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Neue Freie Presse
Morgenblatt
Nr. 12974. Wien, Samstag, den 6. October 1900

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Hofoperntheater.

(„Cosi fan tutte“ [So machen es Alle] von Mozart.)


0003Ed. H. Ausnahmsweise will heute das Unterste zu
0004oberst gekehrt sein: zuerst die Ausstattung und die Coulissen-
0005Mechanik, sodann die Sänger und zuletzt die Oper selbst.
0006Denn was die Neugierde des Publicums am meisten gereizt
0007hat bei der gestrigen Aufführung der Mozart’schen Oper,
0008das ist die sogenannte „Drehbühne“, eine Erfindung des
0009ingeniösen Herrn Lautenschläger in München. Durch eine
0010Drehung des Bühnenhintergrundes im Halbkreis soll das
0011Verschieben oder Herabsenken der Coulissen beim Scenen-
0012wechsel vermieden und eine größere Ruhe und Einheit der
0013Handlung erzielt werden. Wir hatten anfangs allzu san-
0014guinisch uns die „Drehbühne“ als ein Rettungsmittel für jene
0015großen Schauspiele mit häufigem Scenenwechsel gedacht, welche,
0016wie „Götz von Berlichingen“ oder die meisten Shakespeare-Stücke,
0017in der Praxis erst bühnenfähig werden durch Umstellung und Weg-
0018lassung zahlreicher Scenen. Desgleichen für jene großen Opern,
0019deren veraltete zweiactige Form in jedem Act häufigen Scenen-
0020wechsel nothwendig macht, wie Don Juan, Die Zauber-
0021flöte. Thatsächlich bleibt aber die „Drehbühne“ gerade der
0022kleinen Spieloper vorbehalten, welche doch keine großen Zu-
0023rüstungen beansprucht. In der gestrigen Aufführung der
0024neuscenirten Mozart’schen Oper hat das moderne Wunder
0025sich als zweckmäßig bewährt und tadellos functionirt; ob es
0026nothwendig gewesen für diese Oper, wagen wir nicht zu
0027entscheiden.


0028Fahren wir fort in unserem Bericht. Also nach den
0029Coulissen die Sänger, nach den leblosen Factoren die 
0030lebendigen. Auch hier dieselbe umgekehrte Ordnung; die
0031kleinste der Solopartien will zuerst genannt sein:
0032das Kammermädchen Despina. Ehemals haben die
0033Charton-Demeur, dann Minnie Hauck, zuletzt
0034und ganz besonders Pauline Lucca die musikalisch
0035karg bedachte Rolle zum überstrahlenden Lichtpunkt der
0036ganzen Vorstellung gemacht. Jetzt sehen wir Frau Gut-
0037heil-Schoder
ihnen mit Erfolg nacheifern. Es war mir
0038nicht vergönnt, dem Gastspiel dieser Sängerin im Frühjahr
0039beizuwohnen; aber die erfreuliche Einstimmigkeit der Wiener
0040Kritik über das große Talent dieser bisher kaum dem
0041Namen nach bekannten Sängerin erregten meine erwartungs-
0042frohe Neugierde. Freilich, die impetuose dramatische Kraft,
0043welche ihrer Carmen und Nedda nachgerühmt ward, konnte
0044in der Despina kaum durchschimmern; um so rühmlicher
0045ihre Kunst, diese so ganz heterogene Aufgabe zu meistern.
0046Sie singt und spielt die Rolle mit entzückender Laune
0047und Gewandtheit, nur vielleicht gar zu unruhig und
0048überladen mit Detail. Wie leicht und rasch lösen sich
0049ihr die langen, redseligen Recitative vom Munde,
0050diese Pein für die meisten deutschen Sängerinnen!
0051Die beiden schnell verzweifelnden und schnell getrösteten
0052Schwestern fanden in Frau Saville und Frau Hilger-
0053mann
vorzüglich geschulte Sängerinnen. Insbesondere Frau
0054Saville glänzte in der Rolle der Fiordiligi, die im anspruchs-
0055vollsten Bravourstyl einen Umfang von zwei Octaven und
0056einer Terz umspannt. In den beiden Liebhaber-Rollen
0057Fernando und Guglielmo erfreuen uns die Herren Naval 
0058und Demuth als Sänger und Schauspieler. Der Spötter
0059Alfonso, der Einzige, welcher neben Despina etwas belebenden
0060Sauerteig in die sentimentale Lyrik der beiden Liebespaare
0061mischt, gewann durch Herrn Hesch’s discrete Komik.
0062Die Darsteller schienen für einander wie geschaffen;
0063das Werk will nirgends tief, es will überall
0064frisch genommen sein, und so geschah es. Alles Lob
0065gebührt dem von Director Mahler geleiteten, echt künstle-
0066risch dem Gesang sich unterordnenden Orchester. Alter
0067Tradition getreu und im Interesse des raschen Flusses der
0068Handlung begleitet Director Mahler die Secco-Recitative
0069auf dem Clavier; die vom Orchester accompagnirten Ge-
0070sangsstücke hoben sich um so farbiger von dieser leichten Grun-
0071dirung ab.


0072Die Oper erzielte in ihrer neuen Ausstattung und
0073Besetzung den glänzendsten Erfolg. Im Publicum herrschte
0074jene glücklich zufriedene Stimmung, die sich selbst genügt;
0075nicht denkt, nicht grübelt, nicht zweifelt. Hoffen wir, daß
0076das von Mahler so wirksam erneuerte Werk mehr Wieder-
0077holungen erleben werde, als in früheren Jahrzehnten.


