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Neue Freie Presse
Morgenblatt
Nr. 12747. Wien, Sonntag, den 18. Februar 1900

[1]

Musik.

(Gelegentliches über Zemlinsky und Richard Strauß.)


0003Ed. H. „Muß denn immer gewagnert sein?“ So
0004klagt ein Berliner Correspondent der „Zeit“ — bei der
0005Besprechung einer neuen Oper „Ratbold“ von Reinhold
0006Becker. Der Fall ist charakteristisch, denn Becker, ein be-
0007liebter und tüchtiger Componist, hatte bisher nur klare
0008melodiöse Musik geschrieben. Nun hat den 58jährigen Mann
0009auch die Wagner-Influenza gepackt. Er quält sich „mit
0010Meistersinger-Stollen und reckt die bescheidenen Themen zu
0011einer aufdringlichen Breite, einer Massenhaftigkeit aus, daß
0012in dem Stoffe der Geist erstickt“. Unwillkürlich mußte ich
0013an diese Kritik denken, als ich der letzten Aufführung von
0014Zemlinsky’s Oper „Es war einmal“ beiwohnte. Meine
0015Befriedigung über den Erfolg eines talentvollen jungen Oester-
0016reichers war ebenso aufrichtig wie die Anerkennung Director
0017Mahler’s, der nicht erst ein Urtheil des Auslandes abgewartet
0018hat, um eine Erstlingsoper hier festlich aus der Taufe zu heben.
0019Publicum und Kritik haben die Vorzüge dieser Novität so
0020beifällig begrüßt, daß es ihr nicht schaden kann, wenn nach-
0021träglich auch ihrer Schattenseiten erwähnt wird. Gegenüber
0022der vielstimmig erklingenden Ermunterung, unser Componist
0023möge so fortfahren, möchte ich ihn doch ersuchen, nicht 
0024ganz so fortzufahren. Unleugbar ist sein Talent, sind die 
0025Vorzüge seiner überaus geschickten ja brillanten Technik.
0026Auch die glückliche Wahl des Stoffes rechnen wir ihm als
0027ein Verdienst an. Wie sehr dieses poetische Märchenspiel
0028schon als Drama zu interessiren und zu erfreuen vermag,
0029davon konnte ich, zwölf Jahre vor der Composition von
0030Zemlinsky’s Oper, mich leibhaftig überzeugen. Damals sah
0031ich im königlichen Theater zu Kopenhagen das Volksstück
0032Dar var engang“, dem mit wenigen Abweichungen
0033Zemlinsky’s Oper getreu nachfolgt. Die Handlung des
0034Originalstückes (nach einem Märchen Andersen’s) ist von
0035dem geistvollen dänischen Poeten Holger Drachmann 
0036so klar exponirt und anschaulich geführt, daß selbst der
0037Fremde ihr in den Hauptzügen zu folgen vermag. „Es war
0038einmal“, ein Lieblingsstück des dänischen Publicums, macht
0039den erfreulichsten Eindruck, ohne der Musik zu bedürfen.
0040Freilich nicht, ohne musikalischen Schmuck ganz zu ver-
0041schmähen. Diese an rechter Stelle maßvoll und anmuthig ein-
0042setzende Musik des Originals hat den dänischen Componisten
0043Lange-Müller populär gemacht. Außer einigen
0044melodramatischen Orchesterbegleitungen hören wir da
0045Lieder des Prinzen und seines Dieners, ein Schlummer-
0046lied der Hofdamen, Jäger-, Soldaten- und Spielmanns-
0047lieder. In der Oper muß natürlich die Musik sich ungleich
0048breiter ausdehnen, auch mächtiger in die Höhe und Tiefe
0049streben. Aber etwas von dem naiven Reiz, von der Natur-
0050schönheit des Volksthümlichen wäre gewiß auch der Opern-
0051behandlung unseres Märchens zum Vortheil gediehen. Zem-
0052linsky’s
Musik scheint mir für diesen Lustspielstoff zu
0053künstlich, um nicht zu sagen gekünstelt; zu häufig zerhackt
0054declamatorisch, melodienarm in den Singstimmen, überfüllt
0055und ruhelos im Orchester. „Muß denn immer gewagnert
0056sein?“


