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Neue Freie Presse
Morgenblatt
Nr. 12354. Wien, Freitag, den 13. Januar 1899

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Debora“, Oratorium von Händel.


0002Ed. H. Nachdem wir längst sein zweihundertjähriges
0003Jubiläum gefeiert, thut der alte Herr noch immer Wunder.
0004Und nicht blos mit seinen bekannten Meisterwerken — nein,
0005auch noch mit ganz neuen. Auf die Zeit des regsten Händel-
0006Cultus in Wien (unter Mozart und van Swieten) war be-
0007kanntlich eine lange Periode seiner Vernachlässigung gefolgt. Da
0008sehen wir in den letzten Jahren ihn unversehens wieder auf-
0009tauchen, mit lauter Novitäten! 1873 dirigirt Brahms die
0010erste Aufführung des „Saul“, 1885 bringt Hans Richter 
0011die „Theodora“, 1889 den „Josua“, und heute hören wir
0012unter Perger’s Leitung zum erstenmal Händel’s „Debora“.
0013Sie hatte am längsten geschlummert im Schatten ihrer be-
0014rühmteren Schwestern. Ihre Erweckung ist vornehmlich das
0015Verdienst des unermüdlichen Händel-Forschers und Händel-
0016Agitators Chrysander; mit seiner Neubearbeitung der
0017Debora“ ist zuerst Hamburg, dann Köln, Berlin, Dresden,
0018Leipzig der Wiener Aufführung vorangegangen.


0019Geschichte und Inhalt der „Debora“ sind bald erzählt.
0020Seiner italienischen Opern-Unternehmung in London müde,
0021hatte Händel mit „Esther“ sich dem alttestamentlichen Ora-
0022torium zugewendet und ihr als zweiten Vorschritt auf diesem
0023neuen Gebiet 1732Debora“ folgen lassen. Die Ankündi-
0024gung lautete verlockend genug: „Auf Befehl Sr. Majestät.
0025Im königlichen Theater in Haymarket wird am 17. März
0026gegeben werden: „Debora“, ein neues Oratorium in
0027Englisch, componirt von Herrn Händel, ausgeführt durch
0028eine große Anzahl der besten Stimmen und Instrumente.
0029Dies ist die letzte dramatische Aufführung, welche in dem
0030Theater vor Ostern stattfinden wird. Das Haus wird in
0031einer besonderen Weise ausgeschmückt und beleuchtet sein.“
0032Allein man hatte die Eintrittspreise sehr erhöht, und das
0033Haus blieb leer. Erst elf Jahre später kam das Werk zu einer
0034Wiederholung.


