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Neue Freie Presse
Morgenblatt
Nr. 12479. Wien, Sonntag, den 21. Mai 1899

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Jacques Fromental Halévy.


0002Ed. H. Nicht immer schützt Chauvinismus vor Ver-
0003geßlichkeit. Vor längerer Zeit erinnerte der Senior der
0004Pariser Musikkritik, Arthur Pougin, daran, daß auf den
000527. Mai d. J. der 100. Geburtstag des Tondichters Halévy 
0006fällt. Mit anklagendem Bedauern fügte er hinzu, daß weder
0007die Große Oper noch die Komische irgend welche Vor-
0008bereitungen für diese Gedenkfeier treffe. Und doch haben
0009Halévy’s Opern zu dem Ruhm und dem Wohlstand dieser
0010beiden Theater sehr wesentlich beigetragen! Außer der
0011Jüdin“, welche über 550 Wiederholungen erlebt hat,
0012empfing die Große Oper von Halévy „Die Königin von
0013Cypern“, „Guido und Ginevra“, „Karl VI.“ und andere
0014erfolgreiche Werke. Die Opéra Comique besitzt nicht weniger
0015als 18 Opern von Halévy, worunter viele beifälligst auf-
0016genommene und oft wiederholte, wie „Der Blitz“, „Die Mus-
0017ketiere der Königin“, „Das Thal von Andorra“, „Die Rosen-
0018fee“. Aber seit mehreren Jahren hat keines dieser beiden
0019Operninstitute auch nur ein einziges Werk Halévy’s gegeben —
0020eine Vergeßlichkeit, die hart an Undank streift. Selbst „Die
0021Jüdin“, welche in Deutschland und Italien jahraus jahrein
0022ein dankbares Publicum erfreut, fehlt auf dem Repertoire
0023der Pariser Großen Oper seit dem Brande des alten Opern-
0024hauses. „Diese nur zu berühmte Feuersbrunst,“ sagt Pougin,
0025„ist ein bequemer Vorwand geworden, um gewisse Opern
0026beiseite zu schieben, welche den Wagner’schen etwa schaden
0027könnten.“ Die Centenar-Feier Halévy’s bot seither den
0028schönsten Anlaß, die verbrannten Decorationen zur „Jüdin“
0029wiederherstellen zu lassen. Desgleichen wäre es Pflicht der
0030Opéra Comique gewesen, eine sorgfältige Aufführung des
0031Blitz“ oder der „Musketiere der Königin“ vorzubereiten.
0032Nichts von alledem. An einer einzigen Stelle hat sich der
0033Gedanke geregt, in bescheidener Weise den 100. Geburts-
0034tag eines Künstlers zu feiern, der zu dem musikalischen
0035Ruhm Frankreichs hervorragend beigetragen und dessen
0036Werke allein sich neben den Meyerbeer’schen in der Große
0037Oper erhalten haben. Es ist die „Gesellschaft der Ton-
0038dichter“ in Paris, welche das Andenken Halévy’s in einer
0039Abendsitzung feiern wird mit der Aufführung einiger Ge-
0040sangsstücke von ihm und einem Vortrage über sein Leben
0041und Wirken.


0042Halévy war am 27. Mai 1799 in Paris geboren. Sein
0043Vater, ein Deutscher aus Fürth bei Nürnberg, stand als
0044hebräischer Dichter und Gelehrter in hohem Ansehen und
0045genoß insbesondere die wärmste Freundschaft und Werth-
0046schätzung des berühmten Orientalisten Sylvestre de Sacy.
0047Sein wahrer Name war Lévy. Infolge des Gesetzes vom
0048Jahre 1807 über die Familiennamen der Juden setzte er
0049die den Artikel ersetzende Sylbe hal (das arabische al) vor
0050seinen bisher geführten Namen. Das musikalische Talent des
0051Sohnes verrieth sich frühzeitig. Er kam 1809 an das Con-
0052servatorium, wurde Schüler Cherubini’s und Méhul’s in der
0053Composition und erhielt 1819 den grand prix de Rome.
0054Dem Gesetz, richtiger dem alten Zopf gemäß, begab er sich
0055für 3 Jahre nach der Ewigen Stadt. Er litt unter diesem,
0056für musikalische Ausbildung so unergiebigen Aufenthalt nicht
0057weniger, als seine Nachfolger Berlioz, Thomas, Gounod und
0058arbeitete dort ebensowenig wie diese. Auf der Rückreise ver-
0059weilte Halévy mehrere Monate des Jahres 1822 in Wien,
0060wo er ernstere Studien betrieb, auch eine vierhändige Sonate,
0061ein Rondo und Capriccio bei Diabelli veröffentlichte. Nach
0062Mittheilungen seines Bruders Léon hat er hier Beethoven 
0063kennen gelernt, den er öfter besuchte und dem er lebens-
0064lang eine liebevolle, bewundernde Erinnerung bewahrt hat.
