Wörter einzeln suchen

Neue Freie Presse
Morgenblatt
Nr. 12994. Wien, Mittwoch, den 5. September 1900

[1]

Ein neues Buch von Saint-Saëns.


0002Ed. H. Unter dem Titel „Portraits et Sou-
0003venirs
“ veröffentlicht soeben Camille Saint-Saëns eine
0004neue Sammlung seiner musikalischen Feuilletons. Willkommen
0005jedes Buch, worin ein erfahrener geistreicher Componist seine
0006Ansichten über Musik und Musiker entwickelt. Wer könnte
0007uns besser einführen in Werth und Eigenart der Compo-
0008sitionen, insbesondere seines Vaterlandes und seiner Zeit?
0009Wenn nur im Kritiker-Componisten die beiden Hälften nicht
0010so schwer zu trennen wären! Der selbstschaffende Künstler
0011geräth beim Kritisiren nur zu oft in eine Verlegenheit, die
0012uns Andere nicht behelligt. Wird der Componist einer
0013erfolgreichen Oper oder Symphonie einen ganz aufrichtigen
0014Lobredner in einem Collegen finden, von dem Tags zuvor
0015eine Oper oder Symphonie durchgefallen ist? Oder hat ein
0016mittelmäßiger Componist unbarmherzigen Tadel zu fürchten
0017von seinem kritisirenden Collegen? Die Pariser Kritiker haben,
0018so weit meine Kenntniß reicht, fast immer die echt französische
0019Tugend der Höflichkeit als oberste Pflicht empfunden. Damit
0020machen sie sich das Kritisiren leicht und angenehm — auch
0021leicht und angenehm dem Kritisirten. Es ist dies weniger
0022persönlich Milde als nationales Gewohnheitsrecht. Hector
0023Berlioz, der Mann mit der Tendenz und dem Charakter-
0024kopf eines Revolutionärs, hat als ständiger Kritiker des
0025Journal des Débats“ Compositionen, die ihm doch per-
0026sönlich langweilig oder widerwärtig waren, erstaunlich milde
0027besprochen. „Glauben Sie kein Wort von dem, was ich
0028Lobendes über die neue Oper des N. N. geschrieben!“
0029beschwört er seinen Freund H. Ferrand. Die Schönfärberei
0030galt — wenigstens bis vor Kurzem — als eine nationale
0031Institution der Pariser Musikkritik. „Wie konnten Sie,“
0032fragte ich einst einen berühmten Pariser Kritiker, „so liebens-
0033würdig über die gestrige elende Leistung des Tenoristen N. N.
0034schreiben?“ — „Mais, il n’était pas tout-à-fait sans mé-
0035rite,“ lautete die Antwort. — „Aber was werden Sie thun, 
0036wenn er nächstens noch abscheulicher singt und spielt?“ — „Alors,
0037on se fait,“ lautete die Antwort. Dieses „Dann schweigt man“
0038war die letzte Ausflucht — liebenswürdig, aber nicht un-
0039bedenklich. In neuester Zeit scheint sich Paris doch allmälig
0040von dieser nationalen Schmeichel- und Heuchelkritik
0041zu emancipiren, und ich konnte in meinem Bericht über die
0042Wiener Orchesterconcerte der Herren d’Olonne und Anderer
0043mit großer Genugthuung die sehr ungeschminkten Urtheile
0044zweier Pariser Kritiker ersten Ranges, A. Pouget und
0045O. Fouque, über ihre jungen Landsleute citiren. Das sind
0046freilich Kritiker, die nicht selbst componiren. Wie aber sollen
0047sich z. B. die Herren E. Reyer, Bruneau, Joncières heraus-
0048helfen in ihren Besprechungen der distonirenden Sängerin
0049A. oder des stimmlosen Tenors B., welche eben die Haupt-
0050partien in einer neuen Oper von Reyer, Bruneau oder
0051Joncières studiren? Sie darf man doch um Himmelswillen
0052nicht reizen!


