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Neue Freie Presse
Morgenblatt
Nr. 12021. Wien, Donnerstag, den 10. Februar 1898

[1]

Musik.

(„Nicolai-Concert“ der Philharmoniker. Rimsky-Korsakow. Weingartner.)


0003Ed. H. Der vorige Sonntag bescheerte uns das all-
0004jährliche Concert des Pensionsvereines „Nicolai“ der
0005Philharmoniker. Was es zuerst brachte, war eine Ent-
0006täuschung. Frau Saville hatte absagen lassen. Und man
0007war so begierig, von der interessanten dramatischen Sängerin
0008auch eine Händel’sche Arie und zwei deutsche Lieder im
0009Concertsaal zu hören! Ihre Absage gerieth zum Glück in
0010die Classe jener Mißgeschicke, die auch ihre gute Seite haben:
0011das Concert wäre, um drei Gesangsstücke vermehrt, un-
0012erträglich lang geworden. Nach Cherubini’s Anakreon-
0013Ouvertüre, deren Motive, Begleitungsfiguren und Instru-
0014mental-Effecte noch in den Ouvertüren von Boieldieu,
0015Isouard und Spontini („Vestalin“) leibhaftig nachtwandeln,
0016hörten wir das Clavierconcert in B-dur von Brahms.
0017Der junge schottische Pianist Friedrich Lamond, unserm
0018Publicum bereits vortheilhaft bekannt, bewältigte dieses
0019überaus schwierige Stück mit ausdauernder Kraft, ver-
0020ständnißvoller Hingebung und virtuosen, nur durch einen
0021harten, stechenden Anschlag etwas beeinträchtigtem Vor-
0022trag. Bekanntlich hat das B-dur-Concert, von der ge-
0023wöhnlichen Form abweichend, vier Sätze, und zwar
0024recht ausgedehnte. Mit Ausnahme des leichtfaßlichen,
0025munter hinströmenden Finales, erfordert es ein sehr auf-
0026merksam nachdenkendes Hören, das sich reichlich lohnt. Letzteres
0027läßt sich der „Scheherezade“ von Rimsky-Korsakow 
0028schwerlich nachrühmen. Mit dieser russischen Symphonie haben
0029die Pilharmoniker unser jüngst ausgesprochenes Verlangen
0030nach Novitäten erfüllt und zugleich bestraft. Die brillante
0031Aufführung der „Scheherezade“ glich einer liebenswürdigen
0032Rache. Ist das eine Musik! seufzten wir halblaut während
0033des Finales. Ist das eine Musik? repetirte fragend das
0034Echo von rechts und links in unserer Nachbarschaft. Rimsky-
0035Korsakow, heute ein Mann von 54 Jahren, commandirt die
0036äußerste Linke der jungrussischen Schule. Vor zwanzig Jahren
0037noch activer Officier, zeigt er auch als Componist erstaunliche 
0038Courage. Von seinen Orchesterwerken kennen wir in Wien 
0039nur die Legende „Sadko“, welche Rubinstein 1872 als
0040Director unserer Gesellschaftsconcerte aufgeführt hat. Das
0041vorgedruckte Programm — es ist charakteristisch für die
0042ganze Richtung dieses Componisten — lautete: „Sadko,
0043ein berühmter Guslaspieler, wurde von seinen Reisegenossen
0044während einer Meerfahrt über Bord geworfen, da ihn das
0045Los traf, dem die Weiterfahrt hindernden Seekönig geopfert
0046zu werden. Vom Seekönig, der seine Tochter eben vermält,
0047in die Tiefe gezogen, muß Sadko durch sein Spiel das Fest
0048verherrlichen. Die Macht seiner Töne bringt die Wasser in
0049Aufruhr. Immer rascher wirbelt der Tanz, immer wilder
0050steigert sich Sadko’s Spiel — da, plötzlich reißen die Saiten,
0051und ruhig wie vordem gleiten die Wellen des Meeres.“ Diese
0052Composition offenbarte eine Armuth musikalischen Denkens
0053und eine Frechheit der Instrumentation, wie sie uns früher
0054nie vorgekommen. Dem Princip einer auf die äußerste Spitze
0055getriebenen Programm-Musik ist Rimsky-Korsakow seither
0056treu geblieben. Wie damals Rubinstein aus russischem
0057Patriotismus, so bringen jetzt die Franzosen aus politischer
0058Liebedienerei Korsakow’sche Bildermusik in ihren Concerten. Da
0059producirte kürzlich Lamoureux eine entsetzlich lange Symphonie,
0060betitelt „Antar“. Dieser Antar hat die Seinigen verlassen,
0061um allein auf den Ruinen von Palmyra zu leben. Während
0062er die Wüste betrachtet, flüchtet eine Gazelle, von einem
0063Raubvogel verfolgt, in seine Nähe. Der Einsiedler verscheucht
0064den Raubvogel und schläft ein, nicht ahnend, daß das ge-
0065rettete Thier die Fee Gül-Nazar gewesen. Sie verspricht
0066zum Dank ihrem Retter die berauschendsten Genüsse des
0067Lebens: Rache, Macht und Liebe. Diese Vorgeschichte bildet
0068den „Inhalt“ des ersten Symphoniesatzes. Die folgenden drei
0069schildern nach einander die Wonnen der Rache, der Macht, der
0070Liebe. Der Pariser Kritiker Boutarel urtheilt, nachdem er
0071dem Antar das Almosen „interessant“ zugeworfen, das sei
0072„Kunst für eine Generation, welche nach verzweifelten Auf-
0073regungen, nach zum Paroxismus gesteigerten Empfindungen
0074verlangt.“


