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Neue Freie Presse
Morgenblatt
Nr. 12071. Wien, Freitag, den 1. April 1898

[1]

Ein Monument für Brahms.


0002Ed. H. Eine zarte Frauenhand hat zu dem Brahms-
0003Denkmal den ersten Stein gelegt: Alice Barbi. Ihr
0004gestriges Concert war die erste werkthätige Kundgebung für
0005dieses edle Unternehmen. Brahms, so knorrig und unzu-
0006gänglich er sich auch zeigen mochte gegen das schöne Ge-
0007schlecht, das musicirende zumal, ist doch ein bevorzugter
0008Liebling der Frauen gewesen. Sie haben ihn lebenslang mit
0009zarter Sorgfalt umgeben, seine Musik tief ins Herz ge-
0010schlossen und tapfer dafür gewirkt. Zwar ist er nicht wie in
0011Mainz der Minnesänger Frauenlob von Mädchen zur letzten
0012Ruhestatt getragen worden, aber Frauenhände und Frauen-
0013lippen sind es doch vor Allen, die jetzt mit Sang und
0014Saitenspiel den Ruhm des todten Meisters verbreiten.
0015Blättern wir nur in den Wiener Concertprogrammen der
0016jüngsten Zeit. Da hat das Damenquartett Soldat-Röger 
0017unter Mitwirkung von Fräulein Baumayer (mit dem
0018Kammer-Virtuosen Mühlfeld) das Clarinett-Quintett und
0019das Clarinett-Trio meisterhaft gespielt — zwei Spätwerke
0020von Brahms, deren erstgenanntes schöner, das zweite schwie-
0021riger ist für Spieler und Hörer. Wie unter den Sänge-
0022rinnen die Barbi, so schätzte Brahms unter den Pianistinnen
0023zuhöchst die Baumayer, unter den Geigerinnen die
0024Soldat als musikalisch denkende und empfindende Naturen.
0025Zwei neueste, rasch berühmte Sängerinnen aus der Fremde,
0026Camilla Landi und Marcella Pregi, schmückten ihre Concerte
0027mit Brahms’schen Liedern, obgleich das Deutsche ihnen nicht
0028an der Wiege gesungen ward. Fügen wir noch den Vortrag
0029der „Rhapsodie“ durch die Altistin Fräulein Walker 
0030hinzu, Liederspenden von Frau Prasch-Passy, die
0031Clavierproductionen von Ilona Eibenschitz und Henriette
0032Hemala, so haben wir nur die allerjüngsten Damen-
0033vorträge Brahms’scher Musik gestreift. Auch in den letzten
0034Programmen unserer Kammermusiker — zuletzt das schöne
0035F-dur-Quintett bei Rosé — und unserer Orchester-
0036Concerte behauptete Brahms einen vorragenden Platz. 
0037Hans Richter hat die „Philharmonischen Concerte“
0038mit der F-dur-Symphonie eröffnet, mit der hinreißend ge-
0039spielten „Akademischen Ouvertüre“ beschlossen. Letztere ward
0040seinerzeit von einigen Widersachern zu dem mißlungenen Ver-
0041suche benützt, Brahms, den Gegner aller Programm-Musik,
0042einer Inconsequenz zu zeihen. Die Akademische Ouvertüre ist
0043aber nichts weniger als Programm-Musik; sie erzählt keinen
0044Vorgang, noch schildert sie Gemüthsbewegungen, die einer
0045Worterklärung bedürften. Als eine Dank- und Gelegenheits-
0046Musik für das von der Königsberger Universität empfangene
0047Ehrendoctorat hat Brahms diese Ouvertüre mit einigen
0048allbekannten Studentenliedern durchflochten; sie erklingen
0049hier als natürliche, man darf sagen nothwendige Citate.
0050Es verhält sich damit genau so wie mit Weber’sJubel-
0051Ouvertüre“, welche, eine Huldigung für den König von
0052Sachsen, mit der Volkshymne „Heil dir im Siegerkranz“
0053schließt; wie mit Schumann’s Ouvertüre zu „Hermann
0054und Dorothea“ und der darin anklingenden Marseillaise; wie
0055mit Haydn’sGott erhalte“ in dem Kaiserquartett, oder
0056mit Dvořak’s Ouvertüre „Mein Heim“, welche zwei
0057patriotisch-böhmische Volkslieder citirt und durchführt. Nur
0058Director v. Perger, der so schöne Worte am Grabe des
0059Meisters gesprochen, unterließ es leider, eines der Gesell-
0060schafts-Concerte mit Chören oder Vocalquartetten von
0061Brahms zu schmücken.