0053Saint-Saëns, in seiner Doppelstellung als Componist
0054und Kritiker, befindet sich nicht in dieser Zwangslage. Er
0055kritisirt nicht regelmäßig, sondern nur, wann und was ihm
0056beliebt. Also über keinen Componisten und keine Composi-
0057tion, die er mit gutem Gewissen tadeln müßte. Keineswegs
0058verhehlt er deßhalb seine Antipathie gegen die neueste
0059Wagner’sche Schule im Allgemeinen. Im Vorwort erinnert
0060er an sein früheres „Harmonie et Melodie“ betiteltes Buch.
0061„Sollte man nicht glauben,“ ruft er aus, „daß seitdem ein
0062Jahrhundert verflossen sei? Harmonie bedeutete da-
0063mals Wissenschaft, Melodie Inspiration. Die Situation
0064hat sich umgekehrt: Dilettanten, welche die geringste An-
0065strengung scheuen, um eine Musik zu verstehen, äußern jetzt
0066eine Leidenschaft für das Dunkle und Unverständliche. Wenn
0067ich ein Stück verstehe, sagen sie, so ist es schlecht; wenn
0068ich es nicht verstehe, ist es gut. Sie sind empört, sobald
0069die Instrumente im Orchester nicht wie vergiftete Ratten
0070von allen Seiten gegen einander laufen; ein einfaches, natür-
0071liches Accompagnement begleiten sie mit verächtlichem Achsel-
0072zucken. Die Melodie, ehedem vergöttert, wird heute verachtet,
0073und von Compositionen, welchen sie fehlt, behauptet man, sie
0074sei darin „überall“. Welche Narrheit! Glücklicherweise ist
0075das große Publicum naiv geblieben und kümmert sich wenig
0076um Systeme, wenn man es nur zu interessiren weiß.“


0077In dem neuen Bande von Saint-Saëns finden wir
0078weniger Polemik als in dem früheren. Hauptsächlich Er-
0079innerungen an einige ihm befreundete große Musiker und
0080ein wenig allgemeine Kunstbetrachtung. Den Reigen der
0081„Porträts“ eröffnet Berlioz, „dieses menschgewordene
0082Paradoxon“. Ein Vorzug, den selbst seine heftigsten Gegner
0083nicht anzutasten wagten, ist der Glanz und die Farbenpracht
0084von Berlioz’ Instrumentation. Wenn hie und da sein Styl
0085dunkel erscheint, sein Orchester ist es niemals. Es über-
0086fluthet von Licht. Da leitete ihn ein geheimnisvoller Instinct;
0087seine Methode können wir und konnte er selbst nicht er-
0088klären. In seinem berühmten „Traité de l’instrumentation“
0089mischen sich in die leuchtendsten Wahrheiten und kostbarsten
0090Lehren mitunter bedenkliche Paradoxa (zum Beispiel „die
0091Clarinette ist ungeeignet für idyllischen Ausdruck“). Berlioz’
0092Buch ist bei aller Bizarrerie wundervoll wie seine
0093ganze Orchestrirung. Es hat eine ganze Generation
0094herangebildet. Genial und paradox zugleich ist unter Berlioz’
0095Compositionen vor Allem seine Romeo-Symphonie. Der
0096Plan ist unerhört; nicht lyrisch, nicht dramatisch, nicht
0097symphonisch — ein wenig von Allem. Dafür gab es nur
0098Eine Entschuldigung: ein Meisterwerk zu schaffen, und das
0099hat Berlioz gethan. Sein widerspruchsvoller Geist spukt
0100auch in seiner Kritik. Trotz einzelner unbegreiflicher Urtheile
0101bleibt Berlioz der erste musikalische Kritiker seiner Epoche.
0102Und dennoch fehlte ihm die Grundlage der Kritik: die
0103Kenntniß der Musikgeschichte. Für Berlioz, den Kritiker, war
0104nichts entscheidend als die Befriedigung oder die Langweile,
0105so er beim Anhören eines Musikstückes empfand.
0106Die Vergangenheit existirte für ihn nicht. Zwei Dinge
0107machten ihn trostlos: die Feindseligkeit der Großen Oper,
0108welche seinen „Trojanern“ den „Romeo“ von Bellini vorzog,
0109und die Gleichgiltigkeit der Conservatoriums-Concerte gegen
0110seine Werke. Die Gunst des Publicums errang Berlioz erst
0111am Ausgang seines Lebens, und zwar durch die naiv-ein-
0112fache Cantate „L’enfance du Christ“. Ganz mit Unrecht
0113hat man Berlioz häufig für boshaft gehalten; er war im
0114Gegentheil gut bis zur Schwachheit, dankbar für das kleinste
0115Zeichen von Theilnahme. Woher stammte die Fabel von
0116Berlioz’ Bosheit? Saint-Saëns antwortet mit einer bisher
0117unbekannten merkwürdigen Enthüllung. Man hatte Berlioz [2]
0118mit unversöhnlichem Haß verfolgt wegen eines im „Journal
0119des Débats“ anonym erschienenen Artikels über Halévy.
0120Nach Berlioz’ Tod nannte sich J. Janin selbst als den
0121Verfasser jenes Aufsatzes. Er hätte es füglich früher thun
0122können.


