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Neue Freie Presse
Morgenblatt
Nr. 12372. Wien, Dienstag, den 31. Januar 1899

[1]

Musik.

Sechstes Philharmonisches Concert. — „Ihre Excellenz“, Operette von R. Heuberger.)


0003Ed. H. Festklänge haben das letzte Philharmonie-Concert
0004eingeläutet. Es waren nur die von Liszt. Unter seinen
0005symphonischen Dichtungen gehören die „Festklänge“ zu den
0006am seltensten gespielten. In Wien, wo der Liszt-Cultus doch
0007so eifrig genährt wurde, blieben die „Festklänge“ bis zur
0008Stunde ausgeschlossen von den Philharmonischen wie von
0009den Gesellschaftsconcerten. Nur in einem von dem Clavier-
0010virtuosen Tausig auf eigene starke Faust veranstalteten
0011Liszt-Concert sind vor etwa 40 Jahren auch die Festklänge 
0012aufmarschirt. Seitdem nicht wieder. Wem die übrigen dieser
0013symphonischen neun Musen bekannt sind, dem wird man
0014über die Festklänge kaum viel Neues sagen. Sie theilen mit ihren
0015Schwestern manchen Vorzug: Liszt’s feinen Sinn für
0016Klangeffecte, die pikante Würze rhythmischer und harmo-
0017nischer Combinationen, den ungestümen Drang einer nach
0018Neuem ringenden Subjectivität. Leider fehlt die eigentliche
0019schöpferische Kraft und das edle Gleichmaß der Ausführung.
0020Wie ruhelos wechseln in diesem Mischmasch von sentimen-
0021talen und heroischen Anfällen Tact, Tonart, Tempo, Cha-
0022rakter! Eine vereinzelte Melodie steckt hin und wieder furcht-
0023sam ihr Köpfchen heraus, um sofort in wüstem Gedränge
0024unterzugehen; jeder zarten Regung tritt eine dreiste Fanfare,
0025jeder reinen Harmonie ein schneidender Mißklang auf den
0026Nacken. Es war Liszt’s gutes Recht, gegen seine classischen
0027Vorgänger es mit größerer Abwechslung und schärferen
0028Gegensätzen zu versuchen. Aber dieser Carneval von Mannig-
0029faltigkeiten kennt keine Einheit, dieser Faustkampf von Con-
0030trasten keine Versöhnung. Anstatt erfreut und erhoben, fühlt
0031sich der Hörer betäubt und verstimmt. Einen Vorzug haben
0032übrigens die „Festklänge“ vor Liszt’s anderen symphonischen
0033Dichtungen: den, daß sie keine Geschichte erzählen. Man
0034muß nicht immerfort mit ansehen und nachlesen, wie das „Pro-
0035gramm“ den geängstigten Tondichter von Tact zu Tact verfolgt.
0036In jenem verschollenen Tausig-Concert mußte ein von einem
0037Wiener Schriftsteller eigens verfaßtes Programm das Publi-
0038cum einweihen in die poetischen Geheimnisse der Festklänge.
0039„Ein großes allgemeines Fest,“ hieß es da, „ruft eine be-
0040wegte Menge, die Freude auf der Stirn, den Himmel in
0041der Brust, in seine Zauberkreise.“ Wie diese Freude, dieser
0042Himmel sich doch in Liszt’schen Accorden ausnimmt! Und
0043die dort versprochenen „olympischen Spiele der Griechen“, er-
0044innern sie nicht an die blutigen Ergötzlichkeiten einer unga-
0045rischen Landtagswahl? Natürlich ergehen sich die Festklänge,
0046wie fast alle Liszt’schen Orchesterstücke, sehr üppig in „tür-
0047kischer Musik“. Die große Menge hört das immer gern,
0048und so läßt sie sich vielleicht auch einreden, dieselbe große
0049Trommel sei bei Verdi roher Effect, bei Liszt Ausdruck
0050sublimster Begeisterung. Brendel, der Leipziger Zu-
0051kunftsagent, schrieb damals den monumentalen Satz:
0052Liszt’s Werke sind das Ideal unserer Zeit.“
0053Diese Zeit scheint sehr rasch zu fliegen. Trotz der Betrieb-
0054samkeit eigener stabiler Liszt-Vereine werden die Aufführungen
0055von Liszt’s Orchester- und Chorwerken zusehends seltener.
0056Liszt’s geniale, hinreißende Persönlichkeit, die auch den Wider-
0057strebenden gefangen nahm, sie gehörte zu seiner Musik,
0058ebnete ihre Erfolge, vergoldete ihre Wirkung. Nur wenige
0059der einst von Liszt’s Umgang Bezauberten sind noch am
0060Leben. Und wenn auch die einmal fort sind?... Die „Fest-
0061klänge“ wurden unter Mahler’s Leitung glänzend ausgeführt
0062und beifällig aufgenommen. Einen gewissen sinnlich berau-
0063schenden Eindruck machen sie ohne Frage und um so sicherer,
0064als sie gegen Prometheus, Mazeppa, Dante, Hamlet,
0065Hunnenschlacht, Heldenklage und wie die anderen sympho-
0066nischen Unglücksfälle alle heißen, in eine freundlichere Region
0067einlenken und gleich mit dem Hauptthema einen volksthüm-
0068lichen Ton anschlagen.


0069Nach den Festklängen sprangen wir rasch anderthalb-
0070hundert Jahre zurück, von Liszt zu Rameau. Der einst viel
0071geschmähte und viel gefeierte Mann erscheint nunmehr äußerst
0072selten in den Concertsälen und längst nicht mehr in der
0073Oper. Aus seiner fünfactigen großen Oper „Dardanus“
0074(1739) haben uns die Philharmoniker ein Balletstückchen
0075gespielt, den Rigaudon. So hieß eine ältere provencalische
0076Tanzform im munteren Allabreve-Tact, deren Namen Rousseau 
0077von ihrem Erfinder Rigaud abzuleiten versucht. Eine charakte-
0078ristische, altmodisch graziöse Musik. Sie gefiel dem Publicum
0079und erweckte die interessantesten Erinnerungen an einen ver-
0080schollenen Operngeschmack. In den Opern Rameau’s, noch mehr in
0081jenen seines Vorgängers Lully, spielte das Ballet eine uns 
0082heute unbegreiflich wichtige große Rolle. Die tragischesten
0083Opern aus der antiken Heldenzeit enthalten fast ebensoviel
0084Gavotten, Menuets, Passepieds u. s. w. wie Gesangsstücke.
0085In Rameau’s berühmtester Tragédie en musique: „Castor
0086und Pollux“ bringt jeder der fünf Acte ein großes Ballet;
0087noch im letzten, nach dem Tode der Helden, tanzen die
0088seligen Geister im Elysium, daß es ein Vergnügen ist. Ein
0089Nachklang dieser Sitte herrscht heute noch in Paris. Jede
0090große Oper muß vorschriftsmäßig ein Ballet enthalten
0091oder deren zwei, meistens im zweiten und im vierten
0092Act. Man denke an das Widerstreben Richard Wagner’s 
0093der in seinen „Tannhäuser“ ein Ballet einlegen mußte,
0094wollte er nicht auf die Aufführung in Paris verzichten. Und
0095wie hat Gounod gewettert gegen dieselbe Zumuthung, als
0096sein „Faust“ vom Théâtre Lyrique an die große Oper kam.
0097So sehr ihn dieses Avancement freute, so arg verdroß ihn die
0098Nöthigung, den fünften Art nachträglich mit einem sinnlosen
0099großen Ballet aufzuputzen. An den Traditionen ihres Theaters
0100halten die Franzosen mit unglaublicher Hartnäckigkeit fest.
0101In der Opéra Comique darf kein Ballet vorkommen und
0102paßte es noch so gut; in der Großen Oper muß es vor-
0103kommen und paßte es noch so schlecht. Jean Philipp Rameau 
0104war der musikalische Genius Frankreichs im Zeitalter Voltaire’s.
0105Uns ist er längst ein todter Name, genau so todt wie sein
0106berühmterer Vorläufer Lully. Für den Musikhistoriker bleibt
0107Rameau eine der interessantesten Erscheinungen zunächst als Be-
0108gründer einer neuen Harmonielehre.*) Sodann durch seinen
0113unbestreitbar starken Einfluß auf Gluck in der Behandlung
0114des Recitativs und der Chöre. Uns Kindern des 19. Jahr-
0115hunderts beginnt aber die Oper erst mit Gluck, und selbst
0116diesem gönnen wir nur äußerst selten mehr das Wort. Man
0117hat für ihn großen Respect, aber weder Liebe noch Ver-
0118langen. Für Rameau nicht einmal Neugierde. Danken wir
0119dem Director Mahler, daß er uns den merkwürdigen Mann,
0120gleichsam auf Umwegen, versteckt, wieder in Erinnerung
0121brachte — mit einem Tanzstück, dessen graziöser Schritt gar
0122keiner historischen Vorbildung bedarf, um aufrichtig zu gefallen.
0123Es ist von einer fast kindlichen Einfachheit. Und doch cursirte [2]
0124damals in Paris gegen die Schwerfälligkeit und Verkünstelung
0125von Rameau’s Musik das Pamphlet: „Si le difficile est le
0126Beau — C’est un grand homme que Rameau!“


0127Wir genossen im Philharmonischen Concert drei Novi-
0128täten: eine längstvergangene (Rameau) und zwei halb-
0129vergangene (Liszt und Götz). Nur für Wien war die F-dur-
0130Symphonie von Hermann Götz eine Neuigkeit. Der
0131vor 23 Jahren im besten Mannesalter verstorbene Ton-
0132dichter ist in Wien erst durch seine „Bezähmte Widerspenstige“
0133bekannt und beliebt worden. Das vortreffliche Opernbuch
0134Victor Widmann’s hat er da mit einer feinen geistreichen,
0135häufig an Wagner erinnernden Musik illustrirt, welche nur
0136einen leichteren Lustspielton vermissen ließ. Man könnte ihre lb facs="#facs_2_region_1684563456306_324_tl_13" n="N014"/>Wiederaufnahme empfehlen, wenn wir nur für die Haupt-
0137rolle eine zweite Pauline Lucca hätten. („Das gibt’s nit“,
0138sagt der Wiener.) Der durchgreifende Erfolg einer Oper
0139pflegt allmälig die früheren kleineren Werke ihres Com-
0140ponisten ans Licht zu ziehen; so geschah es auch nach der
0141Aufführung der „Widerspenstigen“. Eine „Frühlings-Ouver-
0142türe“ von Götz, deren mäßige Wärme an einen Mai in
0143Königsberg, den Geburtsort des Componisten, erinnert, also
0144Niemandem warm macht, erwarb sich nur das zweifelhafte
0145Lob einer tüchtigen Capellmeister-Arbeit. Bedeutender wirkten
0146von Götz zwei größere Compositionen für Chor und
0147Orchester: Schiller’s „Nänie“ und der 137. Psalm. In
0148beide, an Mendelssohn anklingende Chorwerke brachte die
0149gediegene Bildung und feinfühlige Natur des Tondichters
0150eine gewisse Vornehmheit, ohne das Werk selbstständiger,
0151triebkräftiger Ideen. Frischer und einheitlicher wirkt die
0152F-dur-Symphonie von Götz, welche seit zwanzig Jahren ein
0153beliebtes Repertoirestück der meisten deutschen Concertvereine,
0154erst jetzt durch Director Mahler uns bekannt geworden ist.
0155Wie allenthalben, so galt auch hier der Beifall hauptsächlich
0156dem volksthümlich anklingenden, lebhaften Scherzo in C-dur.
0157Die übrigen drei Sätze sind mehr oder minder temperament-
0158los und langwierig, schienen auch geringeren Eindruck zu
0159machen. Für mein Theil vermag ich darin auch nur die geschickte
0160Arbeit eines feingebildeten, tüchtigen Capellmeisters zu erblicken,
0161der über wenig Originalität und Ideenfülle verfügt. Die
0162Philharmonischen Programme haben sich unter Mahler 
0163bisher durch große, allen Zeiten und Schulen gerechte
0164Mannigfaltigkeit ausgezeichnet. Trotzdem würde es sich viel -
0165leicht empfehlen, die Alleinherrschaft des Orchesters in ein-
0166zelnen Fällen auch durch Gesangstücke, Clavier- und Violin-
0167concerte zu durchbrechen; rechnen doch die größten Virtuosen
0168und Gesangskünstler sich zur Ehre, in diesen Concerten mit-
0169zuwirken. Mit dieser Genugthuung bedeutender Künstler ginge
0170Hand in Hand das Vergnügen der Zuhörer.


0171Uebergehen wir ausnahmsweise von der ernsten zur
0172heiteren Kunst, so haben wir heute auf dem Gebiete der
0173Wiener Operette einen neuesten kräftigen Erfolg zu ver-
0174zeichnen, den von Heuberger’sIhre Excellenz“.
0175Vortrefflich aufgeführt und glänzend ausgestattet, hat das
0176Stück im Theater an der Wien außerordentlich gefallen. Es
0177dürfte bald alle Bühnen erobern, selbst wenn die Darm-
0178städter Geistlichkeit vergessen sollte, ihm durch eine Beschwerde
0179über Unsittlichkeit dieselbe wirksame Reclame zu schaffen,
0180wie jüngst dem „Opernball“. Eigens für Mädchen-Pensionate
0181sind beide Operetten nicht ausdrücklich bestimmt. Auch dies-
0182mal hat Heuberger seinen Stoff einem französischen Lustspiel
0183entnommen, der bekannten „Niniche“ von Hennequin und
0184Millaud. Ein charakteristisches Beispiel für die unvergleich-
0185liche Virtuosität der Franzosen, aus dem winzigsten Motiv
0186eine Kette von Mißverständnissen und Ueberraschungen zu
0187schmieden, welche bis zum letzten Augenblick nicht ab-
0188reißt und den Zuschauer in fortwährender Spannung
0189und bester Laune erhält. Zu bedauern, für den
0190Musiker zu bedauern, ist nur, daß in dieses athemversetzende
0191Intriguenspiel nicht der schwächste Sonnenstrahl von Gemüth
0192und Empfindung fällt, wie es doch hie und da im „Opernball“
0193geschieht. Richard Heuberger hat zu dem amüsanten Text
0194eine sehr ansprechende Musik geschrieben, weder classisch noch
0195secessionistisch, nicht immer gleich originell, aber stets frisch
0196und melodiös, dabei sorgfältiger gearbeitet und feiner in-
0197strumentirt, als man es heute in diesem Genre gewohnt ist.
0198Einige Kürzungen im ersten und zweiten Act würden die
0199Wirkung des Ganzen noch erhöhen — darf man doch nicht
0200vergessen, daß die musikalische Form zu ihrer bescheidensten
0201Entfaltung Zeit braucht, dreimal so viel Zeit als dieselbe
0202Scene im gesprochenen Dialog. Heuberger und alle
0203Mitwirkenden (unter welchen Herr Capellmeister Müller 
0204ein besonderes Lob verdient) dürfen sich des aufrichtigen
0205schmeichelhaften Beifalls freuen, welcher „Ihrer Excellenz“
0206zu Theil ward.

Fußnoten
  • *)Seine berühmte Abhandlung „De l’harmonie réduite à son
    principes naturels“ veröffentlichte Rameau 1728, in demselben Jahre,
    in welchem J. Seb. Bach den ersten Theil seines Wohltemperirten
    Claviers schrieb.