0065(In keiner Beethoven-Biographie findet sich eine Erwähnung
0066Halévy’s, welcher damals freilich ein noch unbekannter junger
0067Mann war.) In Paris übernahm er eine Classe im Con-
0068servatorium, gab Unterrichtsstunden und bemühte sich, wie
0069alle die unglücklichen Laureaten von Rom, um Operntexte.
0070Endlich glückten ihm einige kleinere komische Opern, die mit
0071mehr oder weniger Erfolg aufgeführt wurden, ohne über die
0072Grenzen Frankreichs zu dringen. Dies ist ihm erst 1855 
0073mit der „Jüdin“ gelungen, welche bald alle europäischen
0074Bühnen erobert und Halévy’s Ruhm begründet hat. Noch am
0075Schlusse desselben Jahres brachte Halévy seine komische Oper
0076Der Blitz“ auf die Scene. Ungeachtet großer Schön-
0077heiten haben seine späteren Opern einen so ungetheilten, an-
0078haltenden Erfolg wie „Die Jüdin“ und „Der Blitz“,
0079namentlich in Deutschland, nicht errungen. Nach London 
0080berufen, brachte Halévy dort 1850 die Oper „La tempesta“
0081zur Aufführung. Er hatte damit ebensowenig Glück, wie
0082später Ambroise Thomas, dessen letztem Werke gleichfalls
0083Shakespeare’s „Sturm“ zu Grunde liegt. Mit „La
0084Magicienne
“, welche an der Großen Oper
0085viele Aufführungen erlebt hat, beschloß Halévy 
00861858 seine Laufbahn als dramatischer Componist.
0087Halévy, der fast sein ganzes arbeitsvolles Leben ununter-
0088brochen in Paris zugebracht hat, mußte schließlich schwer
0089leidend sich nach Nizza begeben. Dort ist er am 17. März
00901862 gestorben. Eine von ihm unvollendet hinterlassene Oper
0091Noah“ bezeichnet ein seltsames Ereigniß in der Theater-
0092geschichte. Sie hat nämlich ihre erste Aufführung nicht in
0093Frankreich, sondern in Deutschland erlebt, und zwar am
0094Karlsruher Hoftheater 1885. Halévy hatte die Partitur
0095seiner großen Oper „Noah, oder: Die Sündfluth“ im Jahre
00961858 unvollendet hinterlassen. Da erwies sein Schwieger-
0097sohn George Bizet ihm für den „Noah“ denselben Liebes-
0098dienst, den einst Halévy als junger Mann dem Componisten
0099Herold geleistet hatte, indem er dessen unvollendete Oper [2]
0100Ludovic“ in sehr geschickter Weise vervollständigte. Nun ist
0101auch Bizet seit zwanzig Jahren todt, und noch immer harrt
0102die Oper „Noah“ in Paris ihrer Auferstehung. Im Jahre
01031870 war dort eine Aufführung des „Noah“ geplant, jedoch
0104angeblich durch den Ausbruch des Krieges vereitelt. Da griff
0105der so lebhaft für französische Musik eingenommene Felix
0106Mottl beherzt zu und brachte den von Putlitz ins Deutsche
0107übertragenen „Noah“ in Karlsruhe zur allerersten Auf-
0108führung. Das Werk vermochte übrigens den an die Namen
0109Halévy und Bizet geknüpften Erwartungen nicht zu
0110entsprechen und hat von Karlsruhe aus keine weiteren Kreise
0111gezogen.


0112Von Halévy’s Opern haben sich auf der deutschen Bühne
0113bis heute zwei erhalten: „Die Jüdin“ und „Der Blitz“.
0114Die Jüdin“ wird stets als sein Meisterwerk gelten; als
0115dasjenige, welches die Individualität des Tondichters am
0116prägnantesten offenbart, die Mängel und Härten seines
0117Talents am reichsten mit Blüthen bedeckt. Scribe’s Libretto
0118weist „Die Jüdin“ unter jene echt französischen Schreckens-
0119dramen der Dreißiger-Jahre, welche den Rückschlag der
0120romantischen Schule auf die Opernmusik augenfällig dar-
0121thun; ein grelles Bild religiösen Hasses und Fanatismus.
