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Neue Freie Presse
Morgenblatt
Nr. 12781. Wien, Samstag, den 24. März 1900

[1]

Hofoperntheater.

Jolanthe“, lyrische Oper in einem Aufzuge von P. Tschaikowsky.


0003Ed. H. Berückt von dem poetischen Zauber der
0004Königstochter Jolanthe, geblendet von einer Blinden, hat
0005Tschaikowsky Henrik Hertz’s Drama zur Oper um-
0006geschaffen. Er ist der Erste nicht. Vor 50 Jahren ist im
0007alten Kärntnerthor-Theater eine Oper „Jolanthe“ von
0008Johannes Hager aufgeführt und trotz mancher glücklicher
0009Scenen rasch wieder beseitigt worden. Das war, als ganz
0010Deutschland von dem rührenden Idyll des dänischen Dichters
0011schwärmte. Nur zu leicht mochte ein junger gefühlvoller Com-
0012ponist in der blinden Jolanthe eine Opernideal erblicken. Es hatten
0013sogar namhafte Kritiker in ihrer Beurtheilung oder Verur-
0014theilung des Hertz’schen Dramas auf das Operngebiet hinge-
0015wiesen, indem Jolanthe kein dramatischer Charakter sei, sondern
0016eine musikalische Seele. Sollte — so hieß es — die so
0017rührende Geschichte nicht durch Musik unendlich gewinnen?
0018Ja, drängt sie nicht geradezu nach musikalischer Verstärkung
0019und Verklärung? Man übersah nur Eines: daß die süße
0020himmelblaue Monotonie, die auf dem Schauspiel lastet, gerade
0021für die Oper verhängnißvoll werden müßte. Noch peinlicher
0022empfinden wir hier den Mangel an kräftigen Gegensätzen,
0023an vorwärtsdrängender Handlung. Die Musik braucht zur
0024Entfaltung eines Dialogs oder Monologs doppelt so viel
0025Zeit, als die gesprochene Rede; überdies wird der Com-
0026ponist gar nicht loskommen aus dem langsamen Zeitmaß 
0027und der gleichmäßigen Rhythmik. Was an dem Drama des
0028dänischen Poeten uns zumeist fesselt, sind die sinnigen Reden
0029und Erörterungen über das Licht, das Sehen — geistreiche,
0030poetische Gedanken, welche dieses Thema sowol nach der
0031Gefühlsseite, wie nach der psychologischen und pathologischen
0032beleuchten. Davon kann das Wenigste in Musik rein auf-
0033gehen und wird das Meiste im Gesangsvortrag undeutlich
0034verschwimmen.


0035Da hätten wir vorläufig und voreilig schon Entschul-
0036digungsgründe vorgebracht, warum die Oper „Jolanthe“
0037keinen großen Erfolg erzielen kann. Keinen Erfolg wie
0038Tschaikowsky’s „Eugen Onegin“. Für diesen hege ich eine
0039besondere Vorliebe; trotz der sehr ungleichen Erfindung und
0040dem unglücklichen letzten Act, der das Werk nicht abschließt,
0041sondern abbricht. In „Onegin“ erscheint uns der Componist
0042als eine geprägte Individualität, eine geistvolle, liebens-
0043würdige Natur, deren westeuropäische Bildung die russische
0044Nationalität trotzdem nicht verleugnet. Diese reizvollen natio-
0045nalen Anklänge, welche der Musik zu „Onegin“ ihre charak-
0046teristische Farbe geben, müssen wir in der provencalischen
0047Jolanthe“ entbehren, und wir entbehren sie schwer. Gerne
0048hätten wir der neuen Oper einen ähnlichen tiefen Eindruck
0049verdankt und nachgerühmt, wie jener älteren. Aber das will
0050uns trotz mancher schönen Einzelheit in „Jolanthe“ nicht
0051gelingen. Es ist dem Componisten diesmal nicht viel Neues
0052eingefallen; wohl uns, daß er diesem Mangel nicht durch
0053Rohheit und Bizarrerie abzuhelfen sucht, wie so viele seiner
0054Landsleute. In Tschaikowsky’s „Jolanthe“ herrschen über-
0055wiegend Natürlichkeit und zarte Empfindung, die manchmal
0056zum Gewöhnlichen herabsinkt, manchmal aber sich zu schöner
0057Anmuth erhebt.


