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Neue Freie Presse
Morgenblatt
Nr. 12767. Wien, Samstag, den 10. März 1900

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Die Vollendung der großen S. Bach-Ausgabe.


0002Ed. H. Das würdigste Denkmal Sebastian Bach’s
0003prangt vollendet vor unseren Augen: Die monumentale Ausgabe
0004seiner Werke in 45 Bänden. Ein halbes Jahrhundert ununter-
0005brochener Arbeit, Opferfreudigkeit und Kunstbegeisterung war
0006erforderlich, um diese prachtvolle Gesammtausgabe von Bach’s
0007Compositionen zu schaffen. Es lohnt sich, nicht blos für den
0008engen Kreis der Fachmusiker, sondern für jeden Geschichts-
0009und Culturfreund, die Anfänge, die Fortbewegung und den
0010endlich erreichten Beschluß des großen Unternehmens
0011wenigstens in den Hauptzügen zu verfolgen. Den leitenden
0012Faden dazu bietet uns der ausführliche, musterhaft gearbeitete
0013Rechenschaftsbericht, den der rühmlichst bewährte Musikgelehrte
0014Professor Hermann Kretzschmar im Auftrage des
0015Directoriums der Bach-Gesellschaft in Leipzig soeben ver-
0016öffentlicht hat.


0017Mit Recht hebt Kretzschmar am Anfang seines Berichtes
0018die „wundersame Fügung hervor, die über den Werken
0019S. Bach’s“ gewaltet. Von einer früheren Zeit vernachlässigt
0020und mißkannt, sind sie erst nach hundert Jahren an den
0021ihnen gebührenden Platz gestellt, ist erst das heutige Ge-
0022schlecht von der Größe Bach’s durchdrungen. Dem achtzehnten
0023Jahrhundert blieb Bach im besten Theil seines Wesens ver-
0024schlossen. Er galt seinen Zeitgenossen als der Fürst aller
0025Clavier- und Orgelspieler; jedoch als Componist kam er 
0026nicht zu seinem Rechte. Diese Unterschätzung lag nicht blos
0027daran, daß zu wenig Werke Bach’s gedruckt oder überhaupt
0028verbreitet waren, besaß man doch in den Kirchencan-
0029taten
eine genügende Grundlage für eine richtige Werth-
0030schätzung. In der Hauptsache muß die lange Verkennung
0031Bach’s darauf zurückgeführt werden, daß er außerhalb der
0032italienischen Schule stand, welche seit Leo Haßler’s und
0033H. Schütz’ Zug nach Italien auch über das Schicksal der deutschen
0034Musiker entschied. Der Styl Bach’s erschien damals schwülstig;
0035es wurde an seinen Werken nur „die Tiefe der Wissenschaft
0036und des Geschmacks“ hervorgehoben. Der Stern der Bach-
0037schen Kunst stieg nur, als die Herrschaft der Italiener sank.
0038Eine bedeutende Wendung zu Bach’s Gunsten zeigt sich mit
0039dem Besuch Mozart’s in Leipzig 1789, wo Doles ihm
0040Bach’sche Motetten vorsingen ließ. Allerdings war die Stim-
0041mung für Bach schon vor Mozart’s Leipziger Aufenthalt
0042günstiger geworden. Die Deutschen hatten sich an Friedrich 
0043dem Großen wieder fühlen gelernt, und das äußerte sich
0044auch in den Künsten. Bald hielten, von dieser Strömung
0045getragen, Händel’s Oratorien ihren Einzug in Deutsch-
0046land. Berlin wurde der Sammelpunkt Bach’scher Hand-
0047schriften, später durch die Singakademie die Hauptstadt Bach-
0048scher Musik.


