotiv eine starke Ver-
0066wandtschaft mit „Freund Fritz“. Auch hier der ehescheue
0067reiche Junggeselle, der, von der echten Liebe seiner Susel 
0068gerührt, sie schließlich heiratet. Allein so wie das Elsaß 
0069unseren Schritten, so liegen auch Fritz und Susel unserem
0070Herzen näher, als die beiden seltsamen egyptischen Leutchen. 
0071Auch fühlen wir uns ob der Zukunft des schwäbischen Braut-
0072paares ungleich beruhigter, als über Harun’s treue Be-
0073ständigkeit. Bizet’s einactige Oper bietet uns in engem
0074Rahmen ein mit minutiöser Sorgfalt ausgeführtes an-
0075muthiges Genrebild. Aus „Carmen“ und der Musik zu
0076Daudet’s „Arlésienne“ kennen wir Bizet als geistreichen,
0077feinen, in exotischem Musikstyle besonders glücklichen Com-
0078ponisten; gerade für sein Talent war Djamileh eine
0079lockende Aufgabe. „Carmen“ ist blendender, effectvoller, mit
0080satteren Farben und breiterem Pinsel gemalt; doch
0081scheint uns manche Scene in „Djamileh“ noch zartere
0082Schattirungen, noch eigenthümlichere Züge aufzuweisen.
0083Diese kleine Partitur enthält reizvolle Musikstücke;
0084dabei eine wohlthuende Harmonie und Styleinheit des
0085Ganzen, welche durch keinen Einbruch in die Große Oper,
0086noch durch ein Herabsingen zur Posse zerstört wird. Mit
0087der Ouvertüre pflegen sich Componisten der französischen
0088Opéra Comique nicht anzustrengen; auch die zur „Djamileh“
0089wiegt nicht schwer als selbstständiges Musikstück. Aber in
0090ihrem leichten frohbewegten Gang versetzt sie uns unmittel-
0091bar in den Localcharakter der Oper und fesselt trotz häufiger
0092Wiederholungen unser Interesse. Daß wir auf melodisch
0093Seltsames, auf harmonisch Gewagtes gefaßt sein
0094mögen, das sagt uns die Erinnerung an „Carmen“ und
0095Arlésienne“ voraus; hier tritt noch verführerisch zu der
0096Eigenart des Tondichters das orientalische Sujet. Schon im
0097ersten Tact der Ouvertüre zupft eine harmonische Gewalt-
0098samkeit uns am Ohr. Unwillkürlich erinnerte sie mich an
0099den reactionären Pariser Musikkritiker Scudo und die
0100drollige Anekdote, die von ihm vor zwanzig Jahren Hugo
0101Wittmann in diesem Blatte erzählt hat. Bei der Première von
0102Bizet’s Oper „Die Perlenfischer“ im Théâtre Lyrique beginnt
0103mitten in der Vorstellung der alte Scudo auf seinem Balconsitz
0104laut zu brummen, zu schimpfen und ruft, als sich Alles
0105nach ihm umwendet, laut ins Parterre hinab: „Ich werde
0106nicht durch meine Anwesenheit solche Scheußlichkeiten recht-
0107fertigen!“ Und stürmt über seine Sitznachbarn hinweg ge[2]-
0108räuschvoll zur Thür hinaus. Wahrscheinlich wäre dieses weiße
0109Hermelin der alten Schule schon nach den ersten Tacten
0110der Djamileh-Ouvertüre abgefahren. Lassen wir das Stück
0111ohne ihn beginnen. Gleich die erste Scene ist erfüllt von
0112poetischem Duft. Während Harun auf seinem Divan träu-
0113mend und rauchend ausgestreckt liegt, ertönt von ferne der melan-
0114cholische Gesang der Nilschiffer. Ihn durchbricht nach den ersten
0115Strophen ein kurzes, leises Orchester-Intermezzo, während
0116dessen Djamileh, den Blick auf Harun gerichtet, langsam
0117das Gemach durchschreitet. Diesen träumerischen, eigenartig
0118schwebenden Charakter bewahrt die Musik in allen Solo-
0119scenen der Djamileh. Das Duett zwischen Harun und
0120Splendiano erinnert in dem Ges-dur-Andantino („Sei das
0121Weib ein Engel“) an Gounod und erhebt sich nicht
0122merklich über das beliebte Niveau der Opéra comique.
