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Neue Freie Presse
Morgenblatt
Nr. 13447. Wien, Freitag, den 31. Januar 1902

[1]

Hofoperntheater.

(„Feuersnoth“, ein Singgedicht von Ernst v. Wolzogen; Musik von Richard Strauß.)


0003Ed. H. Eigentlich eine einactige komische Oper mit
0004unverhältnißmäßig großem Apparat und großen Absichten.
0005Ein Ereigniß, für das die deutschen Literatur-Beamten
0006im Dienste der modernsten musikalisch-dramatischen Er-
0007scheinungen auch schon die Formel gefunden haben: wir
0008stehen tiefbewegt vor der Allianz zwischen musikalischer
0009und literarischer Moderne. Bereits flammen in den ver-
0010einten Heerlagern kleine Freudenfeuerchen auf, die sich an
0011dem Sonnwendfeuer des „Singgedichtes“ entzündet haben.
0012Dieses selbst ist einer niederländischen Sage entnommen.
0013Sie erzählt von einer spröden Schönen, welche den wer-
0014benden Liebhaber in einem Hängekorb dem Spotte preis-
0015gibt. Dem Gekränkten schafft ein alter Zauberer Genug-
0016thuung. Auf sein Geheiß erlischt alles Feuer in der Stadt
0017und jeder Insasse muß sich seine Fackel an dem entblößten
0018Rücken des Mädchens anzünden. Vielleicht hätte der
0019groteske Märchenstoff mit seinem alten Motiv der be-
0020straften Sprödigkeit gerade ausgereicht für einen herz-
0021haft naiven Schwank. In „Feuersnot“ ist er un-
0022barmherzig gedehnt und „vertieft“. Zunächst übersiedeln
0023wir aus dem niederländischen Oudenarde ins alte
0024München, nahe ans alte Nürnberg der „Meistersinger“.
0025Auch begeht man da „das schöne Fest Johannistag“ mit
0026loderndem Sonnwendfeuer. Das Volk durchzieht festlich die
0027Straßen der Stadt. Kunrad, ein einsamer Junker, lebt
0028da bekrittelt, unverstanden. Er besitzt Zaubergewalt, wie es
0029heißt. Eine herumziehende Kinderschaar, die Holz für das
0030„Subendfeuer“ sammelt, pocht den Träumer aus dem
0031Haus. Er gibt gleich zum Verbrennen sein ganzes Hexen-
0032haus her, das er von seinem Meister geerbt. Da erblickt
0033Kunrad die schöne Diemut, des Bürgermeisters Töchter-
0034lein; sie ihn! Sie verschauen sich in einander wie Senta 
0035und der Holländer, mit dem schönsten langen Blick 
0036Wagner’s. Endlich erinnert sich Kunrad, daß er neben
0037manchem Andern auch den modern vertieften Renaissance-
0038Menschen, den schrankenlosen Individualisten zu verkörpern
0039hat. Er stürzt vor aller Welt auf Diemut los und küßt
0040sie. Das nehmen die alten rückständigen Münchener übel.
0041Auch Diemut ist tief gekränkt, nach außen; nach innen ist sie
0042eigentlich Münchener „süßes Mädel“. Als das
0043Sonnwendfeuer aufflammt, naht Kunrad der Begehrten
0044mit heißen Anträgen. Diemut erhört ihn scheinbar in
0045einem brünstigen Liebesduett; der Korb functionirt, der
0046den Geliebten zum Söller emporheben soll. Auf halbem
0047Wege läßt ihn Diemut stecken; in der nächtlichen Stille
0048dringt spöttisches Geflüster, höhnisches Gelächter an das
0049Ohr des Enttäuschten. Da regt sich der Magier in Kun-
0050rad; merkwürdigerweise hat der Zaubergewaltige, der sich
0051nicht aus dem Korbe heraushelfen kann, die Macht, dem
0052Feuer zu gebieten. Unser Beleuchtungstechniker stellt die
0053gute Stadt München auf „Dunkel“. Schrecken, Tumult,
0054Wehklage, Verwünschungen. Die ärgste Strafe folgt aber
0055noch. Kunrad hält den Münchenern eine ganz unerwartete,
0056lange Bußpredigt. „Warum ich’s gethan, künd’ ich euch
0057frei. — Denkt euch die Deutung dabei“ — schickt Kunrad 
0058voraus und beginnt nun „ernst und groß“. Ein paar seiner
0059artigen Verse muß man hersetzen:
0060Schmählich habt ihr ihn ausgejagt, in neidiger Niedertracht ... /
0061Sein Wagen kam allzu gewagt euch vor, /
0062Da triebt ihr den Wagner aus dem Thor — /
0063Den bösen Feind, den triebt ihr nit aus, /
0064Der stellt sich euch immer aufs neu zum Strauß. /
0065Wolzogen mannige wackere Leut’, /
0066Die ein verwegenes Wirken freut, /
0067Fern an dem Reich in den Isargau, /
0068Zu wipfelfreudigem Nesterbau u. s. w. /


