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Neue Freie Presse
Morgenblatt
Nr. 13465. Wien, Dienstag, den 18. Februar 1902

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Sanct Franciscus.“

Oratorium in drei Theilen von P. Hartmann v. An der Lahn-Hochbrunn.


0003Ed. H. Es mag vier Wochen her sein, daß verschie-
0004dene recht weltkundige Musiker Rosé’s Musikhandlung mit
0005der neugierigen Frage stürmten, wer denn der fremde
0006Mönch sei, welcher da in allen möglichen Formaten und
0007unzähligen Exemplaren im Schaufenster mitten unter den
0008bekanntesten Sängerinnen und Schauspielern prangt?
0009Einige Belehrung mit neuem Erstaunen brachten die riesigen
0010Anschlagzettel mit der Ankündigung von drei aufeinander
0011folgenden Aufführungen eines Oratoriums „Sanct Fran-
0012ciscus“ von Pater Hartmann im großen Musikvereins-
0013saale. Gleich drei Aufführungen eines Oratoriums, das,
0014wie der Componist selbst, hier kaum dem Namen nach
0015bekannt war! Welches Wunder! Man denke nur ein wenig
0016zurück und male sich das ungläubige Erstaunen aus, wenn
0017etwa Felix Mendelssohn im Jahre 1837 drei Auf-
0018führungen seines bereits in der ganzen Welt gefeierten,
0019nur in Wien noch unbekannten Meisterwerkes „Paulus“
0020angekündigt hätte! Immerhin — die Billette zur ersten
0021Aufführung des „Sanct Franciscus“ waren acht Tage vor-
0022her ausverkauft. Was konnte dem Componisten im vor-
0023hinein diesen unerhörten Antheil und Zulauf sichern?
0024Offenbar sein geistliches Gewand und der exotische Reiz,
0025einen Mönch sein eigenes Werk dirigiren zu sehen. Mit
0026dieser Vermuthung möchte ich selbstverständlich dem hoch-
0027würdigen P. Hartmann nicht nahetreten, dessen schlichtes,
0028echt bescheidenes Wesen ich voll aufrichtiger Freude
0029kennen und hochschätzen gelernt. Nur die weih-
0030rauchduftende Anticipando-Ekstase schien mir sehr auf-
0031fallend als ein merkwürdiges Zeichen der Zeit, wie
0032es namentlich in frommen höheren Gesellschaftskreisen
0033Wiens jetzt hervortritt. Wir haben ja Aehnliches
0034mit dem Abbate Perosi erlebt. Von der päpstlichen Curie
0035warm empfohlen, bei Hof und der Wiener Aristokratie
0036mit größter Auszeichnung empfangen und gefördert, sah
0037sich Abbé Perosi auch von unserem Publicum mit hoff-
0038nungsvoller Neugierde begrüßt. Gedrängt voller Saal,
0039stürmisch jubelnde Begrüßung. Den Musiker interessirte
0040Perosi’s „Lazarus“ durch die ungewohnte Fassung streng
0041biblischen Inhalts, ohne einen tieferen Eindruck zu hinter-
0042lassen. In vielen deutschen Hauptstädten (Berlin, Dresden,
0043Frankfurt) war das Werk beinahe durchgefallen, in Wien 
0044geschah eigentlich dasselbe. Sind doch vier Jahre seither
0045verflossen, und noch hat sich hier nicht das leiseste Verlangen
0046geregt, das so schmeichelhaft aufgenommene Oratorium des
0047berühmten Priesters wieder zu hören. Wie lautet doch das
0048hübsche arabische Sprichwort?
0049Man empfängt den Gast nach seinem Gewande /
0050Und entläßt ihn nach seinem Verstande. /