0123Die nächste Scene zwischen Harun und Djamileh beginnt
0124im Orchester mit dem schwermüthigen Andante, welches das
0125erste stumme Auftreten Djamileh’s begleitet hat. Die Stim-
0126mung erheitert sich in dem von leichter Fröhlichkeit ange-
0127hauchten Terzett, mit welchem die Drei sich zu Tische
0128setzen. Der sich anschließende Gesang Djamileh’s zur
0129Mandoline biegt wieder in den ernst sinnenden Ton
0130orientalischer Musikweise ein. Das Stück ist origi-
0131nell, nur die Benennung „Ghazel“ ist falsch. Diese
0132Ballade vom König Nurredin hat in Form und Inhalt nichts
0133gemein mit der lyrischen Gattung des „Ghazel“, das bekanntlich
0134aus zweizeiligen Strophen besteht, welche durch einen gleichen
0135Reim der zweiten Zeile miteinander verbunden sind. Es
0136folgt ein gleichfalls zart empfundenes und interessantes
0137Melodram (Harun hängt der Djamileh einen Schmuck
0138um den Hals) und hierauf der lebensfrische Chor der
0139Spieler, „Djamileh’s Klage“, mehr declamatorischen als
0140melodiösen Charakters, würde durch ein weniger schleppen-
0141des Tempo gewinnen. Die Maschen dieses Gewebes
0142sind an sich zu weit, um ohne Nachtheil noch ausgedehnt zu
0143werden. Den Einzug des Sklavenhändlers mit den neuen
0144Sklavinnen begleitet das pikante Marschmotiv aus der 
0145Ouvertüre. Eine Perle ist der „Tanz der Almer“ mit be-
0146gleitendem Männerchor; echt orientalisch klingt die zwischen
0147Dur und Moll sich klagend durchwindende Melodie über der
0148im Baß festgehaltenen leeren Quinte a—e. Wie die Musik
0149sich dann dem beschleunigten Tanz anschmiegt, ihn anfeuert
0150und schließlich wieder lethargisch zusammensinkt, das Alles
0151ist mit einer genial zu nennenden Technik gemacht. Es folgt
0152nunmehr noch ein unbedeutendes komisches Lied des Splen-
0153diano und das große Schlußduett zwischen Harun und
0154Djamileh, das nicht frei von Anklängen an französische und
0155italienische Opernmotive, doch in seinem Schlußtheil („Aus
0156deinem süßen Munde“) durch die lieblich auf und nieder
0157gleitende Violinfigur interessirt und mit seinem glänzenden
0158Aufschwung der Singstimmen effectvoll abschließt. Die eigen-
0159thümlichsten, werthvollsten Nummern der Oper sind diejenigen,
0160welche der Componist aus der Seele des Orients heraus
0161empfunden und gestaltet hat — eine Vereinigung von Geist,
0162Feinheit und Charakteristik, welche dicht an der Schwelle des
0163Schönen steht.


0164George Bizet war im Leben wenig von Glück begünstigt.
0165Als Wunderkind angestaunt, dann mit dem ersten Preise
0166des Pariser Conservatoriums gekrönt, vermochte er doch mit
0167keinem Werke durchzudringen. Zwei komische Opern, „Die
0168Perlenfischer“ (1863) und „Das schöne Mädchen von Perth“
0169(1867) wanderten nach wenigen Vorstellungen ins Archiv.
0170Man verurtheilte sie als „Wagnerisch“, obwol kein Tact
0171darin an Wagner erinnert. Seltsames Volk! Jetzt kann es
0172sich an Wagner gar nicht satttrinken, im Theater und im
0173Concert. Von seinen beiden letzten Opern, „Djamileh“
0174(1872) und „Carmen“ (1875), hat Bizet zwar die erste
0175Vorstellung erlebt, aber nicht das letzte Wort. Dieses wurde
0176erst nach seinem Tode vom Publicum und der Kritik ge-
0177sprochen, und zwar in deutscher Sprache. Die Wiener 
0178Oper ging (unter Jauner’s Direction) mit „Carmen“
0179voran; durch Pauline Lucca, an die keine frühere oder
0180spätere Carmen hinanreichte, gewann diese Oper den Höhen-
0181punkt ihrer Erfolge. Anfangs zögernd, betroffen von der 
0182Frivolität der Titelrolle, folgten dann immer eifriger alle
0183deutschen Bühnen nach. Aehnlich dürfte es, in bescheidenerem
0184Maßstabe, „Djamileh“ ergehen, seitdem Berlin mit der
0185Wiederausgrabung dieses in Paris verschütteten kleinen Juwels
0186den Anfang gemacht hat. Eine hinreißende Wirkung vermag
0187nach allem bereits Gesagten „Djamileh“ nicht hervorzu-
0188bringen; darauf sind weder die Handlung noch die Musik
0189angelegt. An die Stelle von populären Melodien und
0190schlagend dramatischen Effecten treten hier feine charakte-
0191ristische Züge, reizvolle Wendungen, entzückende Orchester-
0192klänge, einheitlich zusammengehalten von einer geistreichen,
0193meisterlichen Technik. „Djamileh“ ist mehr eine Oper für
0194musikalische Feinschmecker, als für ein großes Publicum;
0195aber auch dieses hat, wie die Erfahrung lehrt, nach wieder-
0196holtem Hören oft an dergleichen Leckerbissen Geschmack ge-
0197funden und ihn beibehalten.


0198Die Novität wurde im Hofoperntheater ohne lärmenden
0199Enthusiasmus, aber durchaus freundlich, antheilvoll begrüßt.
0200Ueberaus dankbar erwies sich das Publicum gegen die ge-
0201lungene Aufführung. Fräulein Renard, die als Djamileh 
0202bezaubernd aussieht, vornehm singt und spielt, überraschte
0203obendrein als graziöse Tänzerin in der großen Balletscene.
0204Sie übernimmt höchst persönlich den Tanz, der auf allen
0205anderen Bühnen einer Prima ballerina zugetheilt ist. Der
0206Absicht des Textdichters entspricht dies nicht, aber der Erfolg
0207ist auf Seite der Renard. Herr Schrödter leiht dem
0208Harun erfolgreich seine unverwüstlich frischquellende Stimme.
0209Der immer fleißige und überall verwendbare Schitten-
0210helm
strebt als Splendiano unausgesetzt nach komischer
0211Wirkung. Weniger würde hier mehr sein. Er wird sich in
0212den nächsten Reprisen gewiß mäßigen. Denn gar so albern
0213und gehirnerweicht darf doch der Mann nicht erscheinen,
0214welchen Harun seinen „Freund und Erzieher“ nennt. Herr
0215Director Mahler hat sich durch die Aufführung von
0216Bizet’s Oper, die er persönlich dirigirte, ein neues Verdienst
0217erworben.