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Neue Freie Presse
Morgenblatt
Nr. 13014. Wien, Donnerstag, den 15. November 1900

[1]

Hofoperntheater.

Der Bundschuh“, Oper in Einem Aufzug von Max Morold, Musik von Joseph Reiter.)


0003Ed. H. Keine Frage — die böse alte „Cavalleria“
0004bekommt jahraus jahrein noch immer Junge. Als sie vor
0005zehn Jahren preisgeschmückt über sämmtliche europäischen
0006Bühnen zog, wucherten unter ihren Tritten allerorten neue
0007winzige Musiktragödien. Zuerst natürlich im Lande des
0008Verismo: Italien schickte uns die Mala vita, Festa a
0009marina, Tilda, A basso porto, Santa Lucia, um nur
0010die bekanntesten zu nennen. Weit weniger entsprach die
0011neue Richtung dem französischen Geschmack; Massenet 
0012brachte ihr nur seine „Navarraise“ als einziges Opfer. Seit
0013einem Jahrhundert haben die Franzosen die einactige Oper
0014mit Vorliebe gepflegt, wohlgemerkt als idyllisches
0015oder kleinbürgerliches Lustspiel in der Opéra Comique.
0016Das ist der rechte Platz für diese bescheidene Form.
0017Der knappe Zuschnitt paßt nicht für die Tragödie,
0018deren Charaktere einer tieferen Motivirung bedürfen.
0019In Deutschland hingegen trieb das italienische Zweiglein
0020desto üppigere Blüthen. Thürmt man all diese musikalischen
0021Miniatur-Tragödien aufeinander: welch ein Haufen Un-
0022glück! Von „Mara“ und der „Rose von Pontevedra“ an-
0023gefangen bis zu den unzähligen, die, ohne nach Wien zu
0024gelangen, im deutschen Reich verdorben, gestorben sind!
0025Die bessere deutsche Schulung konnte es doch nicht mit der
0026Originalität und naturwüchsigen Energie der „Cavalleria“
0027aufnehmen. Das jüngste Enkelkind der letzteren haben wir
0028gestern kennen gelernt; den „Bundschuh“ von Joseph
0029Reiter.


0030Wie schon der Titel verräth, bringt uns die neue Oper
0031ein Stück deutschen Bauernkriegs aus dem sechzehnten Jahr-
0032hundert. Der Bundschuh war das Zeichen des Bauern-
0033standes in Deutschland, während der Stiefel zur adeligen Tracht
0034gehörte. Damals machten die Bauern den Bundschuh zu ihrem
0035Kriegs- und Wahrzeichen; theils trugen sie ihn als Feld-
0036zeichen vor sich her, theils abgebildet auf einer Fahne. Beim
0037Aufziehen des Vorhangs sehen wir bewaffnete Bauern,
0038trinkend, singend, kartenspielend auf dem Dorfplatz
0039versammelt. Ein Vagabund, Hofmeyer, wird gefesselt
0040hereingebracht. „Den Kerl, den haben wir ge-
0041fangen.“ „Wird gehangen!“ lautet der durch die
0042ganze Oper mit Vorliebe wiederholte Reim. Einer
0043der Bauernführer, Veit, nimmt sich jedoch des armen
0044Teufels an, von dessen Verschmitztheit er sich Nutzen ver-
0045spricht. Die Lieblingskraftworte des Textbuches: „Busch-
0046klepper, Strauchdieb, lumpige Schneiderseel’, Tölpel, Schuft,
0047Galgenstrick, Wicht, Gauch“, prasseln wie Hagel unaufhörlich
0048nieder. Bald bringen die Bauern einen zweiten, weit kost-
0049bareren Fang: das schöne Burgfräulein Ehrengard. Nun
0050tritt auch der Bauernführer und Held des Stückes, Hans
0051Fuchs, in Action. Bisher sahen wir ihn nur abseits unter
0052einem Baume sitzen, in die Bibel vertieft. „Die ganze Bibel 
0053hat er im Kopfe“, wie Meyerbeer’s Johann von Leyden,
0054sein Doppelgänger. Aus seiner wüsten Umgebung erhebt er
0055sich wie eine Lichtgestalt, ein Held voll Zartsinn und Edel-
0056muth. Der gefangenen Ehrengard löst er sofort die
0057Fesseln, zum Verdruß seiner empörten Anhänger, welche
0058gleich mit dem beliebten Hausmittel „Hängt sie, erschlagt 
0059sie!“ zur Hand sind; Hans läßt sich aber nicht irremachen.
0060In sanftem, „beinahe bittendem Tone“ erklärt er dem
0061Fräulein die Lehre Jesu; er fragt sie, ob sie den Bauern
0062die Bibel freigeben wolle und (was ihnen wahrscheinlich
0063wichtiger) auch „Wasser und Wald, Weid’ und Haid’, Jagd
0064und Fischerei“? Ehrengard wehrt mit muthiger Entschlossen-
0065heit alle diese Zumuthungen ab. „Du zartes Weib,“ er-
0066widert Hans, „wir wollen dich verschonen, du und die
0067Deinen sollen ruhig leben.“ Die empörten Bauern schreien
0068über Verrath, und schon streiten sich zwei der Heftigsten um
0069die Führerschaft. Hans und Ehrengard stehen inmitten der
0070drohend geschwungenen Aexte und Schwerter. Da tritt eine
0071neue Gestalt auf die Scene, die alte Mutter Ulrike; ein
0072Seitenstück zu den zwei berühmten unangenehmen Opern-
0073müttern Azucena und Fides, nur noch wilder und gefährlicher.
0074„Was zauderst du?“ herrscht sie ihren Sohn an, „gib das
0075Mädchen preis!“ Gern möchten die Burschen sofort zu-
0076greifen, benöthigte nicht der Textdichter noch eine Spanne
0077Zeit zu dem unerläßlichen Duett zwischen Hans und Ehren-
0078gard. Er läßt zu dem Zwecke ein furchtbares Gewitter auf-
0079steigen, das die Unholde von der Bühne verjagt. „Sag’, bist
0080du bös auf mich?“ lispelt mit komischer Naivetät die stolze
0081Ehrengard. Im Gegentheil, Hans ist gar nicht „bös auf
0082sie“, sondern sehr lieb. „Bleib’ unter uns,“ fleht er: „mit
0083christlichem Verstand beglücken wir das deutsche Land!“
0084— „Komm’ du mit mir,“ erwidert Ehrengard, „mit dir
0085will ich evangelisch leben!“ Hans ergreift ihre Hand und
0086würde wahrscheinlich ihr um den Hals fallen, wäre nicht
0087bereits für den versteckt lauschenden Bösewicht gesorgt, welcher
0088rasch die alte Ulrike herbeiführt. Es kommt zu einer heftigen
0089Scene zwischen ihr und Hans und den blutgierigen Bauern.
0090„Wir wollen sie rädern, spießen!“ Hans kommt ihnen zuvor;
0091er selbst ersticht ganz sanft und sachte Ehrengard, die er
0092nicht mehr retten kann. Das Strafgericht ist nicht fern. Ein
0093Vetter Ehrengard’s rückt mit einer starken Reiterschaar an,
0094die Bauern zu belagern und zu beschießen. Hans stürmt [2]
0095mit seinen Leuten muthig gegen den Feind. Er fällt der
0096Erste im Kampf und wird sterbend neben die todte Ehren-
0097gard gebettet.