0049Die erste Bewegung zu Gunsten Bach’s stand unter
0050dem nationalen Zeichen. Das bezeugt Forkel’s 
00511802 veröffentlichtes Buch, die erste Bach-Biographie, die
0052überhaupt geschrieben worden ist. „Die Erhaltung des An-
0053denkens an diesen großen Mann,“ schreibt Forkel in der
0054Vorrede, „ist nicht blos Kunstangelegenheit, sie ist
0055National-Angelegenheit!“ Der nationale Geist
0056veranlaßte 1800 Breitkopf & Härtel zu dem Plan um-
0057fassender Ausgaben der Werke Mozart’s und Haydn’s.
0058An eine Bach-Ausgabe traten nun drei Verleger zugleich
0059heran: Simrock in Bonn, Nägeli in Zürich, Hoff-
0060meister
in Leipzig. Das waren fünfzig Jahre vor der
0061Gründung der Bach-Gesellschaft ihre Vorläufer. Wäre eine
0062wirkliche Gesammtausgabe von Bach’s Werken zu Anfang
0063des Jahrhunderts zu Stande gekommen, so hätte sie manche
0064jetzt unwiderbringlich verlorene Handschrift gerettet. Hatte 
0065doch der Gärtner des Grafen Spork Baumschäden mit
0066den Originalstimmen der H-moll-Messe verklebt und
0067wurde noch im Jahre 1814 das Autograph der
0068Violin-Sonaten in einem Butterladen gefunden.
0069Die Durchführung der erwähnten Bach-Ausgaben scheiterte
0070größtentheils an der Concurrenz der drei Verleger. Zwei
0071von ihnen begnügten sich schließlich mit einigen gangbaren
0072Compositionen. Das Größte der Bach’schen Kunst: seine
0073Passionen, Messen, Cantaten waren nicht veröffentlicht. Im
0074Jahre 1803 hatten Breitkopf & Härtel zum erstenmale
0075Bach’sche Motetten gedruckt und damit das Zeichen zur Er-
0076schließung der Bach’schen Vocal-Compositionen gegeben;
0077fast hundert Jahre, nachdem Bach selbst — das erste- und
0078einzigemal — eine größere Kirchenmusik in Druck gelegt
0079hatte! Chorcantaten sind im achtzehnten Jahrhundert so
0080gut wie gar nicht in Druck und Handel gekommen. Nach-
0081dem zuerst das Magnificat, dann die Cantate „Eine feste
0082Burg“ erschienen war, ereignete sich das Erstaunliche, daß
0083zwei Verleger, Simrock und Nägeli, 1818 die H-moll-
0084Messe herausgeben wollten. Hiemit hatte die erste große
0085Bach-Bewegung ihren Höhepunkt, zugleich aber auch ihr Ende
0086erreicht.


0087Unter dem um 1818 entstandenen Stillstand litt
0088namentlich die Bach’sche Vocalmusik. Die Kirchenchöre
0089hielten sich an Haydn und Mozart, an Neukomm, Nau-
0090mann und Geringere. Die Musikfeste verschlossen sich Bach 
0091noch auf zwei Jahrzehnte vollständig. Da kam durch eine
0092kühne That neuer Fluß in die stockende Bewegung. Es war
0093die bekannte Berliner Aufführung der Matthäus-
0094Passion
am 11. März 1829 durch Felix Mendelssohn.
0095Was nach Kretzschmar’s Ansicht den jungen Mendelssohn zu
0096diesem Wagstück ermuthigte, „das war der Geist der
0097Romantik, der die deutschen Lande durchzog, derselbe Geist,
0098der die Augen von Wissenschaft und Kunst in die deutsche
0099Vergangenheit richtete“. Nirgends war das musikalische Leben
0100stärker von ihm berührt, als in Berlin. Durch die Matthäus-
0101Passion wurde von Berlin aus ein neuer Bach bekannt,
0102ein viel größerer Meister, als man bis dahin annahm.
0103Mendelssohn selbst freute sich über die Erfahrungen [2]
0104und Hoffnungen, ohne Anspruch auf die volle Tragweite
0105seiner Leistung. Er schreibt über die Aufführung seinem
0106Freunde Franz Hauser: „Im Anfang wollte Keiner
0107dran; sie meinten, es sei zu verwirrt und ganz unsinnig
0108schwer. Doch nach einigen Proben war das ganz anders
0109geworden, und sie sangen mit einer Andacht, als ob sie in
0110der Kirche wären.“