0123Franz Liszt und Anton Rubinstein bilden den
0124Inhalt der folgenden Studien. Saint-Saëns liebt und be-
0125wundert diese beiden Künstler, die bei aller inneren Ver-
0126schiedenheit doch dasselbe Schicksal theilten, mit ihren Ton-
0127dichtungen weniger Ruhm zu ernten als mit ihrem Clavier-
0128spiel. Beide mußten die Strafe ihrer außerordentlichen per-
0129sönlichen Triumphe tragen. Wenn Saint-Saëns in Liszt 
0130und Rubinstein die unwiderstehlichsten aller Clavier-Virtuosen
0131erblickt, so wird wol Niemand ihm widersprechen. In der
0132Verherrlichung von Liszt’s Compositionen greift er hingegen
0133zu hoch. Mit Saint-Saëns rühmen wir Liszt’s außer-
0134ordentliche Instrumentirungskunst, können ihm aber nicht
0135folgen in der Bewunderung des „Melodienreichthum,
0136der Liszt’s Compositionen mit verschwenderischer Ueppigkeit
0137durchströmt“. Zum Schluß erwähnt Saint-Saëns selbst,
0138wie oft man ihm seine Schwäche für Liszt’sche Musik vor-
0139geworfen habe, und bekennt, daß er wirklich nie ohne einige
0140Besorgniß über Liszt schreibe. Allein die ersten „Symphoni-
0141schen Dichtungen“ hatten ihn nicht blos entzückt, sondern ihm
0142zugleich den Weg gewiesen zu seinen eigenen so erfolgreichen
0143Versuchen in derselben Richtung: „La danse macabre“ und
0144Le rouet d’Omphale.“


0145Neben Liszt, dem Adler, glich Rubinstein dem Löwen.
0146Man brauchte nur sein grimmig mächtiges Haupt zu be-
0147trachten und seine breiten, sammtweichen Tatzen. Merk-
0148würdig war sein erstes Auftreten in Paris. Kein Mensch
0149wußte damals von ihm, und Rubinstein hatte die wag-
0150halsige Koketterie, ein Concert anzuzeigen, ohne die Unter-
0151stützung der Presse anzusuchen, und ohne mit einer Zeile
0152sein Auftreten anzukündigen. Natürlich erschien kein einziger
0153zahlender Zuhörer im Saale. Aber am nächsten Tag war
0154Rubinstein berühmt und sein zweites Concert überfüllt. Mit
0155Saint-Saëns schloß er bald innige Freundschaft. Die Beiden
0156musicirten leidenschaftlich zusammen, einfach um zu musiciren,
0157und sie bekamen nie genug. In einigen Concerten Rubin-
0158stein’s dirigirte Saint-Saëns das Orchester, ein andermal
0159spielte dieser sein neuestes Clavierconcert, während Rubin-
0160stein seinerseits den Tactstock führte. Rubinstein’s stärkster
0161Ehrgeiz, als Operncomponist zu wirken, blieb in Paris un-
0162erfüllt. Sein Oratorium „Der Thurm von Babel“ fiel,
0163elend aufgeführt, vollständig durch. Wenn Saint Saëns 
0164unter Rubinstein’s Opern den „Feramors“ entschieden be-
0165vorzugt, unter den Oratorien den „Thurm von Babel“, so
0166erinnert er mich an meine ganz übereinstimmenden Be-
0167urtheilungen aus viel früherer Zeit.


