Wörter einzeln suchen

Neue Freie Presse
Morgenblatt
Nr. 13477. Wien, Sonntag, den 2. März 1902

[1]

Hofoperntheater.

(Der „dot mon“. Fastnachtsspiel von Hans Sachs. Musik von Joseph Forster.)


0003Ed. H. Der „todte Mann“ dürfte bald auf vielen
0004Opernbühnen lebendig werden. Eine glückliche Idee von
0005Joseph Forster, gerade dieses mehr als dreihundert Jahre
0006alte Stück aus den sechzig Fastnachtsspielen des unerschöpf-
0007lichen Nürnberger Schusters herauszugreifen und zu com-
0008poniren. Auch ganz abgesehen von der Musik ein köst-
0009liches Sittenbild. Bald heiter gemüthlich, bald satirisch 
0010sprudelt es in seiner alterthümlich derben, zutreffend naiven
0011Sprache auffrischend in unser modernes Opern-Repertoire.
0012Die erste Scene spielt nur zwischen den beiden Hauptpersonen.
0013Der Mann liegt schläfrig auf einer Sauhaut und
0014schmollt mit seinem Weibe, das ihn mit ihrem wieder-
0015holten „Mein lieber Mann“ schmeichelnd zu besänftigen
0016sucht. Sie rühmt sich ihrer großen Liebe und will ihm,
0017wenn er stirbt, ihren rothen Rock in den Sarg mitgeben.
0018Schließlich versöhnen sich die Beiden aufs zärtlichste, und
0019das Weib geht mit dem großen Wäschkorb zur Bleiche. Der
0020Mann streckt sich auf sein Lager nieder und schläft ein.
0021Im Traum sieht er den Himmel sich öffnen; Engelein
0022tanzen zierlich auf und nieder und der heilige Petrus begrüßt
0023ihn in Person. Da kommt sein Weib eiligst in den Himmel
0024nachgelaufen; der heilige Petrus macht den Wirth und
0025stellt ein gedecktes Tischchen vor die Beiden, welche
0026tapfer schmausen und die Malzeit mit einer liebe-
0027vollen Umarmung beschließen. (Dieses durchaus pan-
0028tomimische Zwischenspiel steht nicht in Hans Sachsens
0029Original, sondern ist vom Componisten geschickt
0030eingeschoben, um einige Abwechslung und eine längere
0031Pause zwischen dem Abgang und der Wiederkehr der Frau 
0032zu gewinnen.) Der Traum zerrinnt. Der Mann, allein,
0033wird nachdenklich und beschließt, um die Liebe seiner Frau 
0034zu erproben, sich todt zu stellen. Das Weib kommt zurück,
0035hält ihn wirklich für todt und stößt einige Rufe des Er-
0036schreckens aus. Sie möchte die Nachbarn rufen, aber da
0037käme sie in dem Wirrwarr nicht mehr zum Essen. „Soll
0038ich vor (zuvor) wein (weinen) oder vor essen?“ Sie wählt
0039das Letztere, denn „Nüchtern tanzen und nüchtern weinen,
0040ist gar nie wol bekummen Keinen.“ Die Nachbarin kommt,
0041dann der Nachbar. Das Weib heuchelt anfangs großen Schmerz,
0042dann kommt ihr Geiz und Egoismus immer lauter zu Wort.
0043Ihren rothen Rock, den sie dem Todten ins Grab mitzugeben
0044versprochen, will sie für eine zweite Heirat sich aufbewahren,
0045den Mann aber in der Sauhaut begraben lassen. All’ ihr
0046Vieh, versichert sie den Nachbar, hätte sie lieber sterben
0047sehen, „Vogel, Hund und Katze, Mäuse und ein Dutzend
0048Ratzen, Wanzen, Flöh’ und Läuse — die wollt’ ich alle
0049darumb geben, das mein lieber Hans nocht tät leben!“ Sie
0050will aber für das Begräbniß kein Geld opfern — keine Kränze, 
0051kein Glockengeläute, weil er kein Gepränge liebte. Der
0052Mann, immer ergrimmter über die Reden seines Weibes,
0053hält in seiner Verstellung nicht länger aus, springt zum
0054Schrecken aller Umstehenden plötzlich auf und macht sich
0055Luft in zornigen Worten. Charakteristisch ist, was ihn
0056zuerst und am meisten betrübt:
0057Du Weib, das will ich dir fein sagen, /
0058Du hast fünf Eier ins Schmalz geschlagen, /
0059Bist in der Stuben d’rüber g’sessen /
0060Und hast sie alle ’raus gefressen. /
0061Hast danach ein’ Maß Wein ’rauf tragen, /
0062Die hast gesuffen in dein Kragen. /