0111Dem Beispiel Berlins folgten zunächst nur wenige
0112Städte: Frankfurt, Breslau, Königsberg, Dresden. Die
0113Hamburger Singakademie brachte die Matthäus-Passion erst
0114im Jahre 1832, unter Stockhausen’s Direction; die
0115Wiener sogar erst im Jahre 1862 unter F. Steg-
0116mayer
. Im Jahre 1833 fand in Berlin unter Rungen-
0117hagen’s
Direction die erste Aufführung der „Johannes-
0118Passion“ statt; sie ist nicht wiederholt, auswärts kaum be-
0119achtet worden. Im Jahre 1834 brachte die Berliner Sing-
0120akademie die ersten drei Theile des „Weihnachts-Oratoriums“
0121mit starken Kürzungen. Viele Sänger wurden abtrünnig,
0122weil ihnen das Unternehmen aussichtslos erschien. Durch
0123die „Matthäus-Passion“ war der Glaube an Bach bei ver-
0124wandten Seelen bedeutend gefestigt und vertieft, die Menge
0125war aber nicht gewonnen. Aus jener engeren Gemeinde
0126regt sich am Anfang der Dreißiger Jahre zum erstenmale
0127der Gedanke einer Bach-Gesellschaft. „Die
0128Musiker selbst,“ schreibt Schelble, der Director des
0129Frankfurter Cäcilien-Vereins, „müssen die Sache in die
0130Hand nehmen und eine Ausgabe der Bach’schen Werke
0131veranstalten.“ Bis zur Verwirklichung dieser Idee vergingen
0132aber noch achtzehn Jahre. In dieser Zwischenzeit
0133ist wieder Mendelssohn der erste Fahnenträger des
0134Meisters. In Rom, Paris, London warb und wirkte er
0135für Bach und allerwärts, so lange er lebte. Er war es, der
0136den Hauptvertreter der protestantischen Kirchenmusik ins
0137katholische Deutschland einpflanzte. In Leipzig trat er
0138als Dirigent der Gewandhausconcerte besonders nachhaltig
0139für die großen Instrumental-Compositionen 
0140ein. Literarisch fand Mendelssohn Unterstützung, besonders
0141durch R. Schumann, der in seiner „Neuen Zeitschrift
0142für Musik“ 1837 wieder einmal öffentlich an den Druck
0143von Bach’s sämmtlichen Werken erinnert. In ähnlicher 
0144Weise haben sich die Schriftsteller Mosewius und
0145Winterfeld bemüht, größere Kreise für Bach’s Kunst
0146zu gewinnen. In der praktischen Musik hatten alle diese
0147Bemühungen nur mäßigen Erfolg. Als Mendelssohn 1833 
0148das D-moll-Concert in Berlin gespielt hatte, schreibt er:
0149„Der Applaus nach dem letzten Stücke wollte gar nicht auf-
0150hören, und die Leute waren so entzückt, daß ich überzeugt
0151bin, es hat keinem Einzigen gefallen.“ In weiterem Umfang
0152ist die Bach’sche Concert- und Kammermusik erst später durch
0153Ferdinand David und Joseph Joachim erschlossen
0154worden. Die Orchester-Suite in D-dur (Nr. 3) hat
0155unter allen von Mendelssohn wieder eingeführten größeren
0156Instrumentalwerken geschichtlich am bedeutendsten gewirkt,
0157mehr noch als die Matthäus-Passion. Denn sie brachte die
0158alte, ganz abgestorbene Suiten-Composition zu
0159frischem Leben und führte die neueren Componisten zurück
0160zur Form und zum Geist des achtzehnten Jahrhunderts.
0161Der Verlag hatte sich im Allgemeinen von der Bach-
0162Bewegung zurückgezogen. Die überzeugten Freunde des
0163Meisters mußten in dieser kritischen Lage sich fragen: Warum
0164gewinnen trotz Allem seine Werke so wenig Boden? Sie
0165antworteten mit der Losung: der ganze Bach soll’s sein!
0166Eine begeisterte Minderheit entschloß sich, ernstlich an die
0167getreue Herausgabe von Bach’s sämmtlichen Werken heran-
0168zutreten. Der hundertste Geburtstag Bach’s (28. Juli 1750)
0169rief die Leipziger Bach-Gesellschaft ins Leben.


