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Neue Freie Presse
Morgenblatt
Nr. 13444. Wien, Dienstag, den 28. Januar 1902

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Concerte.


0002Ed. H. Das alljährliche „Nicolai-Concert
0003der Philharmoniker bescheert uns jederzeit Neues und
0004Interessantes. Im vollen Sonnenlicht des Schönen, nicht
0005blos Interessanten, strahlte Mendelssohn’s Musik
0006Sommernachtstraum“. Die Ouvertüre, das Eisenscherzo
0007und der Hochzeitsmarsch entfesselten, unter Hellmesberger’s
0008Leitung wundervoll gespielt, einen Beifallssturm, der, falls
0009wir richtig gesehen, nicht blos von alten Herren ausging.
0010Einige Wortführer der musikalischen Secession, für welche
0011die lebendige und lebenswürdige Musik erst etwa von
00121860 oder 1870 beginnt, mochten allerdings in beredtem
0013Schweigen verharren und ihren Applaus für den „Herzog
0014Wildfang“ aussparen. Der fröhliche Jubel, der dem
0015Hochzeitsmarsch folgte, klang zugleich wie ein Huldi-
0016gungsgruß für die neuvermälte Enkelin unseres Kaisers.


0017Gespannte Erwartung harrte der zwei Stücke („Ouver-
0018türe“ und „Walzer“) aus Siegfried Wagner’s 
0019Herzog Wildfang“. Diese ..., Verzeihung, bald hätten
0020wir „Oper“ gesagt. Also dieses Musikdrama — doch nein,
0021auch die von Richard Wagner eingeführte Bezeichnung ist
0022dem Sohne schon zu veraltet. „Herzog Wildfang“ ist also
0023weder Oper, noch Musikdrama, noch selbst wie die „Feuers-
0024noth“ von Richard Strauß ein „Singgedicht“. Er ist —
0025gar nichts. Das Titelblatt lautet kurz „Herzog Wildfang -
0026von Siegfried Wagner“. Auch gut. Wenn unsere Aller
0027neuesten diese Furcht vor dem Wort „Oper“ nicht kindisch
0028finden, unter dessen liberalem Fittich unsere größten Meister-
0029werke in die Welt gingen und noch heute fortleben, so
0030mögen sie um neue und immer neuere Taufnamen sich den
0031Kopf zerbrechen. Wenn nur die Kinder stark und schön
0032gerathen. Ob das dem „Herzog Wildfang“ nachzurühmen 
0033sei? Von den zwei Orchesterstücken fühlte ich mich wenig
0034erbaut. Aufschluß über den Inhalt der Oper gibt uns ein
0035lobtriefender Artikel, welcher in dem Concertprogramm
0036merkwürdigerweise „auf ausdrücklichen Wunsch des Ton-
0037dichters“ abgedruckt ist. Darin wird uns gesagt, daß „die
0038Ouvertüre, eigentlich eine symphonische Dichtung, nur
0039die Eine Seite des Dramas, die politische, wieder-
0040gibt“! Wie der geschwätzige Verfasser uns weiter belehrt,
0041beginnt die Ouvertüre „mit dem Thema des Königthums
0042von Gottes Gnaden, jener besonders bei den germanischen
0043Stämmen ausgebildeten und festgewurzelten Vorstellung
0044von einer nicht durch Menschenhand errichteten, sondern
0045durch göttlichen Willen eingesetzten Gewalt auf Erden.“
0046In ähnlichem Schwulst wird uns die Ouvertüre weiter
0047ausgelegt, bis zu der von Wagner systemisirten „feierlichen
0048Entrücktheit" des Helden. „In Herzog Wildfang erwachen
0049die Gedanken, die Joseph den Zweiten und 
0050Friedrich den Großen beseelten!“ Schämte
0051sich der Verfasser wirklich nicht, diese uns heiligen Namen
0052neben seinen Wildfang zu setzen? Es thut mir weh, daß
0053ich sie in solcher Gesellschaft seh’. Doch wenden wir von
0054dieser abgeschmackten Erklärung uns zu dem Erklärten, zu
0055der Ouvertüre selbst. Unförmlich ausgedehnt, mit ver-
0056schwenderischem Orchersterpomp beladen, sagt uns dieses an-
0057spruchsvolle Stück doch nichts Neues, nichts Bedeutendes,
0058nichts Erfreuliches. Mit dem dürftigsten Kapital von
0059Erfindung fristet sich dieser Ouvertüren-Bandwurm mit
0060Meistersingerbrocken, gequälten Contrasten, endlosen „Ro-
0061salien“ und einigem Fugato, um uns schließlich über-
0062sättigt und doch hungernd zu entlassen. Nach dem trüb-
0063seligen Eindruck dieser Ouvertüre lechzten wir förmlich nach
0064dem den Volksscenen des dritten Actes entnommenen
0065„Walzer“ in Es-dur. Guter Johann Strauß, wie hast du
0066dich verändert! Ein paar Tacte scheint es dem Com-
0067ponisten wirklich Ernst zu sein mit dem Tanzen: wir
0068hören ein müdes Walzerthema ohne Schwung und Origi-
0069nalität. Aber bald schämt er sich dieser Lustigkeit; an
0070Stelle des natürlichen Tanzrhythmus treten allerhand harmo-
0071nische und contrapunktische Künsteleien, lang nachschleppende
0072Phrasen, Orchesterwitze. Wie ein lahmes Pferd, das nicht
0073vorwärts will, wird das Walzermotiv gestoßen, gepeitscht,
0074um schließlich in den trompetenglänzenden Marstall des
0075Herzogs eingestellt zu werden.