0075Aehnliches gilt von der Programm-Symphonie „Sche-
0076herezade“, welche wir Sonntag gehört haben. Jeder der vier
0077entsetzlich langen Sätze „erzählt“ ein Märchen aus 1001
0078Nacht. Das sonst beliebte, Tact für Tact erläuternde 
0079Programm fehlt diesmal. Der Componist hätte die
0080vier Märchen vollständig abdrucken müssen, was doch
0081zu umständlich gerathen wäre auf einem Concertzettel. Er
0082begnügt sich also mit den Ueberschriften: 1. Das Meer und
0083Sindbad’s Schiff. 2. Erzählung des Prinzen Kalender.
00843. Der junge Prinz und die junge Prinzessin. 4. Fest in
0085Bagdad. Das Meer. Das Schiff zerschellt an einem
0086Felsen, auf welchem der eiserne Ritter steht. Der Inhalt
0087dieser Geschichten aus 1001 Nacht ist leider meinem
0088Gedächtnisse entschwunden, und weder könnte ich mit Be-
0089stimmtheit sagen, was der Prinz Kalender eigentlich erzählt,
0090noch was für Schmerzen die Prinzessin hat, noch endlich
0091warum das Fest in Bagdad stattfindet und ein eiserner
0092Ritter auf dem Felsen steht. Nachdem die meisten Zuhörer
0093sich offenbar in dem gleichen hilflosen Zustande befanden, so
0094sprach aus allen Mienen die nervöse Unsicherheit, was uns
0095denn eigentlich da vormusicirt werde? Das ist ja das Elend
0096der streng ausgeführten Programm-Musik; erzählt uns das
0097Programm nicht ganz detaillirt, was ein jeder Symphonie-
0098satz vorstellt, so wird die Composition unverständlich; ge-
0099schieht es aber, so wird sie lächerlich. Etwas Anderes ist eine
0100einfache Ueberschrift, die unsere Phantasie in bestimmter Rich-
0101tung anregt, ohne sie zu knebeln, und etwas Anderes ein de-
0102taillirtes Programm. Wenn ein Componist wie Rimsky-Korsakow 
0103es unternimmt, mit musikalischen Elementen nicht zu com-
0104poniren, sondern zu malen, zu dichten, zu erzählen, zu
0105philosophiren, so kann sein erklärender Vorreiter nicht red-
0106selig genug sein. Je genauer er aber diesen prosaischen
0107Dienst thut, desto mehr fälscht er das Wesen der reinen In-
0108strumental-Musik und erniedrigt ihre Würde. Wir wollen
0109hören, was der Componist uns zu sagen hat, und
0110nicht, was der Prinz Kalender erzählt. In Bezug auf
0111die musikalische Ausführung beobachtet der Componist der
0112Scheherezade“ abwechselnd zwei Methoden: entweder er
0113ermüdet uns durch unaufhörliche Wiederholungen desselben
0114Motivs, derselben Figur, oder er zerreißt unversehens den
0115Zusammenhang durch plötzliche Contraste und schleudert uns
0116in jähem Wechsel der Tact- und Tonarten hin und her.
0117Dabei fehlt diesem Feuerwerkskünstler innere Wärme und
0118tiefe Empfindung; inmitten seiner Raketen bleibt er selber
0119kalt und — wir auch. Die unerhörtesten Mittel und In[2]-
0120strumental-Combinationen bietet er auf, um uns fremdartige
0121Vorgänge unverständlich zu erzählen. Jene Deutlichkeit, welche
0122nur das (gesprochene oder gesungene) Wort und die scenische
0123Darstellung erreichen können, bleibt ihm versagt und die rein
0124musikalische Befriedigung gleichfalls. Was bleibt also übrig?
0125Eine Reihe von Instrumental-Effecten, die stellenweise ori-
0126ginell, pikant und reizvoll, stellenweise erkünstelt und brutal
0127klingen. Was bringt Rimsky-Korsakow nicht Alles in Be-
0128wegung! Triangel, Tamburin, kleine Trommel, große
0129Trommel, Tamtam, Becken, Harfen! Selbst gegen diesen
0130Luxus wäre nichts einzuwenden, wenn damit künstlerische
0131Zwecke erreicht, neue Ideen verkörpert würden. So aber, da
0132wir in dem Klangtumult die schöpferischen Gedanken, ja die
0133Seele vermissen, fühlen wir uns herabgezogen in die Sphäre
0134der Kunstreitermusik oder, noch schlimmer, zu den Tanzunter-
0135haltungen halbnackter Wilder.


