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Neue Freie Presse
Morgenblatt
Nr. 13087. Wien, Dienstag, den 29. Januar 1901

[1]

† Giuseppe Verdi.


0002Ein jeder Mensch, er sei auch wer er mag, /
0003Erlebt ein letztes Glück und einen letzten Tag. /


0004Ed. H. Des Dichters Spruch erwahrt sich auch an
0005Verdi. Sein letztes Glück (im Sinne von Triumph) erlebte
0006er am 15. April 1893 bei der Aufführung seiner Oper
0007Falstaff“ im Teatro Costanzi in Rom. Da sah ich den
0008achtzigjährigen Meister in der Hofloge wie einen Souverän
0009zwischen dem König Umberto und der Königin Margherita 
0010sitzend, von endlosem begeisterten Jubel des Volkes um-
0011braust. Alle Kehlen jauchzten, alle Herzen schlugen dem alten
0012Herrn entgegen, der nie ein anderes Gefühl als das inniger
0013Liebe, Verehrung und Dankbarkeit in seiner Nation erregt
0014hat. Als ich dann, seiner freundlichen Einladung folgend, ihn im
0015„Hôtel Quirinal“ besuchte, gedachte er flüchtig der so stillen
0016ärmlichen Jugendzeit, die ihn seine späteren Glückstage nimmer-
0017mehr hätte träumen lassen. Er stimmte mir zu, daß Dante’s
0018berühmtes Wort — es gebe keinen größeren Schmerz, als
0019im Elend sich verflossenen Glücks zu erinnern — auch um-
0020gekehrt zutreffe. Denn ein höheres Glücksgefühl durch-
0021strömt uns, wenn wir in vollem Sonnenschein an über-
0022standene dunkle Zeiten zurückdenken. Verdi ist aus dürftigen,
0023aussichtslos engen Verhältnissen langsam emporgekommen.
0024Am 9. October 1813 in dem kleinen Nest Roncole (des
0025ehemaligen Herzogthums Parma) geboren, konnte der junge
0026Giuseppe, Sohn eines Schankwirthes, lange nicht auf eine
0027Ausbildung seines früh aufkeimenden musikalischen Talentes 
0028hoffen. Es ist bekannt, wie er in dem benachbarten Städtchen
0029Busseto eine kleine Anstellung bei dem Liqueurfabrikanten
0030Barezzi und durch diesen ein Stipendium zur Fortsetzung
0031seiner Studien erhielt. Wie es dann seinen Gönnern gelang,
0032ihn nach Mailand zu bringen, wo er von Basily, dem
0033Director des berühmten Conservatoriums, als „talentlos“
0034zurückgewiesen wurde. Wie er endlich nach dem Durchfall
0035seiner komischen Oper „Un giorno di regno“ vollkommen
0036muthlos geworden, die Componistenlaufbahn für immer
0037aufgeben wollte, bis ihn endlich der Impressario Merelli 
0038bewog, den von Otto Nicolai verworfenen Operntext
0039Nabucco“ zu componiren. Mit der ersten Aufführung
0040dieser Oper in Mailand (1842) war sein Glück gemacht,
0041seine Laufbahn geebnet.