0076Die Erfolge Siegfried Wagner’s sind seltsam; mehr
0077seltsam als ermuthigend. Wie heißhungrig haben nicht alle 
0078deutschen Bühnen, groß und klein, nach Siegfried’s erster
0079Oper gegriffen! Dem „Bärenhäuter“ fieberte eine wahre
0080National-Neugierde entgegen. Aber nach wenigen Auf-
0081führungen hatte der „Bärenhäuter“ ausgespielt, in Wien 
0082wie überall. Mit dem „Wildfang“ ließen sich die Theater
0083schon Zeit; er erregte nur mäßige Neugierde, obgleich die Berichte
0084über die Münchener erste Aufführung von einem Fort-
0085schritt nach dem „Bärenhäuter“ sprechen. Nach dem, was
0086ich vom „Wildfang“ kennen gelernt, aus der Partitur und
0087der jüngsten Concert-Aufführung, kann ich an einen wesent-
0088lichen Fortschritt kaum glauben, denn dieser müßte nicht
0089blos im rein Technischen liegen, das der Componist sich ja
0090merkwürdig schnell und tüchtig angeeignet, sondern im
0091Reichthum und der Originalität der Erfindung. Diese
0092erscheint mir noch immer so dürftig und gequält,
0093daß mir Siegfried’s dramatischer Beruf wenig Vertrauen
0094einflößt. Gerne will ich von der Zukunft mich eines
0095Besseren belehren lassen und dann ehrlich Pater peccavi
0096sagen. Eigentlich ziemte dieses „Pater peccavi“ zuerst Herrn
0097Siegfried, denn sein Vater, der bekanntlich etwas von der
0098Sache verstand und die Fähigkeiten seines Sohnes am
0099besten kannte, hat ihn ja ursprünglich zum Architekten be-
0100stimmt. Der Sohn hätte folgen sollen; selbst wenn er
0101wirklich Erbe des väterlichen Talentes geworden wäre.
0102Denn überragen, nicht blos erreichen, mußte er den Vater,
0103wollte er nicht durch den Vergleich zu Schaden kommen.
0104Aber ein Talent erbt sich überhaupt nicht wie ein Haus
0105oder ein Vermögen. Diese Meinung eines Einzelnen wird
0106Siegfried Wagner gottlob wenig anfechten. Die Beifalls-
0107stürme im letzten Concert, die endlosen Hervorrufe, die
0108riesigen Lorbeerkränze, womit man den Componisten des
0109Wildfang“ hier gefeiert hat, dürften ihn in seiner
0110Richtung nur bestärkt haben. Allzu großen Werth
0111wird er freilich Huldigungen nicht beimessen, die doch vor-
0112nehmlich einer schönen, wohlgegründeten Pietät entstammen.


