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Neue Freie Presse
Morgenblatt
Nr. 12012. Wien, Dienstag, den 1. Februar 1898

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Denkmäler der Tonkunst in Oesterreich.

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0002Der fünfte Jahrgang (1898) dieser unter der Patronanz des
0003Unterrichtsministeriums veranstalteten, von Professor Guido Adler 
0004geleiteten Unternehmung liegt nunmehr vor. Er enthält zwei
0005Foliobände. Der eine Halbband bringt das erste Buch des soge-
0006nannten „Choralis Constantinus“ von Heinrich Isaak, dem
0007Hofcomponisten Kaiser Maximilian’s I., welcher den Künstler auch
0008für diplomatische Missionen am Hofe der Medicäer in Florenz 
0009verwendete. Isaak gilt in der Kunstgeschichte als ein Epochen-
0010mann, der die strenge, herbe polyphone Schreibweise des fünf-
0011zehnten Jahrhunderts zu dem schönen Style der A-Capellisten des
0012sechzehnten Jahrhunderts mit überleitete. Das erste Buch dieses
0013die Liturgie des ganzen Kirchenjahres umfassenden Werkes enthält
0014das Graduale in mehrstimmiger Bearbeitung für unbegleiteten
0015Gesang. In Partitur erscheint es zum erstenmale in den „Oester-
0016reichischen Denkmälern“. Es ist ein Werk von eminenter kunst-
0017historischer Bedeutung, dem aus der Epoche seines Entstehens kein
0018zweites zur Seite zu stellen ist. Isaak, ein geborener Niederländer,
0019beherrschte die Kunstmittel seiner Zeit mit souveräner Macht und
0020vermochte durch seine Beziehungen zur deutschen, italienischen und
0021französischen Kunst eine Universalität zu erreichen, in der nieder-
0022ländische Satzkunst, italienische Anmuth und deutsche Gemüthstiefe
0023glücklich vereinigt sind. Die Neu-Edition wurde bearbeitet im
0024musikwissenschaftlichen Seminar der deutschen Universität in
0025Prag von den Herrn Professor Emil Bezecny und Dr. Walter
0026Rabl, bietet also alle Garantien wissenschaftlicher Genauigkeit. 
0027Der zweite Halbband bringt Sonaten für Violine von Franz
0028Heinrich Biber, die 1681 in Kupfer gestochen erschienen. Biber,
0029ein gebürtiger Deutschböhme (geboren 1644 in Wartenberg, ge-
0030storben 1701), stand 34 Jahre in Diensten des fürsterzbischöflichen
0031Hofes in Salzburg, vorerst als Musiker und Kammerdiener, dann
0032als Capellmeister und Truchseß. Vom Kaiser Leopold I. wurde er
0033mit dem Reichsadel ausgezeichnet; sein Wappen ist geziert mit
0034einem Biber, welcher in den Tatzen ein zusammengerolltes Partitur-
0035buch hält. Die von Professor Dr. Guido Adler verfaßte Ein-
0036leitung zur Ausgabe der Sonaten bietet eine auf neuen Quellen-
0037forschungen basirte Monographie über Leben und Wirken dieses
0038großen Künstlers, der als erster Deutscher neben den auf dem Ge-
0039biete der Violin-Composition damals herrschenden Franzosen und
0040Italienern die Anerkennung und Bewunderung der gebildeten
0041Kunstwelt sich errang. Professor Adler behandelt in eingehen-
0042der Weise die kunsthistorische und technische Würdigung der So-
0043naten und kommt zu dem Schlusse, daß dieselben in heutiger
0044Zeit als ein Reinigungsbad für die Componisten von Werken für
0045Solovioline dienen könnten. Sie werden Freunden gediegener
0046Kammermusik eine willkommene Bereicherung des Programms
0047bieten. Da der bezifferte Baß von Herrn Joseph Labor in dessen
0048bewährter feiner Stylempfindung ausgearbeitet ist, dürften die
0049Sonaten bald zum Hausschatze der Violinspieler gehören. Der
0050von der Verlagsfirma Artaria & Comp. beigegebenen Ueber-
0051sicht über die bisherigen Publicationen der Denkmäler ist zu ent-
0052nehmen, daß einzelne Bände zu einem gegenüber dem Subscriptions-
0053Betrage erhöhten Preise auch einzeln abgegeben werden. Mit
0054gerechtem Stolz können wir auf die „Oesterreichischen Denkmäler“ der
0055Tonkunst, die bisher in elf Foliobänden vorliegen, blicken und uns
0056der Anerkennung freuen, die denselben von reichsdeutscher Seite zu
0057Theil wird, umsomehr, da auf diesem Gebiete der Kunstwissen-
0058schaft die vaterländische Arbeit in siegreiche Concurrenz getreten
0059ist. Die Förderung seitens des österreichischen Unterrichtsmini-
0060steriums trägt hier reiche Früchte. Ed. H.