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Neue Freie Presse
Morgenblatt
Nr. 12104. Wien, Donnerstag, den 5. Mai 1898

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Italienische Oper.


0002Ed. H. Er sollte durchaus kein Glück haben mit seinem
0003Jubiläum, der arme Donizetti! In den September vorigen
0004Jahres fiel sein hundertster Geburtstag — und zwei der
0005glänzendsten Pflegestätten Donizetti’scher Musik, das Wiener
0006Hofoperntheater und die Mailänder Scala, haben dazu ge-
0007schwiegen bis auf den heutigen Tag; geschwiegen, weil sie
0008sich außer Stande sahen, irgend ein Werk ihres ehemaligen
0009Lieblings-Componisten würdig aufzuführen. Zu dieser merk-
0010würdigen und beschämenden Thatsache gesellte sich noch der
0011scandalöse Verlauf der „Festvorstellung“ in Donizetti’s
0012Geburtsstadt Bergamo: „La Favorita“ wurde vor einem
0013entrüsteten Publicum mit Müh’ und Noth zu Ende gespielt.
0014Also das Denkmal ist da, aber die Sänger fehlen!


0015Jetzt erst vollzieht sich in Wien eine verspätete, aber
0016würdige Donizetti-Feier — nicht von unseren deutschen
0017Sängern in der Hofoper, sondern von einer im Carl-
0018Theater gastirenden italienischen Gesellschaft, mit Marcella 
0019Sembrich an der Spitze. Ihr allein verdankt also Wien 
0020eine pietätvolle Erinnerung an den „k. k. Hof-Compositeur“,
0021dessen Werke hier durch mehr als sechzig Jahre das Publicum
0022entzückt haben. Seine größten Sänger sind dem Maëstro
0023längst nachgefolgt. Seitdem auch Adelina Patti sich zurück-
0024gezogen, herrscht auf diesem Gebiete nur Eine Meisterin
0025allerersten Ranges: Marcella Sembrich. Allem Unglauben
0026zum Trotz hat sie es durchgesetzt, daß die Wiener jetzt wie
0027vor Jahren wieder an den schönsten Mai-Abenden ins
0028Theater strömen, um italienischen Gesang, italienische Opern
0029zu hören. Letztere präsentiren sich allerdings etwas gealtert;
0030mehr denn je bedürfen sie der Hilfe bezaubernder Stimmen
0031und vollendeter Gesangskunst. Führt ein Glücksfall diese
0032herbei, dann erblühen die theilweise abwelkenden Melodien 
0033Rossini’s, Bellini’s, Donizetti’s wieder zu jugendlicher
0034Schönheit. Verdi, der jüngere Nachfahr jener Drei, wirkt,
0035wenigstens in seinen Hauptwerken, unmittelbarer, weil er
0036verschwenderischer mit Zündstoff umgeht und sparsamer mit
0037Coloratur.


0038Donizetti zu Ehren hat die Sembrich ihr Gastspiel mit
0039Lucia di Lammermoor“ eröffnet. Sie brachte hierauf „Don
0040Pasquale“, dem nächstens die „Regimentstochter“ folgen soll.
0041Die Theaterstatistik verzeichnet „Lucia“ als die erfolgreichste
0042und verbreitetste aller Donizetti’schen Opern. In Paris 
0043wurde sie Ende der Dreißiger-Jahre oft an demselben Abend
0044in zwei Theatern gesungen: in der italienischen Oper und
0045(französisch) in der „Renaissance“. Unbestritten und noch
0046unverwelkt sind ihre Schönheiten, Perlen lyrischen Gesangs,
0047zu welchen wir nicht blos das berühmte Sextett, sondern
0048vor Allem auch Edgar’s Sterbescene und manche Melodie
0049der Lucia zählen. Trotzdem habe ich mich für das ganze
0050Werk nie recht erwärmen können, überhaupt nicht für die
0051tragische Muse Donizetti’s. Energischer klingt die „Lucrezia“,
0052geistreicher und seelenvoller der vierte Act (leider nur dieser)
0053der „Favorita“. Allzeit jedoch war mir der heitere Donizetti 
0054lieber als der pathetische; jener ist natürlicher, stylvoller,
0055genialer. Schade, daß Marcella Sembrich zum „Don Pasquale“
0056und der „Regimentstochter“ nicht auch den „Liebestrank“
0057fügt! Mich dünkt er die frischeste, duftigste Blume in dem
0058ganzen Donizettistrauß. Seltsamerweise wird die reizende
0059Partie der Adina heute von unseren berühmtesten Sängerinnen
0060ignorirt, wahrscheinlich als nicht hinreichend effectvoll. Weder
0061die Sembrich noch Adelina Patti haben sie in ihrem Re-
0062pertoire. Als ich Letztere einmal recht eindringlich dafür zu
0063stimmen versuchte, antwortete sie fast unwillig: „Nein! Ich
0064bin keine Buffa!“ Und doch ist der „Liebestrank“ nicht
0065mehr und nicht weniger Buffomusik als „Don Pasquale“
0066oder „Die Regimentstochter“ — nur eine noch schönere.


