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Neue Freie Presse
Morgenblatt
Nr. 13095. Wien, Donnerstag, den 7. Februar 1901

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Cimarosa-Feier in Wien.


0002Ed. H. Es fehlte nicht viel, und kein Mensch hätte
0003hier an Cimarosa gedacht. Das wäre der Musikstadt Wien 
0004doch schlecht zu Gesicht gestanden, für die Cimarosa sein bestes
0005Werk geschaffen und die seinen Opern so fröhliche Abende
0006verdankt. Vor hundert Jahren ist er gestorben, und ganz
0007Italien huldigt seinem Andenken mit Musik und guten
0008Werken. Da nahmen in Wien Herr v. Eisner-Eisen-
0009hof
, der musikalische General-Consul Italiens, und Director
0010v. Perger sich der Sache an und rüttelten an unserem
0011eingenickten Gedächtniß mit dem Weckruf: Cimarosa! Herr
0012v. Eisner stellte in zahlreichen Porträts und Partituren
0013uns den Meister vor Augen; Director Perger brachte ihn
0014zu Gehör mit der „Heimlichen Ehe“.


0015Die so lehrreiche und sehenswerthe Cimarosa-Ausstellung
0016im Künstlerhause ward leider bald geschlossen. Als bleibende
0017Erinnerung hinterließ sie uns einen werthvollen illustrirten
0018Katalog mit vortrefflichen Einleitungen von Dr. Hirsch-
0019feld
und Archivar Weltner. Was jedoch ein Berg von
0020Autographen und Bildnissen uns nicht ersetzen kann, die
0021lebendige Musik selbst, das wollte nicht so rasch Gestalt ge-
0022winnen. Das Ansuchen des Cimarosa-Festcomités um eine
0023Aufführung der „Heimlichen Ehe“ im Hofoperntheater fand
0024kein Gehör. So faßte denn Director Perger rasch den Ent-
0025schluß, die Oper selbst aufzuführen, auf der kleinen Bühne
0026des Musikvereines. Ich hege eine alte Vorliebe für diese be-
0027scheidenen Opernvorstellungen der Conservatoriums-Zöglinge.
0028Niemand erscheint da mit rigorosen Anforderungen an die
0029Gesangs-Virtuosität und Schauspielkunst der jungen Sing-
0030vögel. Um so erfreulicher wirkt ihre frische Unmittelbarkeit,
0031ihre noch unverstörte Naivetät und jener zuversichtliche Eifer,
0032der oft das halbe Gelingen ist. Mit der „Heimlichen Ehe“
0033wagten sie ihren ersten Ausflug — zu Aufgaben, welche zu den
0034Glanzvollen der berühmtesten italienischen Künstler gehört
0035haben. Warum hat man auf dem Theaterzettel die italienischen
0036Personennamen, die noch im Hofoperntheater 1884 unan-
0037getastet geblieben, in philisterhaft deutsche umgewandelt, aus
0038dem Geronimo einen „Herrn Roms“, aus Paolino einen
0039„Herrn Sander“, aus Fidalma eine „Beatrix“, gemacht?
0040Solche Geschmacklosigkeit war vor hundert Jahren sehr be-
0041liebt an kleinen deutschen Bühnen, z. B. in Dessau, wo
0042Mozart’s Don Juan „Herr von Schwänkereich“, Don
0043Ottavio „Herr von Frischblut“, Leporello kurzweg „Fick-
0044fack“ heißen mußte. Namen sind nichts Gleichgiltiges. Zu
0045dem italienischen Boden (das Stück spielt in Venedig) und
0046Cimarosa’s italienischer Musik passen auch nur die italieni-
0047schen Namen des Originals. Die plumpen deutschen klingen
0048wie ein falscher Ton in das Ganze hinein. ... Director
0049v. Perger hat die Oper mit großer Pietät
0050studirt und vortrefflich dirigirt — viel Mühe für
0051eine einzige Aufführung! Aber keine vergebliche. ...