0051Wie P. Hartmann durch seinen geistlichen Stand an
0052Perosi, so erinnert er durch den Stoff seines Oratoriums
0053unwillkürlich an den „Heiligen Franciscus“ von Edgar
0054Tinel. Wir haben dieses Werk 1895 unter R.
0055v. Perger’s Leitung gehört. Der Inhalt und die ganze
0056Anordnung von P. Hartmann’s Oratorium stimmt so
0057genau mit dem „Franciscus“ von Tinel überein, daß
0058Manches über diesen Gesagte fast wörtlich auf Jenen
0059anzuwenden wäre. Nur die Exposition ist bei Tinel un-
0060gleich lebendiger, weltlicher. Wir sehen da Franciscus 
0061(den noch nicht „Heiligen“) in heiterer Geselligkeit mit
0062lebenslustigen Jünglingen verkehren; sogar ein „Tanz-
0063stück“ folgt dem fröhlichen Gesang der Gäste. Die Ge-
0064schichte gibt hier der Tinel’schen Auffassung Recht.
0065Franciscus (dessen eigentlichen Taufnamen Giovanni der
0066Vater in „Franciscus“ abänderte, wegen der Fertigkeit
0067des Sohnes im Französischen) hatte ein leicht erreg-
0068bares Herz und führte als Jüngling ein ausgelassenes Leben,
0069machte auch (1201) einen Kriegszug gegen Perugia mit.
0070Bei Tinel machte die sehr breit ausgeführte lustig lärmende
0071Exposition keinen guten Eindruck; sie stimmt nicht zu dem
0072Styl des Oratoriums, noch weniger zu der so plötzlich sich
0073anschließenden Bußfertigkeit des Helden. Nach meiner
0074Empfindung hat P. Hartmann besser gewählt, indem er 
0075das weltfreudige Vorspiel von Franciscus’ heiligem Leben,
0076das Tinel mit breitem Farbenpinsel ausmalt, nur flüchtig
0077mit zartem Bleistift andeutet. Für den reinen keuschen
0078Sinn P. Hartmann’s spricht es, daß er seinen Franciscus 
0079gleich als heiligen Mann einführt und auf das effectvolle
0080Vorspiel Tinel’s verzichtet. Von da an wandern aber
0081Tinel und P. Hartmann gleichen Schrittes. Die Handlung
0082in beiden Oratorien, wenn auch nicht das Wort, ist völlig
0083identisch. „Voll von Gottes Erleuchtung“ vertheilt Fran-
0084ciscus sein Geld unter die Armen, verläßt seine Genossen
0085und erwählt zu seiner Braut — die Armuth. Er stiftet
0086den Fransiscaner-Orden. Von da an besteht sein ganzes
0087Leben in Beten, Fasten und Predigen. Die zweite Ab-
0088theilung zeigt uns den Heiligen, der Welt völlig abge-
0089storben, beseligt von dem Wunder, daß die Wundmale
0090Christi sich an seinem Leibe wiederholen. Den dritten Theil
0091des Oratoriums füllt ausschließlich des Heiligen Sterben
0092und Begräbniß.


0093Tondichter und Franciscanermönch zugleich, fühlte
0094P. Hartmann sich fast unwiderstehlich gedrängt, gerade
0095seinen Ordensstifter und speciellen Heiligen in einem
0096Oratorium zu verherrlichen. So fromme Absicht konnte
0097aber nicht hindern, daß die breit ausgedehnte Dichtung in
0098eine Monotonie verfiel, welcher die Kunst kaum irgend
0099eines Componisten gewachsen erscheint. Liszt hat, wenigstens
0100in einem Clavierstück, dargestellt, wie der heilige Franciscus 
0101den Vögeln predigt — ein idyllisches Intermezzo, das
0102P. Hartmann sich leider hat entgehen lassen. Blos
0103von Frömmigkeit und Entsagung, von Beten und
0104Fasten kann selbst ein Oratorium nicht leben,
0105Der Held muß mit seinen heiligen Gesinnungen auch ein-
0106mal thätig an die Außenwelt herantreten, mit ihr in
0107Conflict gerathen. Man denke an Savonarola, der, ein
0108Prediger und Bettelmönch wie Franciscus und von gleichem
0109Eifer für die katholische Kirche erfüllt, sein kühnes Auf-
0110treten gegen die verderbte Clerisei und Aristokratie von
0111Florenz mit dem Leben büßte. Dem frommen Lebens-
0112wandel des demüthigen Franz von Assisi hingegen ist nie-
0113mals ein Stein in den Weg gelegt worden. Papst
0114Innocenz III. ertheilt ihm das Recht der freien Predigt;
0115er darf sogar vor Honorius III. predigen. Er lebt und
0116lehrt unbehindert und stirbt ruhig inmitten einer zahl-
0117reichen, ihn vergötternden Gemeinde. Nicht einmal
0118jenes Minimum dramatischen Interesses gewährt er uns,
0119das doch jedem Oratorium unentbehrlich ist. Bei P. Hart[2]-
0120mann bleibt Franciscus von Anfang bis zu Ende ein durchaus
0121passiver Charakter, welchen kein Kampf für seinen Glauben
0122aus der Ruhe seines Klosterlebens hinausruft. Der hoch-
0123würdige Componist wollte eben ein von allen weltlichen
0124Momenten losgelöstes, rein beschauliches Oratorium
0125schreiben; mehr für die Kirche als für den Concertsaal.
0126Diese Tendenz, der eminent ultramontane Charakter, äußert
0127sich auch noch darin, daß P. Hartmann sein Oratorium
0128in lateinischer Sprache singen läßt, obgleich der Partitur
0129eine brauchbare deutsche Uebersetzung unterlegt, und
0130P. Hartmann als guter Deutscher geboren und erzogen
0131ist wie seine Wiener Zuhörer. Dem Werke gedeiht es
0132keineswegs zum Vortheil, wenn es in einer fremden,
0133obendrein todten Sprache gesungen, also dem Verständniß
0134und intimeren Antheil des Hörers gewaltsam ent-
0135zogen wird.