0042Durch „Nabucco“ (dem zum Courteau zugestutzten
0043biblischen Helden Nebukadnezar) ist Verdi zuerst in Wien 
0044bekannt worden, wo noch in den Vierziger-Jahren eine
0045regelmäßige italienische Opernsaison von drei Monaten be-
0046stand. Wenn man das damalige Wien als eine musikalisch
0047halbitalienische Stadt bezeichnet, so sagt man eigentlich nur
0048die Hälfte der Wahrheit. Die vormärzlichen Wiener haben auch
0049die schwächsten, mitunter durchgefallensten Opern Verdi’s fröh-
0050lich verdaut, Jugendwerke, welchen zeitlebens das ganze
0051Deutschland verschlossen blieb. Mit einer aus Schrecken und
0052Langweile gemischten Empfindung denken wir an die Abende
0053im Kärntnerthor-Theater zurück, wo Verdi’s „Nabucco“,
0054Attila“, „I due Foscari“, „I Lombardi alla prima crociata“
0055herrschten, neben drei musikalischen Travestien von Schiller’s
0056Räubern“ („I Masnadieri“) „Kabale und Liebe“ („Louisa
0057Miller“) und der „Jungfrau von Orleans“ („Giovanna
0058d’Arco“). Die beste, zugleich letzte Production aus Verdi’s
0059erster, bis zum „Rigoletto“ reichender Periode war
0060Ernani“ (1844); die einzige daraus, die auch außerhalb
0061Italiens sich ziemlich lange erhalten hat. Verdi’s Landsleute
0062hatten schon in seinen früheren Opern ein dem modernen
0063italienischen Volksgeist entsprechendes neues Element ge-
0064wittert, das den Deutschen weder auffiel noch zusagte.
0065Im „Ernani“, trat dieses Element zuerst greifbar
0066und ausgebildet hervor; eine im Vergleiche zu Bellini,
0067Rossini und Donizetti größere rhythmische Lebendigkeit und
0068packende Kraft. Mochte auch diese Kraft- und Lebendigkeit 
0069oft bis zur Rohheit übertrieben sein; immerhin war damit
0070gegen die verschwommene Weichheit Bellini’s, gegen die
0071tändelnde Eleganz Rossini’s und den dazwischen schwebenden
0072Eklekticismus Donizetti’s derjenige Punkt getroffen, an dem
0073die Musik dieser Componisten bereits zu welken begann. Ein
0074halbwegs neuer und vortheilhafter Seitenweg war nach Donizetti 
0075nun einzuschlagen, indem man alles Gewaltsame, Leiden-
0076schaftliche, Materielle in dessen Musik steigerte, hingegen die
0077bereits langweilende Wehmuth des bel canto noch weiter
0078unterdrückte. Auch mußte das Orchester voller, der drama-
0079tische Ausdruck energischer, der Chor häufiger verwendet
0080werden. In diesem Streben schlummerte unzweifelhaft die
0081Ahnung eines Richtigen: die Weiterführung der italienischen
0082Oper vom blos musikalischen Wohlklang zum Dramati-
0083schen
. Mit dem „Ernani“ war Verdi die musikalische
0084Hegemonie über sein führerloses Volk gesichert. Er siegte,
0085ohne daß er nöthig gehabt, gegen einen ernsthaften Rivalen
0086zu kämpfen. Seine Physiognomie ist in dieser Oper zum
0087erstenmale ausgeprägt; Gutes und Schlimmes verbunden
0088durch ein entschieden originelles Talent. „Ernani“ verbreitete
0089sich über die halbe Welt.


0090Eine ansehnliche Perlenschnur von Mißerfolgen reihte
0091sich nun für Verdi in kurzer Zeit aneinander. Erst sechs
0092Jahre nach dem „Ernani“ erschien „Rigoletto“ (1851)
0093und rasch darauf „Il Trovatore“ und „La Tra-
0094viata
“, das bekannteste und beliebteste Kleeblatt aus
0095Verdi’s Garten. Vom „Rigoletto“ kann man eine neue
0096Phase des Componisten, eine Transformation seines Styls
0097datiren. So gewiß Verdi im Wesentlichen derselbe bleibt,
0098es lassen sich doch zwei verschiedene Trachten an ihm unter-
0099scheiden: die streng nationale und die mehr kosmopolitische.
0100Das Entscheidende des Ueberganges zu letzterer ist das
0101Maß, in welchem Verdi französische Elemente in seine
0102Musik aufnimmt. Nachdem er durch seinen „Ernani“ die
0103Aufmerksamkeit des Auslandes auf sich gezogen, mußte er
0104wol darauf bedacht sein, seine Herrschaft zu einer
0105europäischen auszudehnen. Das Wesen der deutschen
0106Musik existirt für die Italiener nur als dunkle
0107Ahnung; die französische war demnach der einzige
0108Quell, aus welchem sie zu ihrer süßen Cantabilität auch das
0109Charakteristische, die Schärfte des Ausdrucks, die Bedeutsam[2]-
0110keit des Orchesters schöpfen konnten. Durch die Anlehnung
0111an Meyerbeer in dem grellen Betonen des Dramatischen
0112überhaupt und in unzähligen technischen Handgriffen hat
0113sich Verdi von seinem bisher rein italienischen Styl ab-
0114sichtsvoll und erfolgreich entfernt. Im „Rigoletto
0115blitzt Verdi’s Talent mehr als Einmal glänzend auf, nicht
0116blos als melodische, sondern als wirklich dramatische Kraft.
0117Man denke an das durch breite Anlage und glücklichste
0118Steigerung wirkende Quartett im letzten Act! Die nächste
0119Oper Verdi’s „Il Trovatore“ (Rom 1853) ist dem
0120Rigoletto“ musikalisch nahe verwandt, aber reicher ausgestattet;
0121die packenden Melodien und die dankbaren Nummern stehen
0122dichter an einander. „Ernani“ und „Rigoletto“ sind den
0123Dramen von Victor Hugo getreu nachgeformt; desgleichen „La
0124Traviata“ der „Cameliendame“ des jüngeren Dumas. Am
0125ersten Abend in Venedig durchgefallen, wurde die „Traviata“
0126bald eine der populärsten Opern Italiens und des Aus-
0127landes. Wie der „Trovatore“ die Verkörperung von Verdi’s
0128Talent nach Seite des leidenschaftlichen, des packenden Effects
0129ist, so bezeichnet die „Traviata“ dessen Höhepunkt nach
0130Seite der tieferen und zarteren Empfindung hin. In Wien 
0131haben Künstlerinnen allerersten Ranges, Adelina Patti,
0132Désirée Artôt, Marcella Sembrich, einen goldenen
0133Schimmer gerade über diese Gestalt gebreitet.