0057Aehnlichen Erscheinungen begegnen wir heute überall.
0058Alle jungen Operncomponisten bemühen sich, zu wagnern,
0059nicht bedenkend, daß, wenn Zwei dasselbe thun, es nicht
0060mehr dasselbe ist. Sie verschmähen bereits Wagner’s frühere
0061gesangreiche Opern, klammern sich an „Tristan“, die
0062Nibelungen“, vollends an die „Meistersinger“. In den
0063Meistersingern“ erheben sich jedoch über dem Wogen der
0064polyphon verschlungenen Orchesters die weiten blühenden 
0065Inseln; Walther’s Preislied, Pogner’s Anrede, das
0066Quintett, endlich die heiteren Volksscenen im dritten Act!
0067Vergebens späht man nach solchen melodiengesegneten Oasen
0068in Zemlinsky’s Partitur. Ich möchte nicht entscheiden, ob
0069Zemlinsky der selbstständigen, originellen Gesangsmelodie
0070absichtlich ausweicht oder sie ihm. Für Ersteres sprechen in
0071den beiden ersten Acten die vielen zarten, empfindsamen
0072Stellen des Gedichtes, welche, nach Melodie schmachtend,
0073von Zemlinsky nur declamatorisch abgefertigt werden. Die
0074letztere Vermuthung erregt der dritte Act, wo Zemlinsky 
0075in die zweite und dritte Scene norwegische Volks-
0076lieder einschiebt, anstatt selber welche und bessere
0077zu erfinden. Ueber den Begriff von „Melodie“ in den Ge-
0078sangspartien einer Oper kann kein ehrlicher Streit sein.
0079Würde diesen Namen jede Aufeinanderfolge von Tönen, im
0080Gegensatze zur „Harmonie“, verdienen, so wären auch
0081Czerny’s Fingerübungen mit stillstehender Hand Melodie.
0082Und nicht viel besser das uferlos melodisirende Schweifen
0083ohne Anfang und Ende, oder die recitativisch abgerissenen
0084Dialoge, die, um ein Heine’sches Bild zu gebrauchen, wie
0085erhitzte Flöhe durcheinander springen. Die schön geformte,
0086dabei von dramatischem Leben erfüllte Melodie vermissen
0087wir nur zu sehr in der Oper Zemlinsky’s. Wohlgemerkt
0088des jungen Zemlinsky! Da sollte doch die schöne Sinnlichkeit
0089noch in vollem Safte stehen, die Sangesfreudigkeit noch
0090nicht erdrückt sein von der selbstherrlichen Polyphonie eines
0091atemlos arbeitenden Orchesters: „Muß denn immer ge-
0092wagnert sein?“


0093Daß selbstständige, dabei dramatisch belebte Gesangs-
0094melodie ein Wahn sei, das ist der allergrößte Wahn. Er
0095dürfte sich vielleicht früher demaskiren, als die jungen
0096Herren glauben. Blättern wir in den Bänden einer
0097beliebigen Musikzeitung und notiren, wie viele von den seit
009825 Jahren erschienenen Opern deutscher Wagnerianer heute
0099noch existiren — ja, wie viele davon ihre Heimatstadt über-
0100schritten und ihr Leben über ein halbdutzend Aufführungen
0101gefristet haben? Der lärmende, vorausversicherte Beifall der
0102„Partei“ vermochte sie nicht zu retten. Wagner hat in
0103seinen letzten Werken sich einen eigenen Weg gebahnt, kühn,
0104mit Lebensgefahr; die ihm blinglings Nachkletternden brechen [2]
0105den Hals. Mögen sie ja nicht nach seinen Erfolgen
0106ähnliche für sich erwarten! Auf allen deutschen Opernbühnen
0107ist Wagner heute so vor- und überragend vertreten, daß
0108seine Verehrer sich vollauf davon ersättigen können. Keines-
0109wegs bedarf es ohne Ende schwächlicher Wiederholung des
0110besser schon Vorhandenen. Ja, die Atmosphäre ist so stark
0111geladen mit Wagner, daß daneben jede gute Aufführung
0112einer — Lortzing’schen Oper bereits ihr dankbares Publicum
0113findet!


0114Die Entwicklung einer Kunst läßt sich nimmer beliebig
0115zurückschrauben. Nur ein Narr könnte verlangen, unsere
0116Musik solle sich auf die knappen Formen und dürftigen
0117Kunstmittel beschränken, mit welchen die Meister des vorigen
0118Jahrhunderts gewirkt haben. Kein Operncomponist kann
0119heute im Styl der „Zauberflöte“ schreiben wollen; jeder
0120muß die Fortschritte seiner Zeit mit Wahl und Besonnenheit
0121in sich aufnehmen. So dehne er denn immerhin im Orchester
0122die Melodie ins „Unendliche“ aus, verwickle sie in die
0123Maschen der dichtesten Polyphonie, instrumentire so „dra-
0124matisch“, daß unausgesetzt jedes einzelne Instrument bedeu-
0125tungsvoll seine eigene Meinung sagt — nur oben auf der
0126Bühne vergönne er uns etliche fühlende Menschen, die aus
0127voller Seele singen und nicht aus einer beliebigen zweiten
0128Violinstimme.