0035Die Heldin des Oratoriums ist Debora, Prophetin
0036und zugleich Richterin in Israel. Wie Renan in seiner
0037Histoire du peuple d’Israël“ uns erklärt, war damals die
0038Stellung der Frauen in den patriarchalischen Tribus keines-
0039wegs, was sie später geworden, als das Haremsleben, von
0040Salomon an, die Sitten gänzlich erniedrigt hatte. Eine an-
0041gebliche Schwester des Moses, Mirjam, behauptete in der
0042Legende vor dem Auszug aus Egypten eine Stellung, deren
0043Wichtigkeit nach dem gegenwärtigen Zustand der Texte kaum
0044in ihrer vollen Bedeutung zu ermessen sei. Es gab unein-
0045geschränkt selbstständige Frauen, welche über ihr Vermögen
0046frei verfügten, ihren Gatten selbst wählten und alle Reservat-
0047rechte einer männlichen Existenz ausübten, darunter auch
0048das Prophetenthum und die Dichtkunst. Die Züge aus dem
0049Leben dieser Heldinnen bildeten einen wesentlichen Bestandtheil
0050des epischen Cyklus der Nation. Die Seherin in Israel 
0051thronte gewöhnlich unter einer Palme, welche die Palme
0052Debora’s hieß, zwischen Rama und Bethel, da hinauf
0053wanderten die Israeliten zu ihr, damit sie ihnen die Ent-
0054scheidungen Gottes kundgebe. Die Prophetin war wie alle
0055Patrioten fanatisch dem Jehovahdienst ergeben und behan-
0056delte als Verbrechen jede religiöse Neuerung, jede Hinneigung
0057des Volkes zu dem Cultus von Kanaan. Debora nahm die
0058Befreiung des Volkes in ihre Hand. Sie schickte im Namen
0059Jehovah’s an Barak, Sohn des Abinoam, den Befehl, mit
0060seinen Anhängern gegen den Tabor zu marschiren. In der
0061Schlacht wurde der feindliche Anführer Sisera vollständig
0062geschlagen. Erschöpft floh er zu Fuß bis zum Eingang einer
0063Hütte, Jaël, ein kenitisches Weib, hieß den Flüchtling ein-
0064treten, verbarg ihn unter ihrer Decke und labte den Er-
0065schöpften mit saurer Milch. Er schlief vor Ermüdung ein.
0066Da ergriff Jaël einen der großen Nägel, welche zur Be-
0067festigung des Zeltes dienen, und trieb ihn mit dem Hammer
0068so gewaltig in die Schläfe Sisera’s, daß das Eisen den Kopf
0069durchdrang und ihn auf dem Boden festnagelte. Bald darauf
0070kam Barak und war höchlich erfreut von diesem Anblick.
0071Aus der empörenden Grausamkeit dieses Vorganges, welchen 
0072der nationale und religiöse Fanatismus des Alten Testa-
0073ments verherrlicht, mag es wenigstens theilweise sich erklären,
0074daß „Debora“ trotz ihrer musikalischen Schönheiten nur
0075selten aufgeführt wurde. Chrysander hat in seiner Bearbei-
0076tung diesen abstoßenden Meuchelmord, an dem weder die
0077Seherin noch der kriegführende Held den geringsten Antheil
0078hat, gänzlich gestrichen. Damit entfällt die ganze Figur der
0079Jaël, welche in jeder Abtheilung des Oratoriums auftritt
0080und mit drei großen Arien bedacht ist. Freilich verlieren wir
0081mit dieser wilden Katze zugleich den einzigen dramatisch auf-
0082regenden Zwischenfall, welcher die sanfte Monotonie der
0083Handlung unterbrach. Denn in dem ganzen Oratorium ge-
0084schieht eigentlich nichts Anderes, als daß die frommen Juden
0085beten: einmal flehend um den gewünschten Sieg, dann dankend
0086für den errungenen.


0087Mit seiner Dichtung hat Händel’s Poet Samuel Humphrey 
0088kein Meisterwerk geliefert. Die handelnden Personen lassen
0089uns gleichgiltig, auch die Hauptfigur Debora entbehrt des
0090lebendigeren Interesses, der bedeutenden Individualität. In-
0091dem die geschickte Verbindung der Chormassen mit den Solo-
0092gesängen zu organischer Einheit fehlt, erreichen selbst manche
0093der Chöre nicht jene Wirkung, die ihrem musikalischen Ge-
0094halte nach von ihnen erwartet werden durfte. Auch die
0095übrigen Oratorien Händel’s (mit Ausnahme der beiden
0096christlichen „Theodora“ und „Messias“) behandeln, wie
0097Debora“, durchwegs alttestamentliche Vorgänge, verweilen also
0098gleichmäßig bei den Klagen der unterjochten und den Dankes-
0099hymnen der geretteten Juden. Allein innerhalb dieses be-
0100grenzten Stoffgebietes ragen doch „Saul“, „Samson“, „Josua“,
0101Judas Makkabäus“ wirksam hervor durch mannigfaltigere
0102Handlung, interessantere Persönlichkeiten, schärfere dramatische
0103Gegensätze. Da treffen wir dann neben der Volksmenge auch
0104geprägte Individualitäten, neben bloßen Vorgängen auch
0105Thaten. In „Debora“ fesseln uns weder die Charaktere, noch
0106bewegt uns ein dramatisches Interesse. Auch rein musikalisch
0107kann „Debora“ trotz einzelner grandioser Chöre sich mit den
0108späteren Oratorien nicht messen. Im Gegensatze zu manchen [2]
0109Künstlern, die mit einem ersten Wurf ihr Bestes geben und
0110dann allmälig abnehmen, ist Händel — ganz abgesehen
0111von seiner italienischen Opernjugend — mit zunehmenden
0112Jahren noch erstaunlich gewachsen in seinen Oratorien. Man
0113denke nur an die zehn und zwanzig Jahre nachDebora“
0114geschaffenen „Messias“, „Josua“, „Jephta“!