0134In „Rigoletto“, „Trovatore“ und „La Traviata“,
0135den drei Opern, welche Verdi’s zweite Periode charakteri-
0136siren, steht seine natürliche melodische Erfindungskraft so
0137ziemlich im Gleichgewicht mit dem französischen Einfluß
0138einer sorgfältigeren und raffinirteren Arbeit. Sie sind die
0139beliebtesten von allen Opern Verdi’s, wol auch die effect-
0140vollsten, wenn ich auch für meinen Theil den minder erfolg-
0141reichen „Ballo in maschera“ ihnen mindestens gleich-
0142stelle. Der zweite Act, in der Hütte der Wahrsagerin, zeigt
0143Verdi’s melodiöse, wie seine dramatische Kraft in voller
0144Frische. Der „Maskenball“ hat auch in vortrefflicher
0145deutscher Aufführung sich als eine Lieblingsoper des
0146Wiener Publicums erhalten. Mit dem Aufgebot
0147aller seiner Kräfte schrieb Verdi die trostlos tra-
0148gische Oper „La forza del destino“, welche bei ihrer
0149ersten Aufführung (in St. Petersburg 1862) einen kühlen
0150Achtungserfolg und wenige Jahre darauf in Wien ein
0151Fiasco erlebte. Schade um die zahlreich darin verstreuten 
0152Schönheiten — das geradezu wüste, unverständliche Sujet
0153untergräbt überall den Erfolg dieser Oper. In der gleichen
0154Richtung hat Verdi noch einen großen Schritt weiter gethan:
0155Don Carlo.“ Noch anspruchsvoller und mühsamer in der
0156Ausführung, noch dürftiger und matter in der Erfindung
0157als die „Macht des Schicksals“ hat das für die Pariser Große
0158Oper geschriebene Werk (1867) sich nicht als lebensfähig
0159erwiesen.


0160Wir haben Verdi Schritt für Schritt zu immer größerer
0161Bedeutsamkeit des Dramatischen sich emporarbeiten sehen;
0162immer sorgfältiger wird seine Arbeit, immer länger die
0163Pause zwischen seinen Novitäten. Im Jahre 1869 erscheint
0164seine „Aïda“ zuerst als Festvorstellung in Kairo. Ein
0165merkwürdiges, echt künstlerisches, nach Verdi’s früheren
0166Opern höchst überraschendes Werk, das auch in Wien 
0167mit Vorliebe gegeben und gehört wird. Ein Verdienst
0168der Musik, nicht des Textbuches. Während einzelne hin-
0169reißende Melodien uns entzücken, drückt der fatalistisch
0170düstere Charakter des Stoffes uns wie mit unsichtbarer
0171Hand allmälig nieder. Die beiden Grundgebrechen, welche
0172den Totaleffect der „Aïda“ schädigen, liegen vollständig
0173im Textbuche: nach Innen die ununterbrochene Elegik der
0174Handlung, nach Außen das egyptische Costüm, im weitesten
0175Sinn des Wortes. In der „Aïda“ ist Verdi nach seinem
0176Don Carlo“, bei gleicher künstlerischer Gewissenhaftigkeit,
0177wieder zu größerer Einfachheit und ruhigerem Ausdruck
0178zurückgekehrt. Losgesagt von allen äußerlichen Rücksichten
0179folgt er hier nur seiner besten, geklärten Einsicht; er denkt
0180nicht an den bloßen Tageserfolg, sondern an die „Unsterb-
0181lichkeit“, wie man schmeichelhaft die Aussicht nennt, daß
0182ein Werk sich relativ lange erhalten werde.