0098Das Textbuch ist geschickt entworfen und mit wirk-
0099samen Scenen ausgestattet. Der „Verismus“ der Dichtung
0100sorgt dafür, daß es dem Componisten an packenden Ueber-
0101raschungen, Unthaten und Unglücksfällen nicht mangle, und
0102das ist’s ohne Zweifel, was Herr Joseph Reiter zunächst
0103gewünscht haben mag. Dieser Herr ist für den Kritiker keine
0104bequeme Bekanntschaft. Von einer kleinen Partei enthusia-
0105stisch gepriesen, blieb er gleichwol dem großen Publicum so
0106gut wie fremd. Unsere Liedertafeln und Männergesang-
0107Vereine waren bislang die einzigen Bewahrer und Ver-
0108künder von Reiter’s Ruhm. Eine engere Gemeinde, welche
0109politischer Parteifärbung nicht entbehrt, feiert ihn gern als
0110großes musikalisches Genie; strengere Kritik nennt ihn lieber
0111einen explosiven Dilettanten. Die Wahrheit liegt nicht ganz
0112in der Mitte. Talent muß man ihm gewiß zusprechen; ein
0113Talent freilich, das, nicht eminent schöpferisch, sich mehr
0114decorativ und colorirend bethätigt. Wer von einer Opern-
0115musik nur dramatischen Affect, gesteigerte Declamation und
0116Orchestertumult verlangt, wird beim „Bundschuh“ nicht leer
0117ausgehen; anders, wer bedeutende musikalische Gedanken in
0118stylvoller Fassung erwartet. Reiter gehört zur Wagner’schen
0119Schule; das versteht sich heute von selbst, gerade wie der
0120grüne Anstrich für unsere secessionistisch steifen Sessel und Tische.
0121Auch die sehr dürftige melodische Erfindung gehört zu den
0122Zeichen der Zeit, welche heute nur dem scharf und einseitig
0123Charakteristischen nachstrebt. Am gelungensten dünkt uns die
0124erste Hälfte der Oper. In den einleitenden Scenen, Bauern-
0125chor und Bauerntanz, malt der Componist so derb realistisch,
0126wie Aehnliches kaum noch in der Oper vorgekommen. Man
0127muß da seine Geschicklichkeit wie seinen Muth anerkennen.
0128Von guter Wirkung sind auch die zwei Strophenlieder des
0129Schneiders und des Läufers Hartmann. Originalität können
0130wir ihnen zwar nicht nachrühmen (Erinnerungen an Beck-
0131messer und den Lehrjungen David werden wach), aber es ist 
0132doch musikalisch geformter, derb natürlicher Gesang, wie
0133er den Personen und der Situation entspricht. Entschieden
0134schwächer scheint uns die durchaus sentimentale und pathetische
0135zweite Hälfte der Oper, welche die ganze Strenge des
0136„Musikdramas“ hervorkehrt. Hier beherrscht und unterjocht
0137der Declamator überall den Musiker. Der Dialog zwischen Hans 
0138und Ehrengard (ein in der Knospe verkümmertes Liebes-
0139duett) legt sich zwar anfangs beschwichtigend auf die Fieber-
0140hitze des unmittelbar Vorangegangenen; doch bleibt der
0141Componist uns hier das Beste schuldig. Lange Harfen-
0142Areggien, die sich ja dem nothleidenden Lyriker zur rechten
0143Zeit einstellen, tragen den nur allzu gewöhnlichen schwächlichen
0144Gesang der beiden Liebesleute. Mit dem plötzlichen
0145Dazwischentreten der alten Ulrike gewinnt wieder die
0146gewaltsamste Uebertreibung die Vorherrschaft — das
0147lärmt, pfeift und zischt, wie in einem Hexenkessel. Die kurze
0148kriegerische Schlußscene erlischt im Lärm.