0052Sie kommt später unseren Orchesterjünglingen, besonders
0053aber den künftigen Primadonnen und Opernsängern gar sehr
0054zu statten. Wir wollen gleich ihre Namen nennen. Zuerst das
0055Liebespaar Fräulein Josephine Reif und Herr Otto
0056Beer, welche durch anmuthige Erscheinung, schöne Stimme
0057und geschmackvollen Vortrag besonders gefallen haben. Sie
0058standen durch ihre sympathischen Rollen im Vortheil gegen
0059die übrigen Mitwirkenden, welche darum nicht weniger
0060tüchtig und erfolgreich sich behaupteten: die Fräulein Sed-
0061mak
und Cankl, die Herren Hell und Hagenauer.
0062Jedes von ihnen verrieth neben entschiedenem Beruf für sein
0063specielles Rollenfach musikalisches und dramatisches Talent.
0064Für die Ausbildung des letzteren hat der Hofopern-Regisseur 
0065Herr August Stoll eifrig und erfolgreich gesorgt. Kein
0066Zweifel, daß alle diese jungen Kräfte bald eine besondere An-
0067ziehungskraft auf Operndirectoren ausüben werden. Alles in
0068Allem — der gestrige Cimarosa-Abend war ein Triumph
0069unseres Conservatoriums. Das Publicum, das unbillige
0070Ansprüche einsichtsvoll daheimgelassen hatte, verblieb den
0071Abend hindurch in einer angenehmen Atmosphäre ruhiger
0072Heiterkeit, die manchmal zu fröhlichem Lachen aufblitzte,
0073manchmal zu leichter Rührung sich dämpfte.


0074Gewaltige Aufregung wird Niemand erwartet haben von
0075der „Heimlichen Ehe“. Ein gut bürgerliches Familienstück,
0076durch dessen komische Verwicklungen und Mißverständnisse
0077sich ein zarter Liebesfaden spinnt. Die Flucht der heimlich
0078Vermälten und der Zorn des Vaters lassen am Ende fast
0079eine tragische Wendung befürchten, aber die Versöhnung
0080folgt rasch, und das Stück glänzt nach flüchtiger Umwortung
0081wieder in vollem Sonnenschein. Cimarosa’s Musik besitzt
0082jene echte, leichte Goldfarbe, welche so einzig für das Lust-
0083spiel paßt und auch in den sentimentalen Scenen nicht in
0084Schwarz oder Dunkelroth übergehen darf. Es quillt und
0085perlt in dieser Musik Alles so leicht und frohgemuth hin,
0086daß der Hörer sich nur hinzusetzen und zu genießen
0087braucht. Jeder Tact verräth eine fabelhaft leichte,
0088dabei meisterlich geschulte und von gutem Geschmacke ge-
0089leitete Hand. Die Charaktere und Situationen sind flüchtig,
0090aber treffend gezeichnet, die Singstimmen überall herrschend
0091über das fein begleitende Orchester, grelle Dissonanzen und
0092kühne Modulationen durchwegs vermieden. Mozart über-
0093trifft, ganz abgesehen von seinen reicheren und tieferen
0094Ideen, den Italiener speciell in den letztgenannten Punkten:
0095in seiner genialen Verwerthung der Dissonanz, der Modu-
0096lation, der Instrumentirung. Cimarosa ist der süße Schaum
0097auf dem Champagner; Mozart der köstliche Wein selbst.