0113An ihrem letzten Kammermusikabend hat Frau
0114Soldat-Röger allein gegeigt. Ist doch ihr Damen-
0115quartett für den Augenblick gesprengt. Die Cellistin, „der
0116schöne Flügelmann“, hat sich verheiratet, die zweite Geige
0117sich die Hand verletzt, die Viola ist momentan verhindert,
0118verreist, verschnupft oder verlobt — kurz, Frau Soldat 
0119verblieb am letzten Dienstag als die Einzige. Ganz einzig
0120hat sie auch gespielt! Die schwerste Aufgabe stellte ihr
0121wol Bach’s E-dur-Sonate (Nr. 3), deren rastlos funkelndes
0122Passagenwerk sie ebenso rein, mühelos und stylvoll aus[2]-
0123führte wie die allerdings spärlich gesäten Gesangstellen.
0124Am ergreifendsten wirkte das Adagio in Cis-moll, eine
0125Ciaconne mit fünfzehnmaliger Wiederholung des Baß-
0126themas, über welchem die sinnreichsten Combinationen
0127sich zwischen Clavier und Violine ablösen. Noch un-
0128mittelbarer, weil moderner, hat Hermann Grädener’s 
0129C-moll-Sonate für Violine und Clavier angesprochen. Allzu
0130selten gelangen die Compositionen dieses sehr begabten,
0131gründlich gebildeten, nur überbescheidenen Künstlers vor
0132die Oeffentlichkeit. Von reicher harmonischer und contra-
0133punktischer Kunst und charaktervoller, mitunter nur zu
0134herber Eigenart, verlangen Grädener’s Compositionen ein
0135mehr als blos oberflächliches Aufmerken. Wie sehr solch
0136thätiger Antheil dem musikalischen Hörer sich lohnt, bewies
0137die überaus warme Aufnahme, welche Grädener’s Violin-
0138Sonate an dem Abend fand. Die Sonate (nur dreisätzig,
0139ohne Scherzo) zeigt uns den Componisten auf der Höhe
0140seines künstlerischen Vermögens. Gleich der Anfang wirkt
0141mit zwingender Kraft; das packende, gestaltungsfähige Thema
0142gehört zu den glücklichsten Einfällen. Auch leidet dieser
0143Satz (wie die ganze Sonate) nicht an allzu großer Länge,
0144wie sie andere Werke Grädener’s oft beeinträchtigt. Zunächst
0145ist das Adagio mit seinen überraschenden Modulationen
0146von bedeutender Wirkung. Der sich lange sträubende Com-
0147ponist mußte schließlich doch mit Frau Soldat und dem
0148Pianisten Herrn Borwick wiederholtem Hervorruf folgen.
0149Sollte dieser Erfolg nicht dazu beitragen, Grädener’s besten
0150Compositionen häufiger als bisher den Concertsaal zu eröffnen?
0151Gerne gedenken wir seiner „Lustspiel-Ouvertüre“, welche
0152Jahre 1886, und der Sonate für zwei Claviere, die
01531882 mit vielem Beifall gegeben worden sind. Warum
0154nie wieder? Gleich der noch ungedruckten Violin-Sonate 
0155harren noch zahlreiche Novitäten Grädener’s der Ver-
0156öffentlichung und Aufführung. ... Auf Grädener folgte die
0157Violin-Sonate op. 78 von Brahms mit dem herrlichen
0158„Regenlied“-Finale. Sie wurde von Frau Soldat und
0159Herrn Borwick ebenso vollendet gespielt wie die früher
0160genannten Duos und die Beethoven’sche „Kreutzer-Sonate“,
0161welche das genußreiche, ungemein besuchte Concert beschloß.


0162Dem wohlthätigen Verein „Settlement“ (Volksheim)
0163galt das Concert, welches Frau Olga Walter-Segel 
0164am letzten Freitag veranstaltet hat. Die Sängerin war dem
0165Wiener Publicum schon mehrere Jahre vor ihrer Ver-
0166heiratung bekannt, als treffliche — Clavier-Virtuosin. Dem
0167überquellenden Gefühlsleben der schönen jungen Russin 
0168scheint das Clavier nicht nachhaltig genügt zu haben; es
0169mochte nicht länger durch Elfenbeintasten und Stahlsaiten,
0170sondern unmittelbar aus dem Innersten der Seele sich
0171kundgeben. Wäre nur in der Kunst nicht jeder neue Vor-
0172theil zugleich an eine Einbuße gebunden! Die Pianistin
0173konnte sich ein Clavier von stärkerem oder schwächerem
0174Schall, von hellerer oder dunklerer Klangfarbe auswählen;
0175die Sängerin muß mit dem Instrument auslangen, das
0176die Natur ihr verliehen. Und diese zarte, überzarte
0177Stimme der Frau Olga Walter ist nicht ausgiebig, nicht
0178tragfähig genug für den Concertsaal. Im virtuosen
0179Coloraturgesang vermag eine Filigranstimme immerhin
0180durch den Glanz der Passagen, Sprünge, Trillerketten zu
0181wirken. Nicht diese Specialität jedoch, sondern den Lieder-
0182vortrag hat Frau Olga Walter sich erwählt. Hier
0183müssen die Tonschwingungen jedenfalls stark genug
0184sein, um die Gemüthssaiten im Hörer in Mit-
0185schwingung zu versetzen. Im Familienkreis und im Salon
0186wird die von ihrem Namensvetter Gustav Walter geschulte
0187anmuthige Sängerin ohne Zweifel einen größeren Erfolg
0188erzielen als im Concertsaal. Frau Olga Walter eröffnete
0189ihr Concert mit der G-moll-Arie der Ilia aus Mozart’s
0190Idomeneo“. Noch merklich an französischen und italieni-
0191schen Opernstyl sich lehnend, verlangt diese Musik einen breiten
0192pathetischen Vortrag, war also im vorliegenden Falle keine
0193besonders glückliche Wahl. Ebensowenig Mendelssohn’s
0194Frühlingslied“. Sein jubelnder Aufschwung klingt gewiß
0195lebendig in der Empfindung und Intelligenz der Sängerin,
0196aber die Resonanz im Zuhörer bleibt aus. Dieser empfängt
0197als seine zarte Bleistiftzeichnung, was der Componist —
0198und mit ihm gewiß auch die Sängerin — in kräftig
0199hellen Farben empfunden hat. So wirkte denn Frau Olga
0200Walter am erfreulichsten mit den einfacheren, mehr auf
0201sinniges Gemüth und geistvolles Verständniß angewiesenen
0202Liedern, wie Mendelssohn’sTröstung“, Humper-
0203dinck’s
Winterlied“ und Grädener’s schönen, stim-
0204mungsvollen Gesängen „Das Kränzchen“ und „Zum
0205Abend“. Diesen Vorträgen folgte lebhaftester Beifall der
0206Zuhörer, die in künstlerischem und zugleich wohlthätigem
0207Interesse sich überaus zahlreich eingefunden hatten.