0168So warm Saint-Saëns von Liszt und Rubinstein auch
0169spricht, seinem Herzen am nächsten steht doch Gounod.
0170Ihm widmet er den ausführlichsten seiner Essays. Die
0171Stunde sei eigentlich noch nicht gekommen, meint er, für
0172die volle Würdigung dieses großen Tondichters, auf den
0173Frankreich später stolz sein werde. Die Zeit habe diesen an-
0174scheinend so einfachen, durchaus eigenartigen Componisten
0175noch nicht an seinen rechten Platz gestellt. Anfangs ward er
0176für einen Widerschein der alten Meister angesehen, bald der
0177italienischen, bald der deutschen Schule zugeschrieben, während
0178er thatsächlich kein anderes Vorbild gehabt, als sich selbst.
0179In Gounod, dem Künstler, walten zwei Naturen: die christ-
0180liche und die heidnische, der Zögling des katholischen Priester-
0181seminars und der Pensionär der Akademie in Rom, der
0182Apostel und der Troubadour. Manchmal, wie im „Faust“,
0183streben diese beiden Naturen energisch gegen einander,
0184manchmal gehen sie neben einander, wie in „Polyeuct“, zum
0185Schaden beider Theile. Die Ulysses-Chöre, Sappho, Phile-
0186mon und Baucis zeigen uns den unverfälschten Heiden, die
0187Oratorien und Messen den christlichen Mystiker.


0188Als Gounod nach einem (für die Kunst segensreichen)
0189Schiffbruch als Priester sich für die musikalische Laufbahn
0190entschied, war diese bereis ziemlich aussichtslos geworden.
0191Die einzigen großen Concerte, die des Conservatoriums,
0192blieben unzugänglich für neue Componisten; am ehesten
0193hoffte Gounod bei der Komischen Oper anzukommen. Zu
0194dieser Zeit hatte der zwölfjährige Saint-Saëns das Glück,
0195bei seinem Verwandten, dem in Paris gefeierten Homöo-
0196pathen Hoffmann, die Bekanntschaft Gounod’s zu machen.
0197Er fand in einer dieser Soiréen den 25jährigen Gounod 
0198umringt von einer Schaar anmuthiger Frauen, Clientinnen
0199des Doctors und leidenschaftlichen Verehrerinnen des Musikers.
0200Gounod sang in diesem Kreise Fragmente aus seiner kürzlich
0201begonnenen komischen Oper. In diesem schüchternen Ver-
0202suche gewahrte man bereits die Keime seiner Individualität:
0203die Sorge für die Reinheit des Styls und die Wahrheit
0204des Ausdrucks; Eigenschaften, die er später so schön ent-
0205wickelt hat. Der junge Componist erregte die Aufmerksamkeit
0206der Viardot, welche ihm von Augier das Gedicht „Sappho“
0207verschaffte und damit die Pforten der Großen Oper er-
0208öffnete. Seinen Lehrern am Conservatorium, dem nüchternen
0209Reicher und dem wunderlichen Mystiker Lesneur,
0210hatte Gounod nicht viel zu verdanken. Entscheidend
0211für die Richtung seines Talents waren das Priester-
0212seminar, wo er die Kunst der Rede, der klaren
0213schönen Diction gelernt, und der Salon der Viardot; nicht
0214zu vergessen die Mitgift einer zwar begrenzten, aber klang-
0215vollen Tenorstimme, mit welcher ihn die Natur ausgestattet.
0216Wäre der Ausspruch C. Bellaigue’s richtig, der Ausdruck 
0217sei die erste und wesentlichste Eigenschaft der Musik, so
0218könnte nach Saint-Saëns’ Meinung keine Musik sich mit
0219der Gounod’s messen. Das Streben nach Ausdruck be-
0220herrschte ihn überall; darum so wenig Noten in seiner
0221Musik, so wenig überflüssiger Zierrath. Jede Note singt.
0222Daher auch Gounod’s geringe Eignung für rein instrumen-
0223tale Musik. Trotz großer, echter Schönheiten haben „Sappho“
0224und „Ulysses“ keinen Erfolg errungen: für das große
0225Publicum schien die Zukunft Gounod’s zweifelhaft, nicht so
0226für die Kenner. „Ich glaube, Sie werden niemals
0227etwas Schöneres schreiben!“ rief der entzückte Saint-
0228Saëns aus. „Vielleicht doch,“ meinte Gounod mit
0229einem Lächeln, in welchem schon etwas von dem künftigen
0230Faust“ leuchtete. Vorher hatte er noch das Unglück oder
0231die Unvorsichtigkeit, Germain Delavigne’s Operntext „La
0232nonne sanglante“ für die Große Oper zu componiren.
0233Bereits hatten Meyerbeer und Halévy, einen
0234Augenblick verführt von dieser Dichtung, sie wieder zurück-
0235gelegt, desgleichen Berlioz, welcher schon zwei Acte davon
0236componirt hatte. „Die blutende Nonne“ Gounod’s erlebte
0237nur zwölf Aufführungen. Mit gespannter Neugierde hatte
0238man da Werk erwartet. Wenn es keinen Erfolg erringt,
0239hieß es, so ist Gounod verloren. Das war allerdings nicht
0240der Fall, aber sein Horizont verfinsterte sich. Er erstrahlte
0241bald in doppeltem Glanze: „Faust“!