0069Wie die alten Maler auf manchem Bilde ihre eigenen
0070Züge, haben hier Dichter und Componist neben dem
0071heiligen Namen Wagner’s auch ihre eigenen Namen in
0072ihrem Werke angebracht. Zu Ende seiner Standrede
0073appellirt Kunrad, der verkannte Künstler, an das Ewig-
0074Weibliche. „Das lautere Feuerelement minnige Mädlein
0075sind.“ Kunrad kann selbstverständlich nur dann sich als
0076„des Meisters echter Sproß“ bewähren, wenn sich ihm
0077das begehrte Weibliche in freier Liebe hingibt. „Aus heiß
0078jungfraulichem Leibe einzig das Feuer euch neu entflammt!“ 
0079Die Rede Kunrad’s hat eine ungeahnte Wirkung. Die
0080Münchener bekehren sich zur freien Liebe. Jung und Alt,
0081Männlein und Weiblein. — Diemut’s Vater, ein seltenes
0082Beispiel väterlicher Toleranz mit drunter — dringen in
0083die Spröde, sich dem Volkswohl zu opfern. Die gut-
0084gelaunten Autoren von „Feuersnoth“ lassen das gesammte
0085Volk — Vater Bürgermeister immer mit — uns selbst
0086im Zuschauerraum, der rettenden That harren, der
0087sich Diemut unterziehen soll. Es ertönt ein Inter-
0088mezzo à la „Cavalleria“, während dessen aber nicht
0089gebetet wird. Schwüle, ausdrucksüchtige Musik malt, was da
0090hinter den Coulissen in der Kammer Diemut’s vorgeht.
0091Im entscheidenden Moment, „als die Steigerung im
0092Orchester ihren Höhepunkt erreicht hat“, flammen mit
0093einem Schlage sämmtliche Lichter auf. Denkt euch die
0094Deutung dabei! „Die Männer lachen verschmitzt, und die
0095Frauen verstecken verschämt ihre Gesichter in Händen und
0096Gewanden“, lautet die dazu gehörige scenische Anweisung.
0097Sagen wir es kurz: diese Vorgänge haben nichts von
0098freier lachender Sinnlichkeit — sie sind einfach obscön.
0099Die Bühne hat auch ihre ungeschriebene Lex Heinze. Den
0100Freiherrn vom Ueberbrett kümmert sie wenig. Herr
0101v. Wolzogen stellt auch in sangbaren Bummelversen,
0102artistischem Wortgebimmel und stammelndem Tristan-
0103schwulst seinen Mann. Kurz, Stimmung bis zur Ver-
0104stimmung neben dem forcirten Humor des „bunten Theaters“.