0062Und das Ausland? Die Programme jeder größeren
0063oder mittleren Stadt Deutschlands bezeugen, wie fest und
0064immer fester Brahms im Herzen der Nation sich angesiedelt
0065hat. Von außerdeutschen Ländern scheinen ihn zumeist Eng-
0066land, Holland und Nordamerika zu pflegen, neuestens auch
0067Skandinavien; Frankreich und Italien wenigstens auf dem
0068Gebiete der Kammermusik. Interessant ist ein Programm
0069aus Lausanne, wo vor vier Wochen ein eigenes Concert
0070„à la mémoire de J. Brahms“ stattgefunden hat mit der
0071Zweiten Symphonie und dem Clavier-Concert in D-moll an
0072der Spitze.


0073Einmal in Statistisches hineingerathen, gedenken wir
0074gerne in Kürze auch der neuesten Brahms-Literatur. In
0075einem früheren Feuilleton haben wir bereits das reich 
0076illustrirte Buch von H. Reimann besprochen, ferner die
0077bei Bechhold in Frankfurt erschienenen „Erläuterungen
0078Brahms’scher Werke“, die von Simrock herausgegebenen
0079Brahms-Texte“, sowie dessen Supplement zu dem „Thema-
0080tischen Katalog“. Die ursprünglich in der „Deutschen Rund-
0081schau“ erschienenen fesselnden „Erinnerungen an Brahms“
0082von V. Widmann liegen jetzt als selbstständiges Buch
0083(Paetel’s Verlag in Berlin) vor uns, das allen Freunden
0084des Meisters warm empfohlen sei. Auch Brahms’ lang-
0085jähriger Freund, Geheimrath Deiters in Coblenz, hat sich
0086neuerdings wieder vernehmen lassen. Sein Aufsatz über Brahms 
0087erhob sich in der von Breitkopf & Härtel herausgegebenen
0088Sammlung musikalischer Vorträge“ als einer der werthvollsten;
0089im Jahre 1880 erschienen, reichte derselbe nur bis zur „Akademi-
0090schen Ouvertüre“ op. 80. Nun hat der geehrte Verfasser seine
0091Arbeit durch ein zweites Heft vervollständigt, welches das
0092Leben und Schaffen Brahms’ vom Jahre 1880 an bis ans
0093Ende behandelt. Diese zweite Hälfte von Deiters’ Mono-
0094graphie ist mit derselben philologischen Sorgfalt und Voll-
0095ständigkeit, derselben eindringenden Kenntniß und fast unbe-
0096grenzten Liebe für Brahms, den Menschen und Künstler,
0097geschrieben wie die erste. Viel Neues und Anziehendes ent-
0098halten die in der „Gegenwart“ veröffentlichten „Erinnerungen
0099an Brahms“ von Klaus Groth. Dem berühmten
0100Dichter des „Quickborn“ war Brahms durch jahrelange
0101innige Freundschaft verbunden, obendrein durch Landsmann-
0102schaft. Brahms’ Großvater und der Großvater von Klaus
0103Groth haben in dem dithmarschen Flecken Heide in Einer
0104Häuserreihe gewohnt. Klaus Groth erinnert sich, wie sein
0105Vater eines Morgens am Kaffeetische von dem plötzlich auf-
0106getauchten jungen Musiker in Hamburg vorlas. „Das muß
0107der Sohn sein von meinem Schulkameraden Johann Brahms;
0108der entlief dem Alten aus Leidenschaft für die Musik.“
0109Unser Johannes Brahms hat die Geschichte, wie sein
0110Vater Musiker geworden, mit folgenden Worten ergänzt:
0111„Aus reiner Leidenschaft zur Musik ist er zweimal dem
0112elterlichen Hause entlaufen zum nächsten Stadtmusikus; erst das
0113drittemal wurde er mit Segen, Bettzeug und Uebrigen entlassen.
0114(Ich kann meine Leidenschaft zur Musik nicht so gut beweisen!) [2]
0115Klaus Groth machte Brahms’ persönliche Bekanntschaft 1856 
0116in Düsseldorf; da ärgerte er sich, als Brahms, in einer
0117Gesellschaft ans Clavier gebeten, nur Schubert’sche Tänze
0118spielte. Erst nach seiner Verheiratung gerieth Klaus Groth 
0119tiefer hinein in die Musik, indem er fast jeden Abend mit
0120seiner Frau vierhändig spielte. Da kamen sie auch einmal
0121auf das B-dur-Sextett von Brahms. „Als wir das Werk
0122durchgenommen hatten, sagte ich: So, Kind, ein Mann, der
0123das geschrieben hat, kann nichts Unbedeutendes machen.
0124Von nun an studiren wir Alles von Brahms, was uns
0125sonstweg paßt, so lange bis wir es verstehen.“ Schwer fielen
0126ihm zunächst die größeren Gesänge, beispielsweise die
0127Magelonenlieder. Groth hörte seine Frau oft ein und das-
0128selbe Lied zehn-, zwanzigmal allmälig üben. Sie ließ nicht
0129nach und er nicht, und so allmälig drang es durch, zuletzt
0130bis zum Entzücken. Er erfand dafür den Ausdruck: „Zuerst
0131geht es in die Wildniß, man erkennt nichts; dann merkt
0132man, es ist ein Fußpfad; endlich erstaunt man: es ist ja
0133eine neue große Straße ins ferne Land der Poesie.“ Die
0134Erzählungen des (jetzt 79jährigen) Dichters schließen mit
0135dem Bekenntnisse: „Die Musik bringt mir noch den ein-
0136zigen Sonnenschein, und wenn Brahms etwas von mir
0137componirt, so empfinde ich das immer wie die Verleihung
0138eines Verdienstordens.“