0122Aus diesem dunklen Grunde erblühen aber Situationen von
0123zartester Empfindung und herzenswarme Melodien, wie sie
0124Halévy nur selten so überzeugend gesungen hat. Ich brauche
0125hier nicht ausdrücklich an Recha’s seelenvolle Romanze
0126„Il reviendra“, an Eleazar’s rührende Arie im vierten Act, an
0127das Gebet und die Brotweihung im dritten Act zu erinnern.
0128Das nationale jüdische Element in Halévy, das (wie bei
0129Meyerbeer) auch manches Bizarre, raffinirt Berechnete er-
0130klären hilft, gedieh gerade diesem Werk zu eigenartigem
0131Vortheil. Vor Allem die weihevolle Scene der Osterfeier
0132trägt ein so echtes Gepräge, daß wir uns in das Haus
0133eines der alten biblischen Patriarchen versetzt glauben. Die
0134beiden Hauptgestalten Eleazar und Recha werden stets die
0135Seele des Empfangenden im Innersten aufregen und haben
0136bis heute den bedeutendsten Darstellern lohnende Aufgaben
0137geliefert. Der seltsame Einfall, den Eleazar, eine pathetische
0138Väterrolle, dem Tenor zuzutheilen, entstammt einer ganz
0139persönlichen Beziehung. Halévy hatte die Rolle ursprünglich
0140für den Bassisten Levasseur gedacht. Der Tenorist
0141Nourrit, der Recha’s Liebhaber singen sollte, bewog 
0142jedoch den Componisten zu dem Wagstück, die Rolle des
0143Juden für ihn zu schreiben. Dieser geistvolle dramatische
0144Sänger war es überdrüssig geworden, lauter sentimentale,
0145zärtlich girrende Liebhaber zu singen. Dies ist auch
0146manchem der besten deutschen Tenoristen widerfahren;
0147Tichatschek, Niemann, Wachtel, Sontheim 
0148und Andere zählten den Eleazar zu ihren Glanzrollen. Auf
0149den Rath Nourrit’s schloß auch Halévy den vierten Act mit
0150der Arie Eleazar’s, während früher ein großes Chorfinale
0151beabsichtigt war. Bekanntlich ist es auch Nourrit’s 
0152Verdienst, daß Meyerbeer, welcher den vierten Act der
0153Hugenotten“ mit der Waffenweihe schließen wollte, das große
0154Liebesduett hinzucomponirt hat, die Perle der ganzen Oper.
0155Nourrit’s geistiger Einfluß war sehr groß; die namhaftesten
0156Componisten suchten und befolgten gern seinen Rath, der
0157fast immer richtig war, freilich auch immer darauf bedacht,
0158die volle Strömung des Effects auf seine eigene Mühle zu
0159leiten.


0160Von den hervorragenden Werken, welche Halévy für
0161die Pariser Große Oper geschrieben, sind in Wien außer der
0162Jüdin“ nur noch zwei zur Aufführung gelangt: „Guido
0163und Ginevra
, oder: Die Pest in Florenz“ (1844) und
01641852 die „Königin von Cypern“. Keine von beiden
0165hat die künstlerische Bedeutung, noch auch den äußeren Er-
0166folg der „Jüdin“ erreicht. Sie gehören beide zu jenen zahl-
0167reichen fünfactigen Opern, welche das Historische, also eine
0168nothwendige Kunstrichtung der Zeit, als Modesache behandeln
0169und für äußerlichen Prunk ausbeuten. Als dramatische Unter-
0170lage für all die blendenden Aufzüge, Märsche, Ballette und
0171decorativen Ueberraschungen werden möglichst gewalt-
0172thätige Leidenschaften und aufregende Situationen gehäuft.
0173So in „Guido und Ginevra“ das Wüthen der Pest, Schein-
0174tod, Leichenraub und alles dahin Gehörige. Eine einzige ge-
0175müthvolle, melodiös reizende Nummer ist mir daraus er-
0176innerlich: die Des-dur-Romanze Guido’s im ersten Act.