0063Die Handlung steht hier auf dem gefährlichen Punkte,
0064ins Tragische zu überschlagen. Da rettet ein köstlicher Ein-
0065fall die Stimmung und führt sie heil zum Frohsinn zu-
0066rück. Schlagfertig antwortet das Weib auf die Vorwürfe
0067ihres Mannes: sie habe ja sofort erkannt, daß er nur
0068Comödie spiele; durch ihr Betragen dachte sie ihn nur zu
0069necken und zu strafen. Ja, wenn er wirklich stürbe, da
0070wollte sie sich ganz anders benehmen. „Versuchs nur!“
0071lautet die köstliche Pointe ihrer Vertheidigungsrede. Die
0072Nachbarn sprechen nun alle dem Manne beschwichtigend zu;
0073er glaubt ihnen und Alles löst sich in Zufriedenheit und
0074Wohlbehagen auf.


0075Es ist seit Hans Sachs ein vielfach benütztes Lust-
0076spielmotiv, daß Einer sich todt stellt, um die Anderen zu
0077beobachten oder zu foppen. In der Opernliteratur finden
0078wir es bei C. M. Weber. Seine komische Oper „Abu
0079Hassan
“ — wie trefflich war unser Georg Müller 
0080in der Titelrolle! — bringt statt des todten Mannes ein
0081verschmitztes todtes Ehepaar. Auch in neuester Zeit hat
0082G. Schillings in seiner Oper „Der Pfeifertag“ das
0083gleiche Motiv benützt. Der „dot Mon“ ist eine allerliebste
0084Posse, voll echten derben Humors. Die Reden der vier
0085Personen gestaltet Hans Sachs so einzig charakteristisch,
0086daß es eigentlich schade ist, sie durchaus gesungen zu hören, also
0087größtentheils undeutlich. Das ist der Ruhm und die Gefahr
0088guter Dichtungen, daß sie mit Vorliebe componirt werden.
0089Das Wort wird von der Tonfluth zugleich gehoben und
0090ertränkt. Man konnte Hans Sachs, den unser Opern-
0091publicum nur aus Richard Wagner’s stark idealisierenden [2]
0092Meistersingern“ kennt, nicht besser bei uns einführen, als
0093mit seinem „dot Mon“. Goethe, der in dem Gedicht
0094Hans Sachs’ poetische Sendung“ dem alten Poeten das
0095ehrendste Denkmal gesetzt hat, erklärte dessen Fastnachts-
0096spiele „der Nachahmung und Aufführung werth“. Und mein
0097berühmter College Wilhelm Scherer erklärte ihn in seinen
0098Wiener Vorlesungen für das größte rein poetische Talent
0099seit den Minnesängern. Hans Sachs, fuhr Scherer 
0100fort, hatte, obgleich Protestant, nicht das kriege-
0101rische Temperament eines Hutten. Ihm weckte nicht
0102der Zorn die poetische Stimmung. Seine Seele blieb
0103rein von Haß. Er wußte sich in seinem Innern
0104einen Tempel des Friedens zu erbauen, wohin die Stürme
0105des Tages nicht drangen. Aus dem Frieden der Seele
0106floß ihm die Kraft des behaglichen Bildens. Er sah die
0107Welt mit reinem Blick und mit selbstloser Versenkung;
0108und was er beobachtet hatte, das wußte er auch in Worte
0109zu kleiden. Alle Formen hat er benützt, um mannigfaltige
0110Kenntnisse in weitere Kreise zu bringen. Er war insoferne
0111ein Lehrer seines Volkes, und seine Lehre kam tröstend
0112und versöhnend aus einem milden Gemüthe. Seine
0113eigentliche Kunst besteht im Schildern. Er schildert Alles,
0114was äußerlich wahrgenommen werden kann: leblose Dinge,
0115Beschäftigungen, Affecte. Speciell von dieser Seite seiner
0116Kunst haben wir jetzt im „dot Mon“ die köstichsten Bei-
0117spiele erhalten.