0208Schließlich haben wir noch einige Worte über das
0209zweite Gesellschaftsconcert nachzutragen. Da herrschte aus-
0210schließlich die Trias: Bach, Beethoven, Brahms.
0211Von Bach gab es ein für Wien seltenes Gericht: eine
0212der fünf großen Motetten. Ohne stützende Begleitung 
0213gesungen, stellen Bach’sche Motetten an Treffsicherheit,
0214Intonation und stylistische Schulung die höchsten Anfor-
0215derungen; ganz besonders das jetzt zum erstenmal
0216gebrachte Stück: „Fürchte dich nicht.“ Das aufrichtende
0217Bibelwort, mit dem die Motette anhebt, gilt auch dem
0218Chorkörper, der sich an das Werk wagt. Ohne Halt und
0219Unterbrechung rollt es in einem einzigen langen Satze
0220dahin; ein athembeklemmender contrapunktischer Wettlauf
0221der Singstimmen, die oft selbstverleugnend sich als instru-
0222mentale Orgelstimmen fühlen müssen. Solche Unerbitt-
0223lichkeit des polyphonen Princips macht oft den eigenthüm-
0224lichen Eindruck: diese hundert Sänger scheinen mehr
0225singen zu müssen, als singen zu wollen. Ein Strom ohne
0226Dämme reißt sie mit. Wunderbar ist der Aufbau des
0227Werkes: der doppelchörige Satz mündet in die Bach’sche
0228Lieblingsform der Chorphantasie; über drei fugirenden
0229Unterstimmen schwebt im Sopran die innige Weise des
0230Chorals; und diese vier Stimmen des Schlußabschnittes
0231erweisen sich stärker, gewaltiger als die acht des Anfanges.
0232Die hingebungsvolle Andacht des von Herr Löwe 
0233dirigirten „Singvereins“ schien nur sehr theilweise sich auf
0234die Hörer übertragen zu wollen. Wärmeren Antheil
0235weckten drei Chorstücke von Brahms. Eines davon,
0236Beherzigung“, mußte wiederholt werden. Neu war
0237Vineta“, ein sechsstimmiger Chor aus op. 42. Das
0238Gedicht ist von Wilhelm Müller, dem Müller Schubert’s;
0239nicht immer hat Brahms so sangbare Verse gewählt. Eine
0240schlichte, ausdrucksvoll an Vers und Strophe sich
0241anschmiegende Melodie gibt „wunderbare Kunde von den
0242schönen alten Wunderstadt“ Vineta. Gibt Brahms’sche
0243Vocalmusik — inmitten unserer modernsten „Wortmusik“
0244— nicht überhaupt Kunde von einem versunkenen Vineta 
0245besserer, schönerer Kunst? Das „Schicksalslied“,
0246den dritten Brahms des Concertes, braucht man nur zu
0247nennen. Das unvergleichliche Stück ist in Wien stets des
0248günstigsten Schicksals theilhaftig. Auch sein herrliches
0249Orchesternachspiel sagt wie die Bach’sche Motette: „Fürchte
0250dich nicht.“ In diesem Nachspiel versöhnte das Concert-
0251vereins-Orchester mit einigen Flüchtigkeiten, die sich in
0252den begleitenden Theil von Beethoven’s Es-dur-
0253Concert eingeschlichen hatten. Das Concert selbst spielte mit
0254glänzendem Erfolge Emil Sauer, oder richtiger Herr
0255Professor Emil Sauer. Er stürmte als Sauer, dämpfte
0256und glättete als Professor, freilich als ein zeitweilig miß-
0257launiger und zerstreuter.