0058Man höre gleich die einleitenden idyllischen Scenen im
0059Garten. Ein Gespräch Jolanthe’s mit ihrer Amme, zwischen
0060Recitativ und Cantilene schwankend, wird von einer un-
0061gemein einfachen lieblichen G-dur-Melodie der Violinen und
0062Harfen getragen. Daran schließt sich ein zartes Arioso der
0063Jolanthe: „Warum kannte in früheren Tagen weder Thränen 
0064noch Kummer mein Sinn?“ und ein heiterer Mädchenchor
0065„Bringen die Blumen“. Die naive, herzliche Melodie mit
0066den jubelnden Vogelstimmen im Orchester wirkt in ihrer
0067Reinheit ebenso köstlich wie das darauf folgende Schlummer-
0068lied in Es-dur. Es wird abwechselnd erst von zwei Solo-
0069stimmen gesungen, denen sich dann die tiefere dritte und ein
0070leise verhallender Mädchenchor anfügt. In diesen einleitenden
0071idyllischen Scenen zeigt sich Tschaikowsky’s lyrisches Talent
0072in voller sanfter Leuchtkraft. Alles etwas breit ausgesponnen,
0073aber stimmungsvoll, in musikalisch schön gerundeter Form.
0074Nun sind wir aber beinahe fertig mit den Scenen, die wir
0075uneingeschränkt, so recht von Herzen loben können.


0076Jagdhörner verkünden das Nahen des Königs, der in
0077Begleitung des maurischen Arztes Ebn-Jahia auftritt. Die
0078Arie, in welcher der König das Unglück seiner Tochter be-
0079klagt, ist dankbar für den Sänger, aber stark an italienische
0080Muster ausklingend, von geringer Originalität. Charakteristi-
0081scher erscheint unmittelbar darauf die Arie des Arztes in
0082ihrer wunderlichen Monotonie. Das etwas steife Pathos der
0083beiden Bassisten wird erfreulich abgelöst durch die kühn
0084eindringenden jungen Freunde Tristan und Robert, deren
0085Entzücken beim Anblick des herrlichen Gartens in reizenden
0086Orchester-Effecten ausklingt. Ritter Robert preist in einer
0087recht banalen Arie die Schönheit einer gewissen
0088Mathilde, die wir leider nicht zu sehen bekommen:
0089„Wer kann mit Mathilden sich messen an Macht, mit
0090ihres schwarzblickenden Augenpaars Pracht?“ Von der
0091schrecklichen „Umdichtung“ des Originals durch Herrn Hans
0092Schmidt geben wir aufs Gerathewohl noch zwei weitere
0093Proben. Jolanthe singt: „O, um zu retten ihn, will gerne
0094ich ertragen Alles, denn mir werth ist er.“ Worauf der König 
0095die großartige Entscheidung fällt: „So sei sie dein, mein
0096Sohn, denn!“


0097Der Ritter Tristan (das ist nämlich „mein Sohn
0098denn“) hat die schlafende Jolanthe erweckt. Nach einer stür-
0099mischen Liebeserklärung entdeckt er allmälig, daß Jolanthe 
0100blind ist. Durch seine Fragen wird die bisher Ahnungslose [2]
0101zum erstenmale ihres Gebrechens inne. In dem ermüdend
0102langen Duett der Beiden leuchten einige feine Wendungen
0103auf; wo aber die Melodie endlich in festem, breitem Bett
0104sich zu sammeln beginnt („Ist des Schöpfers erstes Werk“),
0105verfällt sie der gewöhnlichen Opernphrase. Und doch steht
0106die Scene hier auf ihrem Höhepunkt, wie der Componist
0107durch eine spätere Wiederholung des Themas bekräftigt. Wo
0108aber die Kraft der originellen Melodie fehlt, da helfen alle Harfen
0109der Welt nichts. Der König mit dem Arzte und den
0110Dienerinnen Jolanthe’s eilen herbei, erschreckt über die
0111Anwesenheit eines Fremden. Ein breiter, allmälig sich
0112steigender Ensemblesatz („Er sprach zu mir vom Strahl der
0113Sonne“) legt sich beruhigend auf die Erschütterung der
0114Anwesenden. Dann fleht Jolanthe in einem leidenschaft-
0115lichen Allegro um Gnade für Tristan. Der Arzt entfernt
0116sich mit Jolanthe, um ihre Heilung zu versuchen. Nach sehr
0117kurzer Zeit kehren sie zurück; ein jubelnder Ausruf des
0118Chors „Jolanthe sieht das Licht!“ begrüßt die glücklich
0119Errettete. Eine große dramatische Scene Jolanthe’s, welche
0120allmälig ihre Umgebung erkennt, gipfelt in ihrem Gebet
0121„O Herr zu dir!“, worauf ein kurzer Dank- und Preis-
0122chor die Oper beschließt.