0098Was in Cimarosa’s Musik uns heute manchmal ungeduldig
0099macht, sind die allzu große, fast mathematische Regelmäßigkeit
0100seines Periodenbaues und die nie ausbleibenden Wieder-
0101holungen jeder Phrase, jeder Figur. Wenn man die erste
0102Hälfte eines Themas gehört, so weiß man bei Cimarosa die [2]
0103zweite mit unfehlbarer Sicherheit voraus. Lange Musikstücke
0104hindurch werden wir in derselben Tonart auf zwei, höchstens
0105drei Accorden festgehalten und endlich mit denselben Schluß-
0106cadenzen umständlich hinauscomplimentirt. Diesen Mangel
0107an allem Unvorhergesehenen, Ueberraschenden und Scharf-
0108gewürzten müssen wir Kinder einer modernen, nervösen Zeit
0109als eine zu weit getriebene Tugend empfinden. Als die
0110besten Scenen wirken noch heute die komischen. Zuerst die
0111lebhaft bewegten Trios, Quartette und Quinette, deren
0112Einführung (schon 1777) ein reformatorisches Verdienst
0113Cimarosa’s gewesen. Sodann die berühmte Buffo-Arie des
0114alten Geronimo: „O höret Alle!“ und sein Duett mit
0115dem Grafen im zweiten Act: „Sie müssen sich bequemen.“
0116Ohne letzteres wäre das berühmte Männerduett in Rossini’s
0117Cenerentola kaum entstanden; ja es klingt noch im „Czar
0118und Zimmermann“ als getreues Echo nach. Neben diesen
0119Cabinetsstücken komischen Styls wirken manche ernste
0120Nummern wieder durch echt italienische Süßigkeit der
0121Melodie: die zärtliche Arie Paolino’s in Es-dur und das
0122Duett des zur Flucht bereiten Liebespaares. P. Scudo,
0123ehedem das Haupt der Pariser Musikkritik, erklärt in
0124einem seiner Bücher feierlich, daß er auf der ganzen Welt
0125nichts Schöneres kenne, als jene Tenor-Arie, und daß er
0126gern seinen Antheil am Paradies dafür hingäbe, das Liebes-
0127duett componirt zu haben! In ähnliches Entzücken geräth
0128auch jedesmal der Franzose Stendhal, wenn er auf
0129Cimarosa zu sprechen kommt. Einmal nimmt aber seine
0130Begeisterung eine unerwartet kritische, feine Wendung. Die
0131Erzählung des berühmten Sängers Pacchiarotti, er habe in
0132Mailand allabendlich eine gewisse Arie von Cimarosa vier-
0133auch fünfmal wiederholen müssen, veranlaßt Stendhal zu dem
0134Ausruf, „es sei ganz unmöglich, daß das menschliche Herz
0135eine Musik, die es mit solcher Raserei liebt, immer 
0136lieben könne!“ Von allen Künsten erregt Musik die
0137lebhaftesten Empfindungen, die überschwänglichsten Genüsse,
0138aber die am wenigsten dauerhaften. Als Cimarosa 
0139und sein gefeierter Rivale Paisiello Anfangs des 19. Jahr-
0140hunderts zu schreiben aufhörten, hatten sie seit dreißig 
0141Jahren ganz Italien verschwenderisch mit Opern versehen.
0142Man begann nun gegen dieselben gleichgiltiger zu werden,
0143denn sie boten nichts mehr Ueberraschendes, Unvorhergesehenes.
0144Man sehnte sich nach einem neuen musikalischen Genie, und
0145um so ungeduldiger, als es nicht so bald erschien. Erst
0146Rossini war dieser neue große Erfinder, neben dessen
0147zündenden Melodien die oft gehörten, längst auswendig ge-
0148wußten des Cimarosa veraltet erschienen. Der Glanz und die
0149Lebendigkeit der Rossini’schen Musik bewirkten, daß man bald
0150in ganz Europa die „Heimliche Ehe“ nicht mehr hinreißend
0151fand. Und der unwiderstehliche Sieger Rossini? Er ist erst
015232 Jahre todt, und von seinen unzähligen Opern führen
0153nur noch zwei (der „Barbier“ und „Tell“) ein wirkliches
0154Leben in der Gegenwart. Das ist das Schicksal der Opern-
0155könige.