0136Die Programm-Musik in ihrer ernsten künstlerischen Be-
0137deutung ist von neuem und neuestem Datum. Was eine
0138frühere Zeit an vereinzelten Tonmalereien besaß (Clavier-
0139stücke à la „Schlacht bei Leipzig“), war lediglich Spielerei,
0140zum Ergötzen kleiner und großer Kinder. Erst Berlioz hat
0141Programm-Symphonien von künstlerischer Bedeutung und
0142großen Formen geschaffen. Seither hat die Mode, Orchester-
0143werken ein bestimmtes poetisches Programm zu unterlegen,
0144sich ungemein verbreitet und festgesetzt, in Frankreich und Ruß-
0145land nicht weniger als in Deutschland. Schon hat sie bei allen
0146drei Nationen zu höchst unkünstlerischen, ja lächerlichen Aus-
0147artungen geführt. (Siehe Rimsky-Korsakow, Balakirew, Victor
0148d’Indy, Richard Strauß.) Gegen dieselben ist jetzt ein
0149enthusiastischer Anhänger der Liszt-Wagner’schen Richtung,
0150von dem ich es am wenigsten erwartet hätte, aufgetreten:
0151Herr Felix Weingartner. Was wir in Wien von seinen
0152Compositionen kennen, verkündet den extremen Zukunfts-
0153musiker: das Orchestervorspiel zu „Malawika“ und die Lear-
0154Ouvertüre, noch mehr das Programm seines großen Myste-
0155riums „Die Erlösung“, welches er vier Abende lang in einem
0156eigens dafür zu erbauenden Theater aufführen will. Nach diesen
0157Proben mußte Weingartner’s kürzlich erschienene Broschüre
0158Die Symphonie nach Beethoven“ sehr angenehm überraschen.
0159Sie entwickelt geistreiche Ideen über Musik und treffende
0160Urtheile über Componisten und das Alles nichts weniger als
0161polemisch; vielmehr sachlich, maßvoll, mitunter sogar warm 
0162und liebenswürdig. Hier will ich, im Zusammenhang
0163mit der „Scheherezade“, nur einige von Weingartner’s 
0164Aussprüchen über Programm-Musik mittheilen. Das thue
0165ich um so lieber, als sie völlig mit den Ansichten überein-
0166stimmen, welche ich vor 40 Jahren in meiner von den
0167Wagnerianern stark angefeindeten Abhandlung „Vom Musika-
0168lisch-Schönen“ entwickelt habe. Weingartner ist so gerecht,
0169selbst Berlioz und Liszt nicht zu schonen, wo er sie auf einem
0170Mißbrauch der Programm-Musik betrifft.