0123Das Publicum folgte der Oper sehr aufmerksam, mit
0124mehr Andacht als Begeisterung. Das liegt in der Natur
0125dieser Musik. Weder Meisterwerk noch Effectstück, wol aber
0126sorgfältige Arbeit eines vornehmen Künstlers. Die ersten
0127Scenen mit den Mädchenchören, zahlreiche Feinheiten im
0128Dialog, vor Allem die Reize der charakteristischen Instru-
0129mentirung konnten von unserm Publicum nicht übersehen,
0130nicht unterschätzt werden. Der Erfolg von „Eugen Onegin“
0131hat der Wiener Hofoper das Recht, wol auch die Pflicht
0132gegeben, dem russischen Componisten nochmals ihre Pforten
0133zu öffnen. Tschaikowsky hat kaum ein halbes Dutzend Opern
0134geschrieben; sehr wenig, wenn man seine enorme Fruchtbar-
0135keit auf dem Gebiete der Symphonie, der Kammermusik,
0136des Liedes und des Clavierstückes dagegen hält. Für die Auf-
0137führung der „Jolanthe“ sprach der Vorgang anderer deutscher
0138Bühnen und die frühere Beliebtheit der Hertz’schen Dichtung. Zwei 
0139große Opern: „Der Opritschnik“ (nach einer Tragödie 
0140von Lajetschnikow) und „Wakula, der Schmied“ (nach
0141einem Märchen von Gogol) haben selbst in Petersburg nur
0142ein kurzes Leben gefristet; für deutsche Bühnen macht schon
0143ihr Stoff sie unmöglich. Auch eine Einbürgerung von Tschai-
0144kowsky’s „Pique-Dame“ auf deutschen Bühnen wird
0145durch das Textbuch sehr erschwert. Der Stoff, einer sehr
0146wunderlichen Novelle von Puschkin entnommen, ist durch
0147die Opern-Bearbeitung noch unverständlicher und gewaltsamer
0148geworden. Das ist sehr zu bedauern, denn die Musik zur
0149Pique-Dame“ enthält große Schönheiten und ungleich mehr
0150dramatisches Leben, als Jolanthe.*) Was von den hier
0155noch unbekannten Bühnenwerken Tschaikowsky’s die meiste
0156Aussicht auf Erfolg hätte, das sind seine Ballette:
0157Nußknacker“, „Der Schwanensee“ und vor Allem das
0158reizvolle, graziöse Tanzmärchen „Dornröschen“.


0159Die Wiener Aufführung und Ausstattung der neuen Oper
0160verdient das wärmste Lob. Fräulein Selma Kurz besitzt
0161für die Jolanthe die richtige Gestalt, Stimme und Vor-
0162tragsweise. Das nicht leichte schauspielerische Problem, die
0163Blindheit des Mädchens unverkennbar anzudeuten, ohne sie
0164störend vorzudrängen, löst sie mit feinem Verständniß.
0165Fräulein Kurz wird vortrefflich unterstützt von den Herren
0166Naval (Tristan), Demuth (Robert), Neidl (Ebn-
0167Jahia) und Hesch (König René). Nur allzu gebrechlich
0168und greisenhaft wollte uns Letzterer erscheinen in Maske
0169und Bewegung. Wenn man so aussieht, hat man schwerlich
0170ein sechzehnjähriges Töchterlein und geht auch nicht mehr
0171auf die Jagd. Die kleineren Frauenrollen, welche in dem
0172Ensemble der ersten Scenen tüchtige musikalische Sicherheit
0173erfordern, werden von den Damen Rellé, Pohlner 
0174und Kusmitsch tadellos durchgeführt. Dem vom Director
0175Mahler geleiteten Orchester bot die Tschaikowsky’sche
0176Partitur eine lohnende, hier glänzend gelöste Aufgabe.

Fußnoten
  • *)Ein Vierteljahrhundert vor Tschaikowsky hat Halévy den-
    selben, von Scribe bearbeiteten Stoff componirt für die Pariser
    Komische Oper. „La Dame de pique“ hatte jedoch keinen
    Erfolg und verschwand nach wenigen Aufführungen.