0078Vor etwa 30 Jahren berührte ich in diesem Blatte
0079die zeitweilig immer wieder in Musikzeitungen auftauchende
0080Frage: Warum gibt man nicht mehr „Cosi fan tutte“?
0081Alle zehn oder fünfzehn Jahre fühlen denn auch die Opern-
0082Directionen ein classisch Rühren und wagen wieder einmal
0083den Versuch mit der Weibertreue. Bei der ersten Vor-
0084stellung geht Alles gut; es wird applaudirt, gerufen, gelobt,
0085und im Zwischenacte versichert ein Nachbar den andern
0086seines Entzückens über diese herrliche Musik. Aber selten
0087geschieht es, daß einer dieser Lobredner das Bedürfniß fühlt,
0088sich „Cosi san tutte“ ein zweites- oder gar drittesmal an-
0089zuhören. Nach wenigen Vorstellungen spielt dann die Oper
0090vor leeren Bänken. Wir sind schuld, oder die Zeit ist es,
0091daß viele, ehedem wirksame Partien in „Cosi fan tutte“
0092uns heute veraltet und formalistisch klingen. Aber eine
0093andere tiefliegende Schuld ruht in dem Werke selbst und
0094wurde gleich bei dessen Erscheinen, also vor 110 Jahren,
0095aufs bestimmteste empfunden und ausgesprochen. In
0096der That, gibt es einen dürftigeren Stoff für eine
0097den Abend füllende Oper, als die Wette zweier Offi-
0098ciere, die Treue ihrer Bräute verkleidet zu erproben? Gibt
0099es eine abgeschmacktere Zumuthung an den Köhlerglauben
0100der Zuschauer, als die fortdauernde Blindheit der beiden
0101Heldinnen, welche ihre Liebhaber, mit denen sie eine Viertel-
0102stunde zuvor noch gekost, nicht erkennen, ja ihr eigenes
0103Kammermädchen unter einer Allongeperrücke ohneweiters für
0104den Arzt, dann für den Notar halten? Da Ponte’s Original-
0105Libretto ist geistlos und impertinent, weil es den beiden
0106Männern gelingt, ihre Geliebten zu täuschen und binnen
0107wenigen Stunden treulos zu machen. Um dem abzuhelfen,
0108hat man später das Libretto dahin umgearbeitet, daß die
0109beiden Schwestern rechtzeitig die Falle entdecken und, um ihre
0110Liebhaber zu strafen, sich blos stellen, als ließen sie sich von
0111den Fremdlingen berücken. Diese (von L. Schneider in Berlin 
0112herrührende) Bearbeitung wurde früher auch in Wien 
0113benützt. Auf den ersten Blick bestechend, ist sie nichtsdesto[2]-
0114weniger verfehlt, weil sie zu der musikalischen Charakteristik
0115des zweiten Actes nicht paßt. Die Mädchen müssen jetzt nur
0116affectiren, nur zum Scheine äußern, was Mozart’s Musik
0117in vollem Ernste meint. Director Mahler hat wieder den
0118Originaltext in sein Recht eingesetzt. War nun Mozart auch
0119mehr als irgend Einer der Mann dazu, aus einer poetischen
0120Wüste einen musikalischen Garten zu zaubern, so ist doch die
0121Qualität des Librettos von unleugbarem Einfluß auf ihn
0122gewesen. Unstreitig hat in „Cosi fan tutte“ die gezwungene
0123Gemeinschaft mit dem Flachen, Unwitzigen und Herzlosen
0124der Dichtung seine musikalische Schöpferkraft und Schaffens-
0125lust beeinflußt und unter ihre normale Höhe herabgerückt.
0126Das betont doch selbst Otto Jahn in seiner classischen
0127Mozart-Biographie. Damit soll weder der vollendeten
0128Schönheit einzelner Nummern in dieser Oper etwas ge-
0129nommen werden, noch dem unvergleichlichen Hauch von An-
0130muth, der auf dem Ganzen ruht. Daß „Cosi fan tutte“
0131von einem Ende zum anderen von Wohllaut und Grazie
0132leuchtet, heißt nur mit anderen Worten sagen, daß sie
0133Mozartisch ist. Sie ist dies in vollem Sinne (wenngleich
0134nicht in der höchsten Steigerung) in den größeren Ensembles.
0135Namentlich das erste Finale ist ein Gebilde von Meister-
0136hand, reizend in der Melodie, bescheiden und geistreich in der
0137Begleitung, von treibender Lebendigkeit des Ausdrucks.
0138Das kleine Quintett in F-dur und das Terzett „Soave sia
0139il vente“ sind musikalische Blüthen von frühlingsmäßigem
0140Duft und Schmelz. Neben den größeren Ensembles
0141bilden die Arien und Duette den schwächeren
0142Theil; viele davon sind conventionelle, concertmäßige
0143Ausfüllung stereotyper Formen, sowol im pathetischen wie
0144im Buffostyl. Der Erfolg von „Cosi fan tutte“ wäre wol
0145heute noch gesichert, wenn der zweite Act sich nur auf der
0146Höhe des ersten erhielte. Leider fällt er dramatisch wie
0147musikalisch ab; wir erwarten nicht ohne Ungeduld den
0148Schluß. In mancher Hinsicht läßt sich von der Musik zu „Cosi
0149fan tutte“ behaupten, was von Cimarosa’s „Matrimonio
0150segreto“ gesagt wurde: daß sie gleichmäßig Alles in Rosen-
0151wasser taucht. Wie köstlich müßten die oben genannten
0152Gesangsstücke wirken, wenn sie von einer kräftig contrastirenden
0153Nachbarschaft sich abhüben! Das Textbuch nöthigt aber die
0154Musik, allzulange im Süßen, Weichlichen, anmuthig
0155Spielenden zu verweilen; für Gegenstücke der Kraft und
0156Größe hatte der Dichter in keiner Weise gesorgt.