0170Die Idee darf man noch auf Rechnung Mendelssohn’s
0171setzen; im Wesentlichen ist die Bach-Gesellschaft das Werk
0172Otto Jahn’s. Er war in den ersten Jahren überall die
0173treibende Kraft; bestimmte den Inhalt und die Herausgeber
0174der ersten Bände, verfaßte die Statuten und das vertrau-
0175liche Rundschreiben, durch welches am 3. Juli 1850 Breit-
0176kopf & Härtel, C. F. Becker, Otto Jahn, R. Schumann und
0177M. Hauptmann die Absicht und den Plan der Gesammt-
0178Herausgabe mehreren namhaften Bach-Freunden bekannt
0179gaben. Viele gewichtige Förderer traten dem Unternehmen
0180bei und setzten ihre Unterschrift zu den obgenannten unter
0181die „Aufforderung zur Stiftung einer Bach-
0182Gesellschaft
“. Darunter war als einziger Oester-
0183reicher
der Wiener Conservatoriums-Professor Joseph 
0184Fischhof. Er hat in Wien zuerst Bach’sche Compositionen
0185zu verbreiten gesucht, sogar einen kleinen privaten „Bach-
0186Verein“ gegründet, welcher als die Wurzel der später statt-
0187lich emporgewachsenen „Wiener Singakademie“ gelten kann.*) 
0202Am 15. December 1850 fand in Leipzig die constituirende
0203Sitzung statt: der Gründungstag der Bach-
0204Gesellschaft
.


0205Wir müssen es uns hier versagen, das allmälige Fort-
0206schreiten der Bach-Ausgabe in ihren einzelnen Phasen zu
0207verfolgen und die großen Verdienste zu würdigen, welche den
0208Redacteuren Otto Jahn, Moriz Hauptmann, Julius
0209Rietz, C. F. Becker, später (vom 9. bis zum 28. Jahr-
0210gang) Wilhelm Rust, zuletzt noch in der dritten und letzten
0211Periode A. Dörffel, Graf Waldersee, E. Neu-
0212mann
und F. Wüllner zukommen. Darüber wird
0213jeder Musiker und Bach-Verehrer die genauen Angaben
0214Professor Kretzschmar’s mit Nutzen nachlesen. Im De-
0215cember 1897 war der 45. Jahrgang fertiggestellt und
0216damit die Aufgabe der Bach-Gesellschaft beendet. 47 Jahre
0217hatte die Durchführung des Unternehmens gedauert. Von
0218den Gründern lebte keiner mehr; als der letzte noch Uebrige
0219war Geheimrath Schede im Jahre 1885 wegen hohen
0220Alters aus dem Ausschuß ausgetreten. Der Hauptzweck der
0221Gesellschaft, alle Werke J. S. Bach’s, welche durch sichere
0222Ueberlieferung und kritische Untersuchung als von ihm
0223herrührend nachgewiesen sind, in einer gemeinsamen Ausgabe
0224zu veröffentlichen, war erreicht. Die Gesammt-Ausgabe hat
0225einen großen und wichtigen Theil der Werke Bach’s zum [3]
0226erstenmal in den Druck gebracht und damit für immer vor
0227dem drohenden Untergang gerettet.


0228Die wichtigste wissenschaftliche Erbschaft, welche die Bach-
0229Gesellschaft hinterläßt, besteht in zwei Aufgaben: die eine
0230dient der Kritik, die andere der praktischen Ver-
0231wendung
der Bach’schen Werke. Um zu verstehen, welche
0232Fortschritte die allgemeine Schätzung Bach’scher Kunst seit
0233dem Eintreten der Bach-Gesellschaft gemacht hat, muß man
0234sich erinnern, daß Anfangs der Fünfziger-Jahre C. A. Lobe 
0235(in seinen „Briefen eines Wohlbekannten“) Bach noch einen
0236nur für die Zopfzeit genießbaren Componisten genannt hat
0237und Hans v. Bülow das D-moll-Concert als „Nichtmusik“
0238bezeichnete und nicht spielen wollte. „Heute“ — so hebt
0239Kretzschmar mit rühmenswerther Unbefangenheit hervor —
0240„heute neigen wir zu dem Extrem Forkel’s: daß nämlich
0241Bach’s Musik schlechtweg die Normalmusik sei. Es bedarf
0242darum dringend einer Arbeit, welche die großen unvergleich-
0243lichen Züge seiner Kunst klar und nüchtern von den Punkten
0244unterscheidet, in denen Bach hinter den viel geschmähten
0245Neapolitanern zurückbleibt und in denen er für keine Zeit
0246ein Muster sein kann.“