0115Jedermann weiß, wie sehr sich Händel in seinen zahl-
0116reichen Oratorien wiederholt. Darf man es dem Kritiker
0117verdenken, wenn er sich gleichfalls wiederholt in allerlei
0118Händel-Berichten? Es bleibt ihm auch in der „Debora“ nicht
0119erspart, zunächst die Kraft der großen Chöre zu rühmen,
0120daneben zu beklagen den starren Ausdruck, die stereotype
0121Form und Ausschmückung der Arien, endlich das äußerst
0122dürftige, fast nur auf Streichinstrumente beschränkte Orchester.
0123An prachtvollen Chören bringt gleich im Anfang die erste
0124Abtheilung den achtstimmigen Hymnus „Du Gott der Macht“
0125und den Aufruf zum Kampf: „Wirf ab die Scheu!“ Noch
0126gewaltiger erhebt sich im zweiten Theil der Doppelchor der
0127eifernden Baalspriester gegen die in frommem Gottvertrauen
0128betenden Israelisten. Auch die dritte Abtheilung des Orato-
0129riums wiederholt diesen Gegensatz: einem jammernden Chor
0130der besiegten Kananiter antwortet das dankerfüllte Israel
0131mit dem großen, kunstvoll aufgebauten Schlußchor: „Zum
0132Himmel auf!“ Was die Solopartien betrifft, so gesteht
0133sogar Chrysander zu, es sei in ihnen das individuell Bedeut-
0134same, dem Chor gegenüber, „nicht völlig entwickelt“. „Kaum
0135angedeutet,“ möchten wir lieber sagen. Von verhältnißmäßig
0136starker, der Situation entsprechender Wirkung ist im ersten
0137Theil der Gesang, mit welchem Debora als Leiterin der ganzen
0138israelitischen Bewegung sich mit dem Chor vereinigt. Weich,
0139gefühlvoll klingt die Baß-Arie Abinoam’s „O, mein Sohn“,
0140über deren ermüdende Ausdehnung uns der lang entbehrte
0141Klang zweier Flöten freundlich hinweghilft. Das Schlußduett
0142Debora’s mit Barak (im Original mit Jaël) wirkt bei ge-
0143ringer Originalität der Melodie, zuletzt durch den Wohlklang
0144der beiden in Terzen- und Sextengängen vereinigten Stimmen.
0145Ein Hinderniß für unser lebendiges Mitfühlen ist übrigens 
0146die musikalische Verkörperung des Helden Barak in einer
0147Altstimme. Hingegen ist nicht einzusehen, warum wir uns,
0148nach Chrysander’s Behauptung, Debora nur als Altistin
0149denken können. Händel selbst und andere classische Meister
0150haben Heldinnen und Prophetinnen genug geschaffen, welche,
0151wie Debora, Sopran singen und an eindringendem Pathos
0152und kräftiger Wirkung es nicht fehlen lassen. Debora selbst
0153bestätigt unsere Ansicht durch ihre Arie „Vor Jehovah’s An-
0154gesicht“, welche übrigens wie noch andere Arien aus älteren
0155Werken Händel’s (der Deutschen Passion und den Krönungs-
0156Anthems) einfach herübergenommen sind. In früheren Zeiten
0157ist diese bequeme Praxis insbesondere von Händel anstandslos
0158und sehr gern geübt worden. Heutzutage würde ein solches
0159Ballspiel mit Musikstücken, die einem bestimmten Kunst-
0160werk entwachsen und verwachsen sind, uns schmerzlich be-
0161rühren.