0171Ueber das vorletzte Orchesterstück in Berlioz’ Romeo-
0172Symphonie — („Romeo am Grabe Juliens, Anrufung,
0173Juliens Erwachen, Freudentaumel und die ersten Wirkungen
0174des Giftes, Todesangst und Verscheiden der Liebenden“) —
0175äußert Weingartner: „Berlioz hat hier versucht, die Einzel-
0176heiten der dramatischen Handlung durch melodische Bruch-
0177stücke, Accente, Accordverbindungen und ausdrucksvolle Figu-
0178rationen mit einer Deutlichkeit wiederzugeben, daß man sich
0179die Fähigkeit zutrauen möchte, in jedem Tact den Vorgang ver-
0180folgen zu können. Dennoch ist der Eindruck dieses Ton-
0181stückes selbst bei der besten Wiedergabe ein durchaus ver-
0182wirrender, ja stellenweise sogar ein lächerlicher. Der Grund
0183liegt darin, daß der Musik hier eine Aufgabe gestellt ist, die
0184sie nicht zu lösen vermag. Wäre nicht durch den Titel ein
0185Hinweis auf den Vorgang des Dramas gegeben, so wüßten
0186wir überhaupt nicht, was wir hörten, und hätten die Wirkung
0187eines sinnlosen Toncomplexes. Die Empfindung der Sinnlosig-
0188keit wird aber auch nicht aufgehoben, wenn wir wissen, was wir
0189uns vorzustellen haben.“ Weingartner beharrt dabei, „daß
0190die Musik eine Kunst ist, die niemals durch Begriffe 
0191zu uns sprechen kann; daß sie ihrer Hoheit entkleidet wird,
0192wenn ein Künstler ihr Begriffe unterschiebt, die sie uns nach
0193Art des Wortes erklären soll; daß sie erniedrigt wird, wenn
0194er sie sklavisch von Tact zu Tact an ein Programm bindet.
0195Die Musik vermag die Stimmung, die seelische Dis-
0196position
wiederzugeben, die ein Vorgang in uns erzeugt,
0197nicht aber den Vorgang selbst zu schildern“. Mit Recht ver-
0198theidigt Weingartner nur jene Ueberschriften, durch welche
0199die Phantasie bedeutsam angeregt, aber nicht ängstlich ge-
0200fesselt wird. Diese Forderung glaubt er bei den meisten
0201symphonischen Dichtungen von Liszt erfüllt zu sehen,
0202verurtheilt aber doch dessen „Ideale“. Er sagt: „Wenn Liszt 
0203in seiner symphonischen Dichtung „Die Ideale“ Bruchstücke 
0204des Schiller’schen Gedichtes der Reihe nach musikalisch zu
0205interpretiren und dann diese Interpretationen zu einem Satze
0206zusammenzuschweißen versucht, ja so weit geht, in seiner
0207Partitur über die einzelnen Musikstücke die Theile
0208des Gedichtes zu schreiben, die er an den be-
0209treffenden Stellen vorgestellt wissen will, so daß
0210eigentlich nur der mit der Partitur Bewaffnete wissen kann,
0211was er sich gerade im Augenblick denken soll, und nicht ein-
0212mal derjenige folgen kann, der die Theile des Gedichtes selbst
0213vor sich hat, so wird die Musik, wie es in diesem Stücke
0214thatsächlich der Fall ist, flügellahm ausfallen, weil sie sich
0215nicht ihrem Wesen gemäß frei entwickeln kann, sondern von
0216vornherein an die aufeinanderfolgenden Bruchstücke des Ge-
0217dichtes, also an eine Reihe von Begriffen gebunden ist.“
0218Das sind, wie meine Leser wissen, keineswegs neue Wahr-
0219heiten. Aber daß gerade Weingartner, einer der muthigsten
0220Feldherren im zukünftlerischen Heere, sie ausdrücklich bekennt
0221und energisch versicht, das scheint mir ein bedeutsames und
0222werthvolles Factum. Weingartner macht auf seinem kritischen
0223Streifzug auch Halt bei seinem Collegen Richard
0224Strauß
, dessen symphonischer Dichtung „Also sprach
0225Zarathustra“ er dieselben Fehler nachweist, in welche Liszt 
0226in den „Idealen“ verfallen ist. Die Zusammenfügung der
0227einzelnen Musikbruchstücke, aus denen diese symphonische
0228Dichtung besteht, erforderte Uebergänge, um das Ganze nicht
0229in einzelne Sätze aufzulösen. „Um diese Uebergänge zu ver-
0230stehen,“ fährt Weingartner fort, „ist man fortwährend ge-
0231nöthigt, die zweifellos geistreichen Gedanken, die den Com-
0232ponisten dabei geleitet haben, sowie die eventuellen Beziehungen
0233zur programmatischen Vorlage Tact für Tact herauszuge-
0234heimnissen, daher auch hier der Eindruck von Musik im
0235wahrsten Sinne des Wortes verloren geht.“ Weingartner 
0236gesteht offen seine Verwunderung darüber, wie „Zarathustra“
0237als ein Höhepunkt des Strauß’schen Schaffens, ja sogar
0238als ein Höhepunkt in der bisherigen Entwicklung der Musik
0239gepriesen werden konnte. Für ihn sei der „Zarathustra“ viel-
0240mehr „ein Merkzeichen, wie weit die Musik sich von ihrem
0241eigenen Wesen abwenden könne“. Dieser Ausspruch macht
0242dem Geschmacke und dem Freimuthe Weingartner’s alle Ehre.