0067Mit Freuden begrüßen wir jedes Erscheinen der Sem-
0068brich in Wien. In den elf Jahren seit ihrem ersten Wiener
0069Gastspiele (1887) hat sie nicht das Mindeste eingebüßt an
0070dem weichen Silberklang ihrer Stimme, der makellosen 
0071Reinheit, dem Glanz und der Treffsicherheit ihrer
0072Bravour, endlich an der edlen Plastik ihrer Canti-
0073lene. Das ist der Segen einer musikalisch strengen Methode,
0074insbesondere in vollkommener Gymnastik des Athmens.
0075Dem Charakter ihres streng begrenzten Repertoires wie ihrer
0076künstlerischen Individualität entspricht es, daß die eminent
0077musikalische Natur der Sembrich stets ihre Herrschaft bewahrt
0078neben oder über der dramatischen Aufgabe. Damit soll
0079keineswegs gesagt sein, daß sie letztere vernachlässige. Ihre
0080Rollen sind im Gegentheil auch nach der charakteristischen
0081Seite hin auf das sorgsamste ausgearbeitet, doch immer nur
0082so weit, als in den Grenzen des bel canto Raum ist für
0083individualisirenden Ausdruck. Die Sembrich bleibt auch als
0084Darstellerin weder ihrer Lucia und Traviata noch ihrer
0085Rosina und Norina etwas schuldig; oberstes künstlerisches
0086Gesetz ist ihr jedoch das musikalische und in diesem das
0087edle Maß, die Schönheitslinie. Auf neue „Auffassungen“
0088und verblüffende Effecte geht sie nicht aus, es erscheint
0089jede ihrer Rollen in sich harmonisch vollendet. Deshalb fällt
0090es schwer, Einzelheiten hervorzuheben aus ihren Darstellungen.
0091Wir lauschen mit gleichem Entzücken ihrem Gesang in der
0092ernsten wie in der komischen Oper. Welch rührende
0093Lucia, welch bezaubernde Violetta! Vielleicht liegt es an
0094meiner Vorliebe für Rossini’s „Barbier von Sevilla“, daß
0095diese Vorstellung als Ganzes mich am vollständigsten befrie-
0096digte. Hier findet die Sembrich auch die beste Unterstützung
0097in einem Ensemble von echt italienischer Lebendigkeit und
0098Laune. Wie unwiderstehlich komisch ist der Signor Tra-
0099vecchia
als Doctor Bartolo! Und Arimondi mit
0100seinem wie Kanonendonner einschlagenden Baß als Don
0101Basilio! Als Figaro wirkt Signor Magini-Coletti 
0102durch seine wohlausgebildete Stimme und schmucke männ-
0103liche Erscheinung. Der Tenorist Signor Giannini steht
0104hinter den Uebrigen zurück; sein nicht unangenehmes, aber
0105dürftiges Organ und unbeholfenes Spiel konnten ihm keinen
0106Erfolg erringen. Aber wo findet man heute italienische Tenoristen
0107mit hinreißend schöner Stimme und künstlerisch vollendetem
0108Vortrag? Und wenn man sie findet, wer kann sie bezahlen? [2]
0109Als Rosina hat die Sembrich schon im Jahre 1884 in
0110Paris das größte Aufsehen gemacht. Der kürzlich verstorbene
0111treffliche Musikkritiker Oskar Comettant schickte mir
0112damals seinen begeisterten Bericht im Siècle. „Gott sei ge-
0113lobt,“ ruft er aus, „ich bin seit vorigen Samstag um dreißig
0114Jahre jünger! Madame Sembrich sang mir — ich glaube,
0115sie sang für mich allein, so versunken war ich im Anhören
0116— die Rosina, und durch den Zauber der Erinnerung sah
0117ich mich zurückgetragen in die ruhmvollen Tage des Pariser
0118Théâtre Italien, da die größten Namen der neueren italie-
0119nischen Gesangskunst zusammenwirkten. Ah! Madame, ich
0120bin einer der Alterspräsidenten der Musikkritik in Frankreich 
0121— nun wol, ich muß Ihnen aufrichtig gestehen, daß ich in
0122meinem Leben kein größeres Vergnügen, keine wärmere Be-
0123wunderung empfunden habe als am letzten Samstag, da
0124Sie die Rosina sangen!“