0183Noch zwei neue Opern hat uns Verdi am Spätabend
0184seines rastlos arbeitenden Lebens geschenkt : „Otello“ (1887)
0185und „Falstaff“ (1893). „Otello“ unterscheidet sich
0186merklich von Verdi’s älteren Werken und ganz außer-
0187ordentlich von dem Typus der früheren italienischen Oper.
0188Entscheidend ist schon das (von Boito verfaßte) Textbuch,
0189welches so treu als möglich sich dem Shakespeare’schen Original
0190anschmiegt. Das Interesse des Componisten, sich auf eigene
0191Faust musikalisch auszubreiten, wird darin vollständig
0192dem dramatischen Fortgang untergeordnet. Noch strenger
0193und methodischer geschieht dies im „Falstaff“. Nur wenige 
0194Stücke im „Falstaff“ sind für abgerundete musikalische Form
0195gedichtet. Der Gesammteindruck ist der einer sorgfältig aus-
0196gearbeiteten feinen und lebhaften Conversations-Musik. Die
0197Musikgeschichte kennt kein Beispiel von einer solchen Bühnen-
0198schöpfung eines Achtzigjährigen.


0199Unverzeihlich wäre es, wollten wir, festgehalten, ja
0200überwältigt von Verdi’s erstaunlicher dramatischer Pro-
0201duction, an zwei kirchlichen Compositionen des
0202Meisters vorbeigehen. Ganz ohne Kirchenmusik ist noch
0203kein italienischer Componist geschieden, selbst die welt-
0204lichsten, wie Rossini und Donizetti, haben der Kirche
0205einen mäßigen musikalischen Tribut entrichtet. Sein
0206Requiem hat Verdi in Wien selbst viermal dirigirt
0207(im Juni 1875); eine edle, bei aller sinnlichen Schön-
0208heit fromme, wahrhaft religiöse Musik. Unser Publicum
0209empfing das Werk mit ungewöhnlicher Wärme, und selbst
0210geschworene Verdi-Gegner vereinigten sich in dem Aus-
0211rufe: Das hätten wir von Verdi nicht erwartet! In diesem
0212Sinne bildet das Requiem ein Seitenstück zu „Aïda“.
0213Und 23 Jahre später hörten wir staunend die „Vier
0214geistlichen Stücke
“ (Stabat mater, Te Deum, Ave
0215Maria und Laudi alla vergine Maria). Gewiß zählte es
0216zu den größten, den schönsten Seltenheiten, daß ein
021785jähriger Meister noch die Kraft und die Stim-
0218mung findet, Neues zu schaffen. Das hohe Alter
0219Verdi’s ist’s aber nicht allein, weßhalb wir seine „Geist-
0220lichen Stücke“ bewundert haben; es dürfen viel Jüngere
0221mit Neid darauf blicken. Wie schön empfunden fließt diese
0222letzte Musik aus seiner Seele! Mit diesem süßen, seelen-
0223vollen Schwanengesang ist der beneidenswerthe Alte von
0224uns geschieden.


0225Nach dem „letzten Glück“ ist ihm nun auch der „letzte
0226Tag“ angebrochen. Nicht ohne tiefe Bewegung lesen wir
0227von der erschütternden Theilnahme, mit welcher das ganze
0228Volk Italiens, vom König bis herab zum letzten
0229Arbeiter, nach dem letzten Atemzuge Verdi’s horchte und
0230wie heute die ganze Stadt, das ganze Land Trauer anlegt,
0231um den Mann, der nicht blos als Künstler hochberühmt, son-
0232dern ebenso sehr verehrt und geliebt war als edler Mensch,
0233als treuer Freund und großmüthiger Wohlthäter im
0234ganzen Lande.