0247Die große Bach-Ausgabe war auch geschäftlich ein
0248ideales Unternehmen. Heute kommt die Culturbedeutung der
0249Musik in den Ausgabeposten der Länder allmälig wieder
0250zu größerer Geltung; vor 50 Jahren war für eine Bach-
0251Ausgabe an durchgreifende Staatshilfe nicht zu denken.
0252Um so dankbarer sahen die Gründer die Mehrzahl der
0253deutschen Fürsten (der Kaiser von Oesterreich mit 10, der König 
0254von Preußen mit 20 Exemplaren) an die Spitze der Subscri-
0255benten treten. Die allgemeine Betheiligung blieb jedoch unter
0256den Erwartungen der Bach-Gesellschaft; es wurde doch zu
0257drückend empfunden, daß man gleich anfangs auf die ganze 
0258Ausgabe pränumeriren mußte. Erst im Jahre 1869 entschloß
0259sich die Gesellschaft nothgedrungen, auch einzelne Bände
0260abzulassen. Die ganz fremde Form der Pränumeration hat
0261sich niemals eingebürgert, und die wirklich vorausbe-
0262zahlenden Mitglieder haben stets eine Minderheit oder eine
0263Ausnahme gebildet. Auch der stets gewissenhafte Brahms,
0264der einmal die Gründung des deutschen Reiches und die
0265Vollendung der Bach-Ausgabe seine beiden größten Erleb-
0266nisse nannte, mußte sich einmal zur Einzahlung mahnen 
0267lassen.**) Wenn das große, wiederholt ins Stocken gerathene
0274Unternehmen überhaupt durchgeführt werden konnte, so ist
0275das vor Allem den kunstsinnigen Vertretern des Hauses
0276Breitkopf & Härtel zu danken.


0277Günstiger als die äußere Aufnahme und Unterstützung,
0278welche die Bach-Ausgabe gefunden, ist die Wirkung, die sie
0279auf die Musik geübt hat. Den nächsten Beweis dafür bildet
0280das Wiederaufleben der Suite im Clavier und im Orchester.
0281Hingegen hat sich die neuere Composition dem Einfluß des
0282Bach’schen Concerts bis jetzt noch verschlossen. In der
0283neueren Vocal-Composition sind Bach’sche Vorbilder erst
0284in jüngster Zeit bemerkbar geworden, so in Herzogen-
0285berg’s Kirchen-Oratorien. Ungleich wichtiger ist, daß Bach’s
0286Werke zu einer Reform des mehrstimmigen Styls geführt
0287haben. Dieser Erfolg Bach’s ist für die Composition des
0288neunzehnten Jahrhunderts entscheidend gewesen. Schon vor 
0289der Gründung der Bach-Gesellschaft zeigt er sich in den
0290Werken Mendelssohn’s und Schumann’s. In der
0291Musikpflege seit Gründung der Bach-Gesellschaft zeigt sich
0292eine entschiedene Wendung zu Gunsten der Bach’schen Vocal-
0293Compositionen. Sie tritt Anfangs der Sechziger Jahre mit
0294dem Vordringen der Passionsmusiken ein. In Wien 
0295führen Stegmayer und Herbeck die Matthäus- und
0296Johannes-Passion auf. Heute gibt es keine musikalisch leistungs-
0297fähige Mittelstadt in Deutschland, in der die Matthäus-
0298Passion unbekannt wäre; in den meisten großen hört man sie
0299alljährlich in der Charwoche. Ihr am nächsten in der Ver-
0300breitung kommt die H-moll-Messe. Auch Aufführungen Bach’scher
0301Cantaten sind heute häufiger als vor fünfzig Jahren;
0302in Wien war Brahms als Dirigent der Singakademie
0303eifrig dafür thätig. In der Instrumental-Musik 
0304war Bach schon vor Gründung der Gesellschaft viel besser
0305vertreten als in der Vocalmusik; seitdem ist seine Stellung
0306hierin noch ungleich bedeutender geworden. Das „wohl-
0307temperirte Clavier“, die Inventionen und Claviersuiten ge-
0308hören zum Grundstock des musikalischen Unterrichts. Freilich
0309ist an vielen Punkten das Erreichte hinter dem Erreichbaren
0310zurückgeblieben. Der Ursachen sind mehrere. Die Fünfziger-
0311Jahre brachten den Kampf um das Musikdrama Richard
0312Wagner’s
, um die Zukunftsmusik, und damit eine
0313Spaltung zwischen alter und neuer Kunst, die der Bach-
0314Gesellschaft starken Abbruch gethan hat. Nur wenige Vertreter
0315der neuen Richtung hatten gleich dem unbefangenen und
0316vielseitigen Franz Liszt im Herzen zugleich Platz für Bach 
0317und Wagner. Eine zweite Schwierigkeit lag darin, daß ein
0318Theil der Bach’schen Werke, insbesondere Cantaten, unserer
0319Zeit entfremdet ist. Mit Concertaufführungen ist der
0320gewünschte Erfolg nicht zu erreichen. Professor Kretzschmar 
0321wiederholt nachdrücklich, daß „der Haupttheil der Bach’schen
0322Kunst für die Kirche bestimmt ist.“