0125Als virtuose und anmuthige Gesangsleistung der
0126Sembrich steht ihre Norina (in „Don Pasquale“) kaum
0127zurück hinter ihrer Rosina. Den Gesammteindruck dämpfte
0128mir nur die Empfindung, daß der bedenkliche, katzenfalsche
0129Charakter dieser Norina unserer Künstlerin innerlich fremd
0130sei und von ihr nur mit einer gewissen Anstrengung ver-
0131körpert werde. Diese jugendliche Egoistin nimmt keinen An-
0132stand, unter gleißnerischer Maske sich den Alten förmlich zu
0133erschmeicheln und zu erlügen, blos damit er alle Qualen
0134und Impertinenzen, die sie ihm nach Abschluß des Contractes
0135sofort zufügt, ihr mit einer erklecklichen Summe abkaufe.
0136Das einzige Motiv, das einen mildernden Schein auf diese
0137Gaunerei werfen könnte, ihre Liebe zu Ernesto, ist vom
0138Dichter und Componisten nur sehr schwach accentuirt. Man
0139kann sich einiger Besorgniß nicht erwehren, wie es eines
0140Tages auch dem armen Ernesto ergehen werde unter dem
0141Pantoffel Norina’s. Die Rosina im „Barbier“ steht fast wie
0142eine Heilige daneben — ist doch sie die Gequälte, die aus
0143Nothwehr und nicht ohne Vergnügen einen tyrannischen
0144Vormund hintergeht, der sein vom Leben abgesperrtes Opfer
0145nun auch zu Tode heiraten will. Uebrigens ist auch im
0146Barbier“ die Liebe Rosina’s zu Almaviva nur ange-
0147deutet. Rossini hat dem Figürchen allen erdenklichen Glanz
0148und Esprit, aber keinen Atemzug Gemüth gegeben. — Noch
0149weniger vermag eine Sängerin diesem Unband Norina 
0150Gemüth einhauchen. Die Sembrich suchte die Schärfe dieses
0151Charakters nach Kräften zu mildern. An ihr lag es nicht,
0152sondern an dem Darsteller des Pasquale, Herrn Travecchia,
0153wenn die Herzlosigkeit der Norina noch verletzender wirkte.
0154Zucchini gab seinerzeit den Pasquale nicht wie Herr
0155Travecchia, als einen kranken, gebrochenen Greis, sondern
0156als geputzten, selbstgefälligen alten Gecken, eine komische
0157Figur, über die man nicht aus dem Lachen, somit auch
0158nicht zur Besinnung kam über das mit ihm getriebene häß-
0159liche Spiel. Zucchini zappelte vor vergnügter Erwartung,
0160Travecchia schien sich blos nach einer Krankenwärterin zu
0161sehnen. Er wollte offenbar mehr Mitleid als Heiterkeit
0162erregen. Als er eine Viertelstunde mit dem Kopfe
0163auf den Tisch gelehnt, schluchzte und weinte, da er-
0164zielte er allerdings dieses Mitleid, aber mit der
0165Lustspielstimmung, die auch in dieser Scene nicht ganz
0166untergehen darf, war es vorbei. Auch das Ensemble der
0167Barbier“-Vorstellung ward in „Don Pasquale“ nicht
0168erreicht. Die Herren Magini und Giannini thaten
0169ihr Bestes, es war aber diesmal nicht genug. Wer dachte
0170nicht an den wundervollen Gesang Calzolari’s und Debassini’s
0171als Ernesto und Malatesta! Opern, wie „Don Pasquale“,
0172in denen es nichts zu schauen gibt und wenig vorgeht, sind
0173ganz auf die Stimmen und die Gesangskunst der vier Mit-
0174wirkenden angewiesen. Wo dieser Zauber ganz oder (wie
0175im Carl-Theater) zum größeren Theile fehlt, da pflegt „Don
0176Pasquale“ überall kälter aufgenommen zu werden, als die
0177reizvolle Musik es verdient. Donizetti hat sie 1843 in
0178Einem Zug frischer Inspiration niedergeschrieben; nicht mehr
0179als acht Tage verwendete er daran. Das letzte glänzende
0180Aufflackern des erlöschenden Lichtes.


0181Das Gastspiel der Sembrich verspricht leider nur mehr
0182drei Vorstellungen. Wir haben alle Ursache, uns zu beeilen
0183und auf diese letzten Abende uns ganz besonders zu freuen.