0105Ueber die Musik will ich mich nur kurz aussprechen;
0106kurz, aber nicht gut. Bei aller Hochschätzung der blenden-
0107den technischen Kunst und der geistreichen, liebenswürdigen
0108Persönlichkeit des Componisten, muß ich doch unumwunden
0109meinen Totaleindruck von seiner Oper bekennen: quälende
0110Langweile. Nicht die arglose milde Langweile, die uns
0111sanft einnicken macht, sondern jene schlimmere, auf-
0112reizende, insultative Langweile, welche den zeitweilig Ein-
0113nickenden sofort aufgepeitscht, wie dies als eine beliebte
0114Folterqual früherer Jahrhunderte in Uebung gewesen. Ich
0115erinnere mich keiner Oper, die mit solcher melancholischer
0116Schwere mich bedrückt und gleichzeitig mit so nerven-
0117peinigender Unruhe gestachelt hätte. In älteren lang-
0118weiligen Opern gab es doch immer ein Lied, ein Duett
0119oder Terzett, woran man sich entschädigen und erquicken
0120konnte. In „Feuersnoth“, richtiger Melodiennoth, werden [2]
0121wir gnadenlos ohne Ruhepunkt durch einen unnatürlichen,
0122von tausend Orchester-Effecten übertäubten formlosen Sprech-
0123gesang weitergeschleppt. Taucht hin und wieder ein freund-
0124liches Melodienköpfchen auf, so wird es nach zwei oder
0125drei Tacten unbarmherzig abgeschlagen und in der Fluth
0126der Modulationen und Orchester-Combinationen ertränkt.
0127Die kritischen Feuernothhelfer verweisen uns zwar auf
0128dieses oder jenes winzige Melodiechen, das wir als
0129Leser gewiß nicht übersehen haben, das aber das
0130Publicum bei der Aufführung überhört. Unser Ohr ist eben
0131kein Magnet und die Melodiechen keine Eisenfeilspäne.
0132Die neuesten deutschen Operncomponisten „verachten“ alle
0133die Melodie, ungefähr wie gebrechliche Greise das Jungsein
0134verachten. Sie stehen allgesammt nicht etwa unter dem
0135Einflusse von Wagner, dem sich ja heute Keiner entziehen
0136kann, sondern unter dem tödtlichen Drucke der sklavischen
0137Wagner-Nachahmung. Was an Wagner höchstpersönlich
0138und genial war, das können sie nicht nachmachen, also
0139verlegen sie sich auf das Copiren des Nebensächlichen,
0140mitunter Manierirten und Ermüdenden. Richard Strauß 
0141zählt zu den unbedingten Wagnerianern; in „Feuersnoth“
0142begegnet er sich, schon im Stoffe, vielfach mit den „Meister-
0143singern“. Aber wo findet sich bei ihm eine Stelle, die im
0144entferntesten die einheitliche Form, den selbstständig
0145melodiösen Reiz aufwiese, der uns in Pogner’s Anrede, in
0146Stolzing’s Preislied, in dem Sextett des zweiten Actes, in
0147den Volksscenen des dritten entzückt? Solch freigewachsene
0148duftige Blumen lassen sich eben nicht durch Reflexion nach-
0149schaffen, nicht einmal in Leder und Papier. Einer Oper,
0150welcher die singende Seele fehlt, ist nicht zu helfen. Auch
0151nicht durch all die subtilen oder grandiosen Orchesterkünste,
0152welche Richard Strauß so unvergleichlich commandirt.


0153Eine einactige komische Oper wie „Feuersnoth“, in
0154diesem schweren, schleppend-feierlichen Styl gleicht einer
0155Hütte aus Marmor. Und der stylistische Grundfehler ist bei
0156Strauß nichts weniger als gemildert durch die ihm eigene
0157Sucht nach Ueberladung und Complication. Tact für Tact
0158gibt es saure motivische Arbeit, Häufung von unruhigen
0159gewaltsamen Modulationen, jähen Klangfarbenwechsel, ge-
0160suchte Ausdeutungen des Textwortes. „Unter den ge-
0161fährlichen Nachwirkungen Wagner’s scheint mir das
0162Lebendigmachenwollen um jeden Preis eine
0163der gefährlichsten; denn blitzschnell wird es Manier, Hand-
0164griff“, heißt es in einem Briefe Nietzsche’s. R. Strauß 
0165kennt keine ruhige einfache Linie, kennt überhaupt keine
0166Oekonomie der Mittel. Er entwickelt nicht das Einfache
0167zum Zusammengesetzten, er überfällt von vornherein mit
0168dem Verwickelten. Durch diese fortwährenden harmonischen
0169Verrenkungen, ablenkenden und deckenden Orchesterklänge
0170wird denn auch im Einzelnen der beste Einfall undeutlich,
0171wie ein Bild, das zu hoch aufgehängt ist. Aber es gibt
0172in „Feuersnoth“ nicht viel dieser besten Einfälle. Strauß’
0173Erfindung zeigt überhaupt wenig Eigenartiges in dieser
0174neuen Oper. Kein Gedanke, der uns mit der holden Ge-
0175walt der Melodie in Fesseln schlagen würde. Wo ein
0176Motiv sich glücklicher formt, dient es bestenfalls einer
0177Musik der nicht fortgesetzten Anfänge. Ob Strauß nicht
0178fortsetzen will oder nicht fortsetzen kann? Es gibt Stellen,
0179an denen er ganz unverkennbar vom Leitmotiv weg den
0180Pfad in die gegliederte Gesangsmelodie sucht. Man sehe
0181zum Beispiel die längeren Ausführungen Kunrad’s; er
0182kommt bald Marschnerisch nicht weiter, bald Wagnerisch
0183nicht. Oder die Chöre und Ensembles. Es singen die
0184Kinder, es singt das Volk. Da gälte es doch gesunde,
0185schlichte Einfälle. Aber bei Strauß sagen Kinder nicht die
0186Wahrheit; vielmehr Unwahres, Verschrobenes. Und die
0187mit contrapunktischer Lauge übergossenen volksthüm-
0188lichen Gesänge der braven Münchener! Mit der
0189giftigsten Harmonik und grimassirendsten Rhythmik
0190verfolgt Strauß die Ensembles. Das Tollste leistet die
0191Chorscene, die dem Verlöschen des Feuers folgt. Hier er-
0192lischt auch das letzte Stümpfchen Wohlklang. Die Finsterniß
0193auf der Bühne wird in der Musik zur egyptischen Plage.
0194Sehr pathetisch, aber nicht sehr eigenartig geberdet sich das
0195Liebespaar der Oper. Kunrad, der Langhaarige, Bleiche,
0196bekommt auch langhaarige, bleiche Leitmotive. Fräulein
0197Diemut könnte ein frisches schalkhaftes Gebilde werden,
0198sollte es wenigstens. Die Liebesscene ist mit allen Mitteln
0199auf die Schwüle der Mittsommernacht gestimmt. Das klingt
0200und rauscht, geräth aber doch viel zu schwer und pathetisch,
0201trotz des hübschen Flüstertrios der Gespielinnen, das in
0202diesen aufgeregten Tonschwall eingesprengt ist. Gerade
0203hieher gehörte eine lächelnde, leichtgefügte Lustspiel-
0204musik. Ein genaueres Eingehen in die Einzelheiten der
0205Oper wird man mir wol erlassen. Wie soll man detailliren,
0206wo Alles Detail ist? Wie die Tausende von Sternchen 
0207aufzählen, die hier unterschiedlos in der Monotonie der
0208Einen sauren Milchstraße aufgehen? Strauß ist kein
0209Dramatiker von Geburt. Der breite epische Schilderer, der
0210sich gerne in Seitenpfade verliert, schlägt vor. Strauß ist
0211kein eminenter Theatraliker wie Wagner, der gleichsam
0212selber agirte mit und in seinen Personen. Er erscheint uns
0213mehr wie ein Vorleser mit Wagner’scher Mimik. Auch den
0214letzten Sinn für dramatische Maße vermissen wir. Welch
0215maßlose Zerdehnung dieses einen Opernacts! Ja, bei Strauß 
0216sehen wir den neudeutschen dramatischen Styl beinahe schon
0217ad absurdum geführt. Die Tyrannei des Orchesters beginnt
0218bereits auch das dramatische Princip zu bedrohen.


