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Neue Freie Presse
Morgenblatt
Nr. 13500. Wien, Dienstag, den 25. März 1902

[1]

Geistliche Musik.

(„Maria Magdalena“ von J. Massenet. „Stabat mater“ von Rossini.)


0003Ed. H. Der Palmsonntag ist diesmal mit Massenet’s 
0004Oratorium „Maria Magdalena“ musikalisch gefeiert worden.
0005Neu für Wien, ist das Werk doch schon an 30 Jahre alt.
0006In Paris von allem Anfang mit großem Beifall begrüßt,
0007hat es denselben sich bis heute bewahrt. Der geistvolle Musik-
0008kritiker Camillo Bellaigue schloß damals seine ein-
0009gehende Besprechung mit dem Satze: „Voilà ce que
0010de nos jours la musique d’oratorio a produit de plus
0011parfait.“ Er leugnet nicht die Kluft, welche Massenet’s
0012Werk von den classischen Oratorien trennt. „Aber,“ fährt
0013er fort, „ist die Kunst Bach’s und Händel’s Gott näher
0014gestanden, als die unsere? Ich glaube es nicht. Gleichviel
0015indessen. Genießen wir die verschiedenen Anschauungen und
0016die wechselnden Schönheiten, welche der menschliche Geist
0017in der Idee des Göttlichen entdeckt. Massenet’s „Maria 
0018Magdalena“ ist vielleicht kein Werk des strengen Glaubens,
0019wol aber — und das genügt — ein Werk der Poesie,
0020der Ehrfurcht und der Liebe.“


0021Einen so starken, tiefen Eindruck wie auf die
0022Pariser Hörer und Kritiker hat Massenet’s Oratorium auf
0023uns keineswegs hervorgebracht. Daß es „kein Werk des
0024strengen Glaubens“ ist, würde uns wenig anfechten, wäre
0025es nur ein Werk von starker Ursprünglichkeit und genialer
0026Kunst. Aber es will uns weder groß noch gewaltig
0027erscheinen, noch besonders erfindungsreich. Zu den neu-
0028testamentlichen Oratorien Händel’s und Bach’s verhält es
0029sich ungefähr wie das „Leben Jesu“ von Renan zu dem
0030gleichnamigen Buche unseres Fr. David Strauß. An
0031Renan mußte ich unwillkürlich mehr als einmal denken;
0032sein Cultus der „nature idyllique et douce de Jésus“
0033klingt vernehmlich in Massenet’s Schilderung des Heilands
0034wieder. „Maria Magdalena“ gehört zu jenen immer
0035zahlreicher auftauchenden modernen Oratorien, welche uns
0036die heiligen Gestalten und Geschichten der Bibel mehr von
0037ihrer menschlich schönen, rührenden Seite zuwenden.
0038Auch in Massenet’s Oratorium „Eva“, an das wir
0039ohne Begeisterung zurückdenken, war es die idyllische
0040Schilderung des Paradieses und des ersten Menschenpaares,
0041was den Componisten so lebhaft anzog. Diesem Tonwerke
0042ist „Maria Magdalena“ entschieden überlegen, sowol was
0043den Stoff als dessen musikalische Ausgestaltung betrifft.
0044Mit den gesungenen Liebes- und Ehestands-Dialogen
0045zwischen Adam und Eva vermögen wir kaum mehr mitzu-
0046fühlen; seit den Tausenden von Jahren, da Eva den
0047Apfel vom Baume der Erkenntniß gepflückt, haben wir
0048selbst gar zu viele von diesen Aepfeln verspeist. Hingegen
0049folgen wir dem rührenden Verkehr des Hei-
0050lands mit Maria Magdalena voll innigem Herzens-
0051antheil. Massenet hat den ihm so sympathischen Stoff
0052durchwegs dramatisch gestaltet. Die störende Zwischenfigur
0053des Erzählers oder Evangelisten fällt hier weg; sie