0162Eine merkwürdige Novität haben wir in dieser an
0163170 Jahre alten „Debora“ kennen gelernt — eine Novität,
0164in der aber nicht Alles oder auch nur Vieles uns neu ge-
0165klungen hat. Unser Nachbar, ein alter Musikfreund, der
0166seit Decennien keine Händel-Aufführung versäumt, behauptete
0167nach der Aufführung, er habe „Debora“ gewiß schon ein-
0168mal in Wien gehört, vielleicht mit etwas verändertem Text.
0169Der Mann war im Irrthum, aber der Irrthum ist ent-
0170schuldbar und bezeichnend. Wer so außerordentlich viel und
0171schnell producirte wie Händel und ein ganzes Oratorium
0172gewöhnlich in drei bis vier Wochen fertig machte, der konnte
0173unmöglich immer Neues und Originelles bringen, noch bei
0174jedem Musikstück den Genius an seiner Seite haben. Auch
0175durch seine alttestamentlichen Texte war Händel an eine
0176starke Gleichförmigkeit des Ausdruckes gebunden. Wer dürfte
0177sich verhehlen, daß dieses Stoffgebiet in der Kunst einem
0178stetig abnehmenden Interesse begegnet? Und damit auch ein
0179namhafter Theil der Händel’schen Musik? Als Händel starb,
0180war Mozart schon drei Jahre alt. Welch neue, von Händel 
0181ungeahnte Welt, in der wir uns noch heute jung fühlen,
0182hat Er uns erschlossen!


0183Die Aufführung des schwierigen und anstrengenden
0184Werkes verdient gerechte Anerkennung. Director R. v. Perger,
0185der uns im Vorjahre mit mehreren neuen vom Auslande
0186her berühmten Oratorien bekannt gemacht hat (Tinel’s
0187Franciscus“, Massenet’s „Eva“, Dvořak’s „Ludmilla“,
0188C. Franck’s „Seligkeiten“), erfüllte mit „Debora“ wieder
0189seine Pflichten gegen die classische Vergangenheit. In
0190dem Kranze Händel’scher Oratorien dürfte uns heute nur
0191noch „Joseph“ fehlen. „Debora“ war von Perger sorg-
0192fältig studirt und von allen Mitwirkenden liebevoll aus-
0193geführt. Fräulein Katzmayr, welche im vorigen Jahre
0194durch ihr rasches Einspringen die Aufführung der „Jahres-
0195zeiten“ ermöglicht hatte, bewies auch in der Hauptrolle des
0196Oratoriums größte musikalische Sicherheit und eindringendes
0197Verständniß. Die Partie des Barak verschaffte uns die
0198werthvolle Bekanntschaft einer jungen Altistin, Fräulein
0199Osborne aus Leipzig. Ihre wohlklingende, trefflich
0200geschulte Stimme, deutliche Aussprache und musikalische Em-
0201pfindung machten den günstigsten Eindruck auf das Publi-
0202cum. Herr Felix Kraus, ein Wiener, der sich in jüngster
0203Zeit zu einem der beliebtesten Oratorien-Sänger in Deutsch-
0204land aufgeschwungen hat, sang die Baßpartie (Abinoam)
0205mit rühmlichem Erfolge. Er mußte im dritten Theil seine
0206Arie wiederholen, ein seltenes Ereigniß in einem Oratorium.
0207Als Feldherrn Sisera hörten wir Herrn Pacal, dessen
0208jugendlich frischer Tenor uns immer erquickt; als Boten 
0209Herrn Rosalewicz, einen vielversprechenden Opernschüler
0210des Conservatoriums. Für die Wiener Aufführung waren nebst
0211der Jaël nicht weniger als „drei Israelitinnen“ gestrichen
0212worden. (Goldene Salvator-Medaille?) Die Clavierbegleitung
0213lag in den bewährten Händen des Herrn Prohaska; daß sie
0214das ganze Werk hindurch ununterbrochen mitwirkt, scheint mir ein
0215Fehlgriff: vortrefflich als Accompagnement der Recitative,
0216ist sie im Fortissimo von Chor und Orchester unhörbar,
0217also überflüssig. Die Aufführung war gut besucht, der Bei-
0218fall überaus lebhaft.