0219Von der Aufführung der Novität, welche den Sängern
0220und Instrumentalisten die schwierigsten Aufgaben stellt,
0221kann man nur mit Bewunderung sprechen. Das Orchester
0222vollbringt da, unter Director Mahler’s Commando,
0223wahre Heldenthaten. Wer sich entschließt, die „Feuers-
0224noth“ ein zweitesmal mitzumachen, dem möchten wir em-
0225pfehlen, seine Aufmerksamkeit ganz und ungetheilt dem
0226Orchester zuzuwenden. Da kann er eine ununterbrochene
0227Kette seltener Orchester-Combinationen und Instrumental-
0228Effecte verfolgen und den Componisten von seiner glän-
0229zendsten Seite kennen lernen. Unter den Sängern verdienen
0230das erste Lob — die Kinder. Wir staunten, wie rein sie
0231die widerhaarigsten Intonationen im Eingangschor sangen,
0232ja daß sie überhaupt diese Musik auswendig zu
0233behalten vermochten. Gibt es keinen musikalischen
0234Kinderschutzverein? Die Oper enthält nur zwei
0235Hauptrollen; Fräulein Michalek ist eine reizende
0236Jungfer Diemut, Herr Demuth ein vornehmer, muster-
0237haft declamirender Kunrad. Sehr tapfer hielten sich die
0238Darsteller der vielen kleineren, ebenso schwierigen wie un-
0239dankbaren Nebenrollen. Ob die Oper einen wirklichen Er-
0240folg gehabt, möchten wir vorläufig nicht entscheiden. Das
0241Parquet verhielt sich nach dem Fallen des Vorhanges sehr
0242reservirt, aber die Galerie tobte in so gewaltigem unaus-
0243gesetzten Beifallslärmen, daß der Componist ein halbdutzend-
0244mal dankend auf der Bühne erscheinen mußte. Als Zugabe
0245zur Oper bekamen wir ein altes abgespieltes Ballet, „Rouge
0246et noir
“, zu sehen. Die feuergeprüften Zuhörer blieben
0247diesmal vollzählig auf ihren Plätzen und schienen bei dieser
0248einfachen, lustigen, miserablen Balletmusik förmlich auf-
0249zuathmen.