0149Reiter’s unleugbares Talent ist, wie ich glaube, auf
0150falschem, gefährlichem Wege. Freilich, was mir als „falscher
0151Weg“ erscheint, mag für ihn und für Jeden, der musikalisch
0152erfindungsarm ist, der einzig richtige, einzig mögliche sein:
0153die resignirte Unterwerfung des selbstständig musikalischen
0154Schaffens unter die Herrschaft des Wortes und der bloßen
0155Stimmungsmalerei. Reiter’s Compositions-Methode hängt
0156sklavisch an dem späteren Wagner. Wer aber heute den Muth
0157hat, blindlings Wagner nachzufolgen, der müßte in Wagner-
0158schen Formeln Neues, Bedeutendes, Eigenes zu sagen wissen.
0159Das ist’s, was ich im „Bundschuh“ so sehr vermisse. Vor
0160lauter „dramatischer“ Ueberanstrengung kommt es zu keiner
0161ehrlichen, gesunden Musik. In der Ouvertüre, wo der Com-
0162ponist, an keine Textworte gebunden, ganz frei schaltet,
0163konnte er uns zeigen, ob ihm etwas musikalisch Selbst-
0164ständiges einfällt. Leider herrscht gerade in der Ouvertüre
0165eine trostlose Armuth der Erfindung; dem brutalen Lärm,
0166mit welchem das Stück auf uns hereinstürzt, folgt eine Art
0167Andante religioso, ebenso alltäglich und armselig wie das
0168vorangegangene Furioso. Wie stark Reiter auf die Geduld 
0169seiner Hörer sündigt, zeigt beispielsweise der Schluß dieses
0170Vorspieles, wo durch 50 Tacte (im Vierviertel-Tact „sehr
0171gemessen“) dieselbe Phrase mit geringen Aenderungen ab-
0172gehaspelt wird. Der größte Nachdruck ist auf die Instru-
0173mentirung gelegt; mit den Singstimmen darben wir, vom
0174Orchester werden wir überfüttert. Die alte Methode. Das
0175Orchester klingt dumpf, überall wo es nicht mit Donner
0176und Blitz wirthschaftet. Viel wirksamer sind die Chöre
0177behandelt; hier helfen dem Opern-Componisten seine Er-
0178fahrungen im „Männergesang-Verein“. Hingegen stellt er an
0179die Stimmen der drei Hauptpersonen wahrhaft mörderische
0180Zumuthungen. Sie können sich in dem einactigen „Bund-
0181schuh“ ausgiebiger ruiniren, als in einer Meyerbeer’schen
0182Oper.


0183Die Novität präsentirte sich dem Publicum in einer
0184wahrhaft bewunderungswürdigen Aufführung. Die drei
0185Hauptpartien fanden in Fräulein v. Mildenburg (Ehren-
0186gard), Frau Sedlmair (Ulrike) und Herrn Schmedes 
0187(Hans) treffliche Sänger und Darsteller. Jede dieser Rollen
0188ist schwierig und anstrengend, keine dankbar. Der Theater-
0189zettel zählte außerdem ein ziemlich großes Personal auf;
0190Rollen von kleinem Umfang und großer Verantwortlichkeit.
0191Sie wurden alle sorgfältig gegeben, insbesondere konnten die
0192Herren Breuer (Schneider), Grengg (Veit Weber)
0193und Stehmann (Hartmann) sich hervorthun. Herrn
0194Director Mahler gebührt das größte Lob nicht blos für
0195die brillante Leistung des Orchesters, sondern auch für das
0196reichbewegte, realistische Scenenbild. Auf den anhaltenden
0197Beifall am Schluß der Oper mußten die Sänger und die
0198Autoren Morold und Reiter wiederholt dankend er-
0199scheinen. Wir hoffen eine gute Wirkung dieses Erfolges auf
0200den Componisten, dessen Talent sich gewiß noch läutern und
0201vertiefen wird. Was den Dichter betrifft, dem die gute
0202oder bessere Hälfte des Beifalls zukommt, so wird
0203er sich gegen den Ansturm junger Opern-Componisten zu
0204wehren haben.