0242Noch ist eine kleine Arbeit Gounod’s zu erwähnen, so
0243wenig Werth er selbst darauf legte: seine berühmte Trans[3]-
0244scription des C-dur-Präludiums aus dem „Wohltemperirten
0245Clavier“ von S. Bach. Anfangs, als Saint-Saëns das
0246Stück zum erstenmale hörte, war kaum zu vermuthen, was
0247es unter dem verderblichen Einfluß des Erfolges bald werden
0248sollte. Man setzte zu der vom Clavier begleiteten Violin-
0249stimme ein Harmonium, der Geiger steigerte die fromme
0250Begleitung zur Hysterie; dann wuchs die Instrumentalpartie
0251noch convulsivischer empor, wurde zum Gesangstück. Für die
0252Damen wurde es Mode, nach dem zweiten Crescendo in
0253Ohnmacht zu fallen. Man ging noch immer weiter, ver-
0254mehrte die Zahl der Ausführenden, fügte ein Orchester dazu
0255mit großer Trommel und Becken! Der himmlische Frosch
0256blähte sich auf, schwoll immer mehr und mehr, platzte aber
0257nicht, sondern wurde dicker als ein Ochse. Das Publicum
0258raste entzückt vor diesem Ungethüm, das jedoch die unschätz-
0259bare Wirkung übte, für immer das Eis zu brechen zwischen
0260dem Componisten und dem bislang mißtrauisch zögernden
0261Publicum.


0262Die über ganz Europa sich schnell verbreitenden Er-
0263folge von „Faust“ und „Romeo“ sind bekannt. Außer einigen
0264Zwischenfällen bei den Proben erzählt uns Saint-Saëns 
0265nichts Neues darüber. Mit Gounod’s letzter Oper „Polyeuct“
0266schloß seine Laufbahn in nicht glücklicher Weise. Als Saint-
0267Saëns zuerst den Chor der Heiden und die darauffolgende
0268Barcarole hörte, sagte er zu Gounod: „Aber, wenn Sie
0269das Heidenthum so verführerisch darstellen, welche Figur
0270wird dann das Christenthum spielen?“ Ja, entgegnete
0271Gounod, ich kann jenem doch nicht seine Waffen rauben!
0272Saint-Saëns’ Besorgniß erfüllte sich; die Heiden siegten
0273bei der Aufführung über die Christen, welche langweilig er-
0274schienen. Die furchtbarsten Verbrechen interessiren auf der
0275Bühne, nicht so die göttliche Liebe.


0276Den geistlichen Compositionen Gounod’s widmet Saint-
0277Saëns eine eingehende, begeisterte Schilderung. Sie schließt
0278mit dem befremdenden Ausspruch: „Wenn die Opern
0279Gounod’s für immer im Staub der Bibliotheken vermodert
0280sind, werden seine Messen und Oratorien noch aufrecht
0281stehen und künftigen Generationen die Größe Gounod’s
0282offenbaren.“ Ich möchte eher das Gegentheil glauben. Neben
0283den zweifellos sterblichen Opern Gounod’s erscheinen mir
0284seine geistlichen Musiken heute schon rettungslos verstorben.