0118Herr Joseph Forster wolle mir verzeihen, daß ich so
0119lange bei seinem Textdichter verweilte. Ist doch Hans
0120Sachs über dreihundert Jahre alt, somit unserem Publicum
0121weitaus nicht in so deutlicher Erinnerung, wie der gottlob
0122lebendig und rüstig unter uns weilende Componist der
0123beiden erfolgreichen Ballette „Die Assassinen“, „Der Spiel-
0124mann“ und der einartigen Oper „Die Rose von Ponte-
0125vedra“. Letztere hat bekanntlich bei der Preisausschreibung
0126des Herzogs Ernst von Coburg-Gotha den Sieg über
0127120 Concurrenten davongetragen. Der „todte Mann“
0128ist mir lieber. Wie in der „Cavalleria“ und den
0129Pagliacci“ ist es in der „Rose von Pontevedra“ das
0130Messer, welches den unentwirrbaren Knoten der Handlung
0131durchschneidet. Die Leichen liegen beim Fallen des Vor-
0132hanges nur so herum. Ich erlaubte mir damals den Vor-
0133schlag, es wären bei künftigen Preisausschreibungen 
0134die Handlungen, deren Lösung durch das Messer erfolgt,
0135ausdrücklich vom Wettbewerb auszuschließen. Im „dot
0136Mon“ spielt kein Messer und keine Flinte mit, und der
0137Titelheld ist ebensowenig todt oder todtkrank wie Forster’s
0138Musik. Diese erfreut sich im Gegentheile rother Wangen
0139und rüstiger Glieder. Schade nur, daß der hübschen Oper
0140eine Ouvertüre vorausgeht, die in ihrer anspruchsvollen
0141Länge und Vornehmthuerei eine falsche Vorstellung gibt
0142von dem heiteren Fastnachtsspiel. Ihre pathetische Ein-
0143leitung klingt, als käme Lohengrin nicht mit Einem, son-
0144dern mit vier Schwänen herangezogen. Ein anderes Stück
0145übel angebrachter Wagner-Tragik ertönt im Orchester,
0146als der Bauer sich schläfrig auf die Sauhaut legen will:
0147ein sich fünfmal auf immer höherer Tonstufe wieder-
0148holendes einschneidend chromatisches Motiv, etwa im Ton
0149von Tristan’s Sterbescene. Möchten doch unsere jüngeren
0150Componisten einsehen, daß wir solch bekannter Wagner-
0151Klänge aus zweiter Hand längst überdrüssig ge-
0152worden sind.