0243Im engen Zusammenhange mit diesen Ansichten stehen
0244Weingartner’s Aussprüche über die Wagner’schen Leit-
0245motive
. Nicht gegen diese Leitmotive selbst wendet sich [3]
0246Weingartner als strenggläubiger Wagnerianer, wol aber
0247gegen deren Ausnützung von Seiten der Erklärer. In der
0248That haben die Leitmotive in „Tristan“, „Nibelungenring“
0249und „Parsifal“ bereits eine kleine Literatur von „Führern“,
0250einen förmlichen Industriezweig geschaffen. Es ist wirklich
0251zum Todtlachen, wenn man die armen Leute im Parquet
0252betrachtet, wie sie nervös in Wolzogen’s Leitfaden vor- und
0253nachblättern, welches von den neunzig Leitmotiven des
0254Nibelungenringes“ jetzt eben vorüberhuscht: das Schwert-,
0255das Drachen-, das Rachewahnmotiv, das Riesen- und Zwergen-
0256motiv, das „Leitmotiv des matten Sigmund“ oder was sonst
0257noch? „Die Leitmotive mit ihren abenteuerlichen Benennun-
0258gen,“ schreibt Weingartner, „und ihre Gefolgschaft, die
0259Leitfaden, haben über Wagner’s Kunst mehr Verwirrung
0260wie Aufklärung gebracht, denn sehr oft glaubte man die
0261Werke genügend studirt zu haben, wenn man möglichst viel
0262Leitmotive herausgefunden hatte; man verlor sich in Spitz-
0263findigkeit und gedankenloser Gedächtnißarbeit, anstatt tiefere
0264Erkenntnisse zu gewinnen.“ Diesem Gedankengang entspricht
0265auch vollständig Weingartner’s Abneigung gegen die bei
0266Orchester-Concerten jetzt üblichen Programmbücher.
0267„Der intellectuelle Schaden, den sie dem Hörer zufügen, ist
0268noch größer als der materielle Vortheil, den die Heraus-
0269geber einheimsen. Welchen Werth kann im Concert so ein
0270zerstreutes Zuhören mit ungenügendem Nachlesen haben?
0271Wer glaubt, die Programmbücher nicht entbehren zu können,
0272der lese sie vor den Concerten, zu Hause, in Verbindung
0273mit dem Studium der Partitur oder eines guten Clavier-
0274auszuges!“


0275Weingartner’s Urtheile über unsere hervorragenderen
0276Symphonie-Componisten sind durchwegs ernst und aufrichtig,
0277gewiß auch so weit gerecht, als es einer bestimmten Indivi-
0278dualität gegenüber höchst verschiedenartigen Künstlernaturen
0279möglich ist. Von Brahms spricht Weingartner mit
0280höchstem Respect, aber ohne Liebe. Mit dem Herzen ist er
0281bei Bruckner, obwol er ihm zahlreiche Irrthümer und Ver-
0282stöße nachweist. Ueber Geschmack und Sympathie läßt sich
0283nicht streiten, nicht richten. Ein näheres Eingehen auf
0284Einzelheiten würde die uns gesteckten Grenzen überschreiten.
0285Doch dürfte schon das Gesagte genügen, um den Leser für
0286die Lectüre der geistreichen und anregenden Ausführungen
0287Weingartner’s zu gewinnen.