0156Cimarosa’s Oper hat in der Conservatoriums-Vor-
0157stellung außerordentlich gefallen. In den Applaus des Publi-
0158cums und die wiederholten Hervorrufe des Directors
0159v. Perger mischte sich hier und dort die leise Frage: Hören
0160wir sie jemals wieder, diese liebenswürdige Musik? Schwer-
0161lich. Den ablehnenden Bescheid des Directors Mahler be-
0162greifen wir vollkommen. Ganz abgesehen davon, daß das
0163Hofoperntheater beinahe zum Wagner-Theater geworden,
0164(fünf Wagner-Opern in diesem Wochenrepertoire, drei 
0165im vorigen!) — so einfach melodiöse, schüchtern instrumentirte
0166Musik wie die Cimarosa’s hat wenig Aussicht, dort durch-
0167zudringen. Ja, wenn wir ein eigenes kleineres Theater für
0168die komische Oper besäßen! Da hörten wir gar viele ältere
0169und neue Werke dieser Gattung, deren ehrbare Annäherung
0170unsere Hofoper nur mit einem majestätischen „Zurück“ er-
0171ledigt. Unser Traum von einer eigenen „Opéra comique“
0172in Wien hat sich schon einmal, vor 27 Jahren, erfüllt.
0173Jetzt dürfte er aller Wahrscheinlichkeit nach sich ein
0174zweitesmal verwirklichen. Es circulirt hier ein Auf-
0175ruf zur Gründung einer „Volksoper“. Zwei ge-
0176wichtige Namen stehen darin, Fellner und Helmer,
0177die bewährten Dioskuren des modernen Theaterbaues.
0178Bereits kennt man auch eine große Anzahl veranleuchtender 
0179Subscribenten, welche, rasch anwachsend, die finanzielle Frage
0180bald gelöst haben dürfte. Von dieser finanziellen Frage ver-
0181stehe ich gar nichts; ich vermag nur vom rein künstlerischen
0182Standpunkt die Gründung eines zweiten kleinen Opern-
0183hauses für wünschenswerth zu erklären. Wie viel genußreiche
0184Abende hatten wir der ehemaligen „Komischen Oper“ am
0185Schottenring zu verdanken, vor ihrem durch unkluge, wag-
0186halsige Führung verschuldeten Zusammensturz! Die ersten
0187Vorstellungen mit Minnie Hauck, Anton Erl, Hölzl,
0188Nollet, dann das glänzende Gastspiel der Lucca, die
0189Novitäten von Massenet („Don César de Bazan“) und
0190Délibes („Der König hat’s gesagt“) — welch lebhaft
0191nachklingende Eindrücke! Was die Errichtung einer eigenen
0192„Komischen Oper“ in Wien damals veranlaßt hat, war
0193keine phantastische Projectmacherei, es waren aus dem Wesen
0194der Sache fließende Erwägungen, künstlerisch unanfechtbare
0195Motive. Diese Erwägungen, diese Motive bestehen heute
0196genau so wie damals — das Mißgeschick, welches die
0197„Komische Oper“ in den Wirbel einer allgemeinen Finanz-
0198calamität mit hineinriß, ändert nichts daran. Das Hof-
0199operntheater, auf die glänzende Repräsentation der Großen
0200Oper angewiesen, ist nicht in der Lage, die Spieloper mit
0201gleichem Erfolg zu pflegen. Nur in einem eigenen stabilen
0202Theater können sich Specialitäten für die Spieloper aus-
0203bilden, Sänger und Componisten. Gerade so wie jetzt jeder
0204angehende Sänger sich nothgedrungen der Großen Oper
0205widmet, so schreibt heute jeder deutsche Componist, dem
0206etwas einfällt, oder auch nichts einfällt, eine heroische oder
0207tragische Oper. Wo sollte er auch ein leichtes musikalisches
0208Lustspiel zur Aufführung bringen? In Paris hält die
0209Opéra Comique und außerdem das Théâtre Lyrique die
0210Production in Fluß. Und so dürfen wir wol hoffen, daß
0211die projectirte neue „Volksoper“ die erschreckende Sterilität
0212des musikalischen Lustspieles allmälig brechen, Componisten
0213und Sänger für die komische Oper heranbilden werde. So
0214viel für heute.