0136Näher herantretend an die Musik von P. Hartmann’s
0137Oratorium, sehen wir uns abermals an dessen Verwandt-
0138schaft mit dem „Franciscus“ von Tinel gemahnt. Letzterer
0139ist farbenreicher, moderner, aber ungleichartiger in
0140seinen einzelnen Theilen, als das Werk P. Hartmann’s
0141das durchaus ebenmäßig dahinfließt. Tinel bietet das
0142ganze Rüstzeug des modernen Orchesters auf; kein Liszt-
0143Wagner’scher Effect ist ihm unbekannt, mit keinem geizt
0144er. Damit wirkt er allerdings in der ersten, weltlicher ge-
0145färbten Abtheilung, verhindert aber nicht im zweiten und
0146dritten Theil unseren Sturz in einen wahren Abgrund
0147von Langweile. Während Tinel auf Kosten der Styl-
0148einheit zahlreiche Anklänge an weltliche Compositionen von
0149Berlioz, Meyerbeer, Gounod heranzieht, hält P. Hart-
0150mann sich dergleichen Einflüsse streng vom Leibe, über-
0151schreitet nicht um eine Linie das kirchliche Decorum. Sein
0152Sanct Franciscus“ ist einförmiger, weltfremder, als der
0153Tinel’s; trotzdem hat er mich mehr angesprochen, fast
0154weniger gelangweilt. Es liegt dies in dem eigenartigen,
0155nicht näher zu definirenden Zug von Ehrlichkeit und Ueber-
0156zeugung in P. Hartmann’s Musik. Einfach und prunklos
0157spricht er aus, was ihm auf dem Herzen liegt; er macht
0158kein Anlehen bei anderen Componisten und will sich nicht
0159größer strecken, als er gewachsen ist. Entschieden Indivi-
0160duelles, höchst Persönliches klingt allerdings nicht aus seiner
0161Musik heraus. Niemand wird sie als „genial“ charakterisiren,
0162aber auch Niemand ein falsches Genialthun ihr vorwerfen.
0163Manche bewährte kirchliche Redewendung gebraucht er ohne -
0164weiters, bleibt aber einig in sich und fern von jeder Gefall-
0165sucht. Sein „Franciscus“ ist weniger Oratorienmusik, wie
0166sie seit Haydn und noch mehr seit Mendelssohn sich heran-
0167gebildet hat, als vielmehr Kirchenmusik. Allerdings
0168bringen die katholische Messe und das Requiem in viel
0169engerem Rahmen doch weit mehr und stärkere Contraste
0170(man denke blos an das „Dies irae“!), als der
0171Heilige Franciscus“ enthält und dem Texte nach enthalten
0172konnte. Von P. Hartmann’s Oratorium scheiden wir
0173ohne Begeisterung, aber mit einem harmonischen, würdigen
0174Eindrucke. Die unerbittlich strenge, einheitlich geschlossene
0175Haltung des ganzen Werkes macht es schwer, fast auch
0176überflüssig, einzelne Stücke daraus losgelöst zu besprechen.
0177P. Hartmann will nicht durch Einzelheiten wirken, er
0178möchte überhaupt (wie einst Händel von seinem „Messias“
0179sagte) seine Zuhörer nicht ergötzen, sondern bessern. Dennoch
0180ist mehr als Ein Vorzug an dem Oratorium her-
0181vorzuheben. Zunächst die schöne, stimmgemäße Führung
0182der Singstimmen, denen Unsangliches nirgends zugemuthet
0183wird. Sodann die klangvolle Instrumentirung, die gleich-
0184falls nicht durch vordringliche Soli zu gefallen
0185sucht — man denke an die unermüdliche Trompete bei
0186Don Perosi! Nur ganz zum Schluß, bei dem
0187Tode des heiligen Franciscus, zieht er die Harfe herbei,
0188und hier ist dieses Verklärungs-Instrument an seinem
0189erbgesessenen richtigen Platz. Der musikalische Satz bleibt
0190durchwegs rein, wohlklingend und ungezwungen, selbst in den
0191polyphonen Geweben und den fugirten Stücken. Im
0192Ganzen also ein würdiges, sympathisches Werk, weniger
0193fürs Concert als für die Kirche geschaffen, weniger für
0194den Musiker als für die Frommen. Mit noch größerem
0195Recht als einst Oskar v. Redwitz dürfte P. Hartmann unter
0196sein Porträt die Verse setzen:
0197Am Kreuze hängt mein Saitenspiel, /
0198Den Herrn zu preisen ist mein Ziel. /


0199Die Aufführung des Oratoriums hat allgemein sehr
0200befriedigt. P. Hartmann bewies als Dirigent eine
0201überraschend geübte Hand; energisch leitete sie das Ganze,
0202ohne einen einzigen Einsatz des einzelnen Sängers oder
0203Spielers zu übersehen. Die vier Solopartien waren mit
0204Frau Gutheil-Schoder, Frau Hilgermann, den
0205Herren Schmedes und Frauscher vortrefflich besetzt.
0206Der Beifall erscholl einhellig und enthusiastisch.