0139Von Brahms’ wiederholtem Aufenthalt in der Schweiz 
0140lesen wir manches Interessante in dem „Neujahrsblatt der
0141Allgemeinen Musikgesellschaft in Zürich“. Musik-
0142director F. Hegar citirt da einige sehr charakteristische Aus-
0143sprüche über moderne Componisten, wie wir sie überein-
0144stimmend auch aus Brahms’ eigenem Munde vernommen
0145haben. Als Bülow sich mit Geringschätzung über
0146Verdi’s Requiem geäußert hatte, ging Brahms zum
0147Musikhändler Hugs, ließ sich den Clavierauszug geben und
0148las ihn durch. Dann sagte er: „Bülow hat sich unsterblich
0149blamirt; so etwas kann nur ein Genie schreiben.“ Als ein
0150Freund mit etwas herablassender Geringschätzung über
0151Mendelssohn sprach, ließ Brahms ihn ruhig ausreden
0152und meinte dann: „Ja, ja, Mendelssohn ist der letzte große
0153Meister gewesen.“ Daß Brahms für Strauß’sche Walzer
0154schwärmte und für Bizet’sCarmen“, ist bekannt.


0155Nach dieser längeren Abschweifung, welche der Leser
0156um des Gegenstandes willen verzeihen wird, kehren wir
0157zurück zu dem Concert der Alice Barbi. Auf das
0158schönste hat die berühmte Künstlerin damit ihre Verehrung
0159für Brahms öffentlich bezeugt — ein Gefühl, das er auf-
0160richtig erwiderte. Er schätzte die Barbi zuhöchst unter den
0161Liedersängerinnen und ließ zu einer Zeit, da er nicht mehr
0162gerne öffentlich auftrat, sich nicht nehmen, sie in einem
0163ihrer letzten Concerte selbst zu accompagniren. Alice Barbi 
0164hat, seit ihre Verheitratung sie von der Oeffentlichkeit fern-
0165gehalten, nichts eingebüßt von dem sympathisch seelenvollen
0166Klang ihrer Stimme, nichts von dem geläuterten Kunst-
0167geschmack und der sich unmittelbar mittheilenden innigen
0168Empfindung. Sie bot uns einen vollen Strauß Brahms-
0169scher Lieder in sinniger Auswahl und Abwechslung. Von
0170dem dunklen Grund schmerzlicher Resignation („Immer leiser
0171wird mein Schlummer“) oder der aufgewühlten Leidenschaft
0172(„Nicht mehr zu dir zu kommen“) hoben sich wie hellfarbige
0173Blumen das schalkhafte „Mädchenlied“, „Therese“, „Vergebliches
0174Ständchen“ und das „Rheinische Volkslied“. Die selige Stille
0175der „Mondnacht“ und der „Feldeinsamkeit“ wich dem beglückten
0176Aufjauchzen „Meine Liebe ist grün!“ Für all diese wechseln-
0177den Stimmungen, heitere wie traurige, besitzt Alice Barbi 
0178die entsprechenden Töne und, man darf hinzusetzen, Mienen.
0179Denn ohne die leiseste dramatische Action spiegelt ihr edles,
0180bewegliches Antlitz die wechselnden Empfindungen jedes
0181Liedes wider. Als die schönsten Beispiele möchte ich das er-
0182schütternde „Immer leiser“ und das naive „Vergebliche
0183Ständchen“ hervorheben — als Beispiele ihrer Kunst, nicht
0184als Vorbilder für Andere. Läßt sich doch das Eigenthümlichste