0153Mit dem ersten Duett bringt uns der Componist
0154wieder in die allerbeste, in die allein richtige Stimmung.
0155Das reizende Thema: „Du lieber Mann!“, womit das
0156Weib den Schmollenden immer von neuem besänftigt, er-
0157klingt auch in unauffälliger, geistreicher Anwendung als
0158Erinnerungsmotiv an einigen Stellen der Oper. Dieses
0159Eingangsduett in seiner warmen, durchsichtigen Klarheit
0160ist die Perle des ganzen Werkes, das noch manches Hübsche
0161bringt, aber doch häufig aus dem so glücklich angeschlagenen
0162einfach naiven Ton herausfällt. Nur zu oft verschlingt
0163das Orchester mit seinem unermüdlich geigenden und
0164blasenden Hochmuth das Wort und den Gesang. Die
0165Orchester-Begleitung in Lortzing’s und Auber’s Spielopern
0166wäre für solche Aufgaben mit Vortheil zu studiren. Als ein er-
0167freuliches Seitenstück zu jenem Duett wäre allenfalls das kleine
0168Terzett in Es-dur hervorzuheben, welches dem unerwarteten
0169zornigen Aufspringen des Todtgeglaubten vorangeht. Die
0170hier besonders wichtigen Worte des Mannes verschwinden
0171leider unter den unbarmherzigen Deckfarben des Orchesters.
0172Der Schlußgesang „der Weiber Lieb’ darf nit durch List
0173und Ränke wern angfacht“ biegt wieder glücklich in die
0174schlichte Gemüthlichkeit des Anfangs ein. Es ließe sich
0175noch manches gelungene Detail hervorheben, aber auf 
0176„schöne Einzelheiten“ war der Componist offenbar nicht
0177ausgegangen. Ja, er ist so besorgt um den einheitlichen
0178Charakter seiner Musik und den historischen alten Adel
0179der Dichtung, daß er die beiden Chorlieder („Dort nieden
0180an dem Rhein“ und „Das Hirn macht er ersaufen“) alten
0181Tabulaturbüchern aus dem 16. Jahrhundert unverändert
0182entnimmt.*)


0190Ob Forster mit dieser historischen Treue wohlgethan,
0191möchte ich fast bezweifeln; er hätte gewiß minder steife,
0192frischere Melodien selbst erfunden, — und ist doch alles
0193Uebrige modern Forster’sche Musik!


0194Die von Director Mahler liebevoll einstudirte
0195und dirigirte Novität hat die günstigste Aufnahme ge-
0196funden. Enthusiastischer Jubel war allerdings kaum zu
0197erwarten für das naive Stück, das nicht mit Sensation
0198und Secession arbeitet. Hoffentlich wird der „todte
0199Mann“ noch zahlreiche Auferstehungen bei uns erleben.
0200Wie viele, das läßt sich nach dem Applausspectakel einer
0201Première niemals vorhersagen. Man denke an R. Strauß’
0202Feuersnoth“ und die unzähligen Hervorrufe des
0203Autors. Erstaufführungen in Gegenwart des Componisten
0204spielen nicht vor einem Publicum, das urtheilen, sondern
0205vor einem, das unbedingt hervorrufen und applau-
0206diren will.


0207Forster’sdot Mon“ zählt zu den allerbesten
0208Vorstellungen des Hofoperntheaters. Frau Gutheil-
0209Schoder
, eine vollendete Schauspielerin, wie man sie
0210selten an einer Opernbühne finden wird, singt und spielt
0211mit hinreißender Lebendigkeit. Sie wird von Frau
0212Hilgermann (deren deutliche Aussprache ein specielles
0213Lob verdient), den Herren Stehmann und Breuer 
0214vortrefflich unterstützt. Die Sänger und Herr Forster 
0215wurden wiederholt stürmisch gerufen. Auch das den Abend
0216vervollständigende Ballet Forster’sDer Spielmann“
0217erntete reichlichen Beifall.

Fußnoten
  • *)Wir kennen die Melodie aus dem ehemals beliebten Sing-
    spiel „Der engelländische Roland“ (1599 gedruck), welches gleichfalls
    einen sich todtstellenden Ehemann zum Helden hat. Diese Melodie
    erscheint auch in dem Virginalbuch der Königin Elisabeth (nach 1620),
    gesetzt von William Bird. Sie ist in Holland viel gesungen,
    erscheint auch in deutschen Lautenbüchern unter dem Titel:
    „O Roland, lieber Roland.“