0129Diese Bemerkungen, lange nach der Première des so
0130erfolgreichen Zemlinsky’schen Werkes geschrieben, geben sich
0131durchaus nicht als eine Kritik desselben. Als solche wären
0132sie ungerecht, da sie wissentlich nur die Schattenseiten, eigent-
0133lich eine Schattenseite dieser Composition hervorheben. Im
0134aufrichtigen Interesse für die Zukunft des begabten jungen
0135Componisten. Ich kenne Herrn Zemlinsky nicht persönlich
0136und weiß nicht, wie er sich zur Kritik überhaupt verhält.
0137Vielleicht acceptirt er nach modernem Muster Verherrlichung
0138als schuldigen Tribut und empfindet jeden Tadel als Unrecht
0139und Unverstand. Etwa nach dem Beispiel eines gefeierten
0140Componisten, des Herrn Richard Strauß, welcher
0141kürzlich ein Manifest in diesem Sinne an die „Grazer
0142Tagespost“ erlassen hat. Das starke Lob des Blattes
0143genehmigt er höflich, jedoch mit dem Beisatz, er wünsche,
0144daß die Wiener Kunstrichter von ihren 
0145Grazer Collegen lernen möchten“! „In der
0146Hauptstadt,“ fährt er fort, „herrschen leider noch die ewigen
0147Schönheitsgesetze, die unsereins auch gerne einmal zu Gesichte
0148bekäme, die aber bis heute als räthselhafte Geheimnisse im
0149Busen der Herren Hanslick und Genossen schlummern.“
0150Diese räthselhaften Geheimnisse liegen aber in Wahrheit
0151offen vor allen musikalischen Menschen, welche lesen können:
0152in den Partituren von Mozart und Beethoven, Schubert,
0153Mendelssohn und Schumann, Brahms und Dvořak. Jeder
0154von ihnen war ein Neuerer gegen seine Vorgänger —
0155sie Alle aber haben in ihren Symphonien Musik gemacht
0156und nicht Bilderräthsel. Niemals pedantisch, doch immer
0157ernst. Hingegen kann man sich der Vermuthung kaum
0158erwehren, ob Herr Strauß sich mit seinen Hörern und Verehrern
0159nicht ein wenig Spaß macht? Wie mag der geistreiche Mann
0160verstohlen lächeln, wenn die Concertbesucher in ihren Programmen
0161nervös herumsuchen, bei welchem Tact Eulenspiegel an
0162den Galgen heraufgezogen wird, oder wo im Zarathustra 
0163„die Hinterweltler“ aufhören und „das Capitel von der
0164Wissenschaft“ beginnt, oder wann sie auf das „heilige Lachen“
0165und wann auf das „Motiv der Verachtung“ aufzupassen
0166haben. Ich war fest überzeugt, der berühmte Autor so vieler
0167symphonischer Bilderbücher stehe längst jenseits von Lob und
0168Tadel und blicke auf vereinzelte, nicht zustimmende Kritiker
0169mit dem Gleichmuth des richtigen Uebermenschen herab.
0170Nach dem Erlaß an seine getreue Hauptstadt Graz scheint
0171dies jedoch nicht ganz der Fall zu sein. Freundlich lobt er,
0172die ihn loben, und bitter tadelt er die Tadler. Das ist ja
0173„Menschlich, Allzumenschlich“. Niemand wird es ihm ver-
0174übeln. Hübsch wäre es aber doch, wenn der musikalische
0175Hofcaplan Zarathustra’s auch der Weisheit eines freilich schon
0176unmodernen deutschen Dichters sein Ohr leihen wollte.


0177Also sprach Friedrich Rückert:
0178Unstatthaft ist’s, willst du das Lob /
0179Als bare Münz’ einnehmen /
0180Und dann zum Tadel kraus und grob /
0181Nicht gleichfalls dich bequemen. /
0182Entweder beides oder keins /
0183Mußt du in Rechnung schreiben, /
0184Und immer wird das Facit eins: /
0185Dein eig’ner Werth dir bleiben. /