0185dieses Zaubers nicht von jeder beliebigen Sängerin erlernen
0186oder nachahmen; dazu gehört außer der Intelligenz, Em-
0187pfindung und Technik der Barbi auch ihr Gesicht mit seiner
0188wunderbar mitspielender Beredsamkeit und dem sprechenden
0189schönen Auge. Von dem glänzenden äußeren Erfolg des
0190Concertes haben wir bereits in Kürze berichtet. So hat
0191denn die liebenswürdige und geniale Sängerin das Wiener
0192Publicum heuer ebenso stark, ja noch stärker gefesselt
0193und entzückt, als bei ihrem ersten Erscheinen vor neun
0194Jahren.


0195Gewiß wird das schöne Beispiel der Barbi bald Nach-
0196eiferung wecken und die Errichtung des Monumentes mächtig
0197fördern. Wir denken uns dasselbe am liebsten in den An-
0198lagen vor der Karlskirche, also zunächst dem Hause, welches
0199Brahms durch so viele Jahre bewohnt hat bis an sein Ende.
0200Längst war dieses Vorhaben von den Freunden geplant; die
0201Vorbereitungen jedoch wurden durch die leidigen politischen
0202und materiellen Zustände bis jetzt verzögert. Erst vor
0203Kurzem konnte das Wiener Denkmal-Comité unter dem
0204Vorsitze von Bezecny und Dumba sich constituiren und einen
0205Aufruf erlassen. Zu den Unterschriften wird demnächst
0206noch eine große Zahl von Namen auswärtiger Freunde und
0207Verehrer Brahms’ hinzukommen, deren Zusage und thätige
0208Mitwirkung gesichert erscheint. Der Tod Brahms’ ist als
0209ein unersetzlicher Verlust überall so schmerzlich beklagt worden,
0210daß an dem Gelingen des Werkes nicht zu zweifeln ist. Künstlerisch
0211hat diese allgemeine Theilnahme sich in den zahlreichen
0212großen Brahms-Aufführungen documentirt, mit welchen in
0213diesem Jahreslaufe alle Musikstädte sich beeifert haben.
0214Persönlich stand er den Wienern am nächsten. Mit
0215Recht heißt es in Max Kalbeck’s beredtem Aufrufe:
0216„Nirgends ist der unersetzliche Verlust des edlen Künstlers
0217tiefer empfunden, heißer beweint, nachhaltiger betrauert
0218worden, als in Wien. Johannes Brahms selbst verlieh den
0219Wienern ein eigenes Vorrecht der Trauer. Er hat an der
0220schönen Stadt und ihren freundlichen Bewohnern mit der
0221Zärtlichkeit gehangen, mit der man sonst nur die Vaterstadt
0222liebt, und er ist dieser Zuneigung treu geblieben bis in den
0223Tod. Aber ein Brahms-Denkmal in Wien kann keine auf
0224den Bannkreis der Stadt beschränkte, keine von den Grenzen
0225des Landes umschriebene Angelegenheit bleiben; es muß zur
0226allgemeinen Sache aller dankbaren Musikfreunde gemacht
0227werden!“


0228Diese Worte werden nicht wirkungslos verklingen.
0229Tausende, die Brahms mit seinen Tondichtungen gerührt,
0230beglückt, erhoben hat, werden, nachgezogen von der voran-
0231klingenden Silberstimme Alice Barbi’s, sich zusammenschaaren,
0232um die Gestalt des geliebten Todten in Marmor uns wieder
0233aufleben zu lassen!