0323Woran es allen heutigen Bestrebungen zur Wieder-
0324belebung alter Tonkunst noch mangelt, das ist ihre Verbin-
0325dung mit der Musikpflege. Als die beste Form, die
0326praktische Wirkung der Bach-Ausgabe zu ergänzen, empfiehlt
0327Kretzschmar die Einrichtung regelmäßiger Bach-Feste.
0328Solche sind nur ausnahmsweise in London (1895) und
0329bei der Einweihung des Bach-Denkmals in Eisenach 
0330(1884) versucht worden. Diese Feste hätten vor Allem die-
0331jenigen Compositionen Bach’s ans Licht zu ziehen, deren
0332eigenthümliche Schönheit der großen musikalischen Welt un-
0333bekannt geblieben ist. Außerdem wären die „Bach-Feste“ die
0334Stelle, wo eine Menge noch schwebender Fragen zum prak-
0335tischen Austrag gebracht werden soll. Eisenach, die
0336Vaterstadt Bach’s, Leipzig, wo er gewirkt, Berlin,
0337Frankfurt, Breslau, wo die Bach-Bewegung ihren
0338Ausgang genommen hat, erscheinen als die bevorzugten
0339Orte für solche Feste.


0340Zum Schlusse möge ein schönes Wort von L. Ehlert 
0341hier Platz finden: „Nichts erhält das Gegenwärtige kräftiger
0342und in der Besinnung auf seine höchsten Güter wachsamer,
0343als der Rückblick auf ein allen Widerstreit in sich besiegt
0344und verklärt tragendes Vergangenes. Unter den Berufenen
0345aller Zeiten wurde ja nur Wenigen das göttergleiche Schicksal
0346zu Theil, ihr Erdenleid und ihre Erdenwonne zu so reinem
0347Klange aufzulösen, wie unserem Johann Sebastian Bach.“

Fußnoten
  • *)Zur Gründung der Wiener Singakademie glaube ich den
    ersten Anstoß gegeben zu haben mit einem Aufsatz in der Literarischen
    Beilage der „Wiener Zeitung“ vom 9. Mai 1853. Es heißt da von
    Fischhof’s häuslichem Bach-Verein: „Die kunstgeschichtliche Tendenz sich
    mit älteren berühmten Tonwerken bekannt zu machen und die diletti-
    rende sich im Chorgesang zu üben, gehen da Hand in Hand einem
    würdigen Ziel entgegen. Für das Musikleben der Residenz ist der
    Bach-Verein freilich nichts weiter als ein bedeutungsvoller Fingerzeig
    nach etwas, das herzustellen wäre. Sollte es bei den reichen musi-
    kalischen Mitteln Wiens nicht möglich sein, einen großen Gesang-
    verein zu bilden nach dem Muster der von Fasch begründeten, von
    Zelter und Rungenhagen so blühend fortgeführten Singakademie
    in Berlin
    ?“ Dieser Gedanke wird nun in dem Aufsatz weiter aus-
    geführt und begründet.
  • **)Brahms, der begeisterte Verehrer Bach’s, schwärmte nicht
    in gleichem Maß und Umfang für Händel. Die ins Unabsehbare
    sich fortschleppende Händel-Ausgabe machte ihn ungeduldig, und
    er verzweifelte oft, wo er die vielen Bände unterbringen sollte. Die
    zahlreichen italienischen Opern, Serenaden und Gelegenheits-Cantaten
    flößten ihm kein Interesse ein.