0177Es fehlt dieser Oper, auf welche Halévy besondere Mühe
0178verwendet hatte, auch sonst nicht an effectvollen Musikstücken;
0179daß sie trotzdem auf allen Bühnen nur ein kurzes Leben
0180fristete, erklärt sich großentheils aus der uns abstoßenden,
0181mehr trostlos traurigen als tragischen Handlung. Noch
0182äußerlicher, musikalisch unerquicklicher berührt uns „Die
0183Königin von Cypern
“. In Wien ist sie erst 
0184zwanzig Jahre nach ihrer Pariser Première (mit Frau
0185Czillagh in der Titelrolle) erschienen. Um das Libretto war an-
0186fangs heftig polemisirt und processirt worden; der Dichter Saint-
0187Georges hatte es als „Catarina Cornaro“ für Franz Lachner 
0188geschrieben, trotzdem aber an Halévy verkauft. Dadurch war
0189die allgemeine Aufmerksamkeit erregt, aber das Textbuch
0190nicht besser geworden. Niemals habe ich eine Oper mit
0191solchem Luxus und so malerischer Pracht aufführen gesehen,
0192wie diese „Reine de Chypre“ im Pariser Neuen Opern-
0193haus; aber alle Sammtgewänder und vergoldeten Rüstungen
0194vermochten die traurige Blöße dieser Musik nicht zu ver-
0195decken. Halévy’s Absichtlichkeit ist darin so vorschlagend, daß
0196es ihm fast unmöglich wird, einen breiten einfachen
0197Chor zu schreiben. In dem großen Ensemble erscheint
0198Alles verzwickt, zu einer Originalität gequält, die
0199durch keine Mühewaltung erreicht wird. Dazwischen
0200begegnen wir wieder einzelnen ruhiger hinfließenden
0201Gesangsstücken (wie das erste Duett Gérard’s mit Catarina),
0202welche durch ihre Weichheit und Herzlichkeit überraschen. Sie
0203weisen darauf hin, daß Halévy’s ursprüngliche Natur ihn
0204eigentlich mehr für das Lyrische als für gewaltsame Dramatik,
0205mehr für den Einzelgesang als für Massenwirkungen eignete.
0206Wir finden dies fast überall bestätigt, wo sein Text einen
0207ebenen Schritt geht, was freilich bei diesen großen, aufge-
0208regten Stoffen selten der Fall ist. Am meisten spricht für
0209unsere Ansicht Halévy’s einfachste und gemüthvollste Oper
0210Der Blitz“. Im Hofoperntheater ist sie 1849 nach
0211wenigen Vorstellungen verschwunden und wurde erst
021232 Jahre später, unter Director Jahn aufs sorg-
0213fältigste neu studirt, wieder aufgenommen. Auch da hat sie
0214jedoch nicht den Beifall gefunden, der ihr anderwärts so
0215treu geblieben. Das lag nicht sowol an dem Werke selbst als
0216an zwei wichtigen Bedingungen der Aufführung. „Der Blitz“
0217braucht ein kleines intimes Theater und sehr gewandte,
0218temperamentvolle Darsteller. Eine Conversations-Oper, die nur
0219für zwei Soprane und zwei Tenore geschrieben ist, ohne Baß-
0220stimme, ohne Chor. Es ist wörtlich kaum zu nehmen, daß
0221Halévy, dieser peinlich ernsthafte Künstler, sich, wie man
0222erzählt, durch eine Wette zu solchem Wagestück habe
0223bestimmen lassen. Die Handlung ist bei aller Einfachheit
0224gut erfunden und geschickt geführt; sie leidet nur an über-
0225mäßiger Verzögerung des Ausgangs. Eine auf so dürftige [3]
0226Kunstmittel gestellte Oper geräth in Gefahr, langweilig zu
0227werden, sobald sie zu lang wird. Halévy’s Musik erfreut
0228durch Eleganz, Anmuth und Geist, ganz besonders aber
0229durch eine glänzende technische Gewandtheit. Daß Manches
0230darin veraltet, einer früheren Mode verfallen ist, darf uns
0231heute, nach fast 44 Jahren, nicht Wunder nehmen. Und
0232französische Opernjahre zählen fast doppelt, wie Kriegsjahre.
0233Zu den verblichenen Moden gehören zum Beispiel be-
0234schreibende große Arien, wie die des Lyonel, welcher das See-
0235mannsleben, die Abfahrt, das Abschiednehmen, die Seeschlacht,
0236die glückliche Heimkehr, Alles im Detail schildert. Ein Seiten-
0237stück dazu bildet die minutiöse Schilderung einer großen
0238Jagd, welche in den „Musketieren der Königin“ Olivier 
0239in einer endlosen Arie zum Besten gibt. Immerhin bleibt
0240Halévy’s „Blitz“ ein kleines Meisterstück — wohl-
0241gemerkt, für ein kleines Theater. Dem „Blitz“ hat
0242Beulé in seiner akademischen Gedächtnißrede auf Halévy 
0243einige treffende Worte gewidmet. „Welches ist das
0244besondere Verdienst dieses Werkes?“ fragt der Redner des
0245Institutes. „Ist es das Komische, das der Titel anzukündigen
0246scheint? Nein, denn man findet hier weder die lebhafte
0247noch die etwas boshafte Fröhlichkeit, welche dem französischen
0248Geiste eigen ist, noch das unerschöpfliche, dem Gezwitscher
0249der Vögel gleichende Lachen, das eine italienische Partitur
0250erfüllt. Nur Verve der Darstellung, Gang der Handlung,
0251interessanter Aufputz und eine gewisse Komik, die sich
0252aus den mit außerordentlicher Geschicklichkeit geschaffenen
0253musikalischen Verbindungen ergibt, sollen Anlaß zum Lachen
0254bieten. Das israelitische Volk lacht wenig; es ist ebenso ernst
0255wie die anderen semitischen Racen. Die an den Weiden von
0256Babylon aufgehängten Harfen sind das Sinnbild aller Musik
0257des Orients, die klagend und träumerisch ist. So ist im
0258Grunde Melancholie die herrschende Stimmung im „Blitz“;
0259darin besteht eigentlich seine dramatische Einheit. Die lieb-
0260lichen Melodien athmen zugleich etwas von Traurigkeit und
0261Zartheit. Die Leidenschaft ist vorhanden, aber verschleiert,
0262abgeschwächt bis zu dem, was man inniges Gefühl nennt.“ ...


0263Von Halévy’s komischen Opern haben außer dem
0264Blitz“ einzig „Die Musketiere der Königin
0265sich eine zeitlang beliebt erhalten auf deutschen Bühnen.
0266Weniger originiell und melodiös als der „Blitz“, aber
0267dramatisch bewegter, farbenreicher, sichert ihnen in Frank-
0268reich ihre in Galanterie und Ritterlichkeit schwelgende Hand-
0269lung noch manche Wiederholung. Im Wiener Hofopern-
0270theater sind die „Musketiere“ zuletzt 1863 wieder auf-
0271marschirt, um bald wieder abzuziehen ohne klingendes Spiel
0272und fliegende Fahnen. Die Musik ist von zu geringem
0273und zweifelhaftem Werth, um durch eigene Kraft
0274die Wirkung dieser Oper zu sichern; oberflächlich
0275tändelnde Melodien, welche weniger den Kern als die letzte
0276Zierde einer lebensvollen, geistreichen Darstellung zu bilden
0277haben. Diese Anschauung ist den Franzosen ganz eigen-
0278thümlich und bestimmt sehr wesentlich den Charakter ihrer
0279Opéra comique. Wer die „Musketiere“ in Paris gesehen,
0280begreift, auch ohne besonderer Verehrer Halévy’s zu sein,
0281den ziemlich anhaltenden und lebhaften Erfolg derselben.
0282Für ein deutsches Publicum sind ein pikantes Marschthema
0283und ein hübsches Duett noch keine Oper.


0284Das Bild Halévy’s bliebe unvollständig, wollte man
0285seine Verdienste als Schriftsteller übergehen. Halévy war
0286über sein specielles Fach hinaus ein Mann von umfassender
0287gründlicher Bildung und ein ausgezeichneter Stylist. Um
0288dieser Vorzüge willen wählte ihn die Akademie der Schönen
0289Künste zu ihrem Secrétaire perpetuel, ein Amt, das nie
0290zuvor ein Musiker innegehabt. Unter dem Titel „Souvenirs
0291et portraits“ ist eine lesenswerthe Auswahl seiner Gedächtniß-
0292reden (Eloges) und musikalischen Aufsätze in zwei Bänden
0293bei Michel Lévy erschienen. Ebenso gewissenhaft und erfolg-
0294reich versah Halévy die Professur der Compositionslehre am Con-
0295servatorium als Nachfolger von Fétis. Seine Schüler — unter
0296welchen Gounod, Victor Massé, F. Bazin, Potier — bewahrten
0297ihm stets ein dankbares herzliches Andenken. Seinem flecken-
0298losen Charakter konnte Verleumdung nicht beikommen; trotz-
0299dem hatte Halévy zeitlebens viel Gehässigkeit und feindselige
0300Geringschätzung zu tragen. In Paris nistete schon vor
0301Dreyfus ein kleiner ästhetisch-kritischer Generalstab, welcher
0302den Mann, den man nicht auf die Teufelsinsel schicken
0303konnte, wenigstens zu allen Teufeln wünschte. Es hat seinem
0304Andenken nicht geschadet. Halévy’s Tod war, nach dem
0305Zeugnisse Pougin’s, eine allgemeine Trauer für Frankreich,
0306das in ihm nicht blos einen großen Musiker und geistvollen
0307Schriftsteller, sondern auch einen vortrefflichen Menschen von
0308idealem Streben, rastlosem Fleiße und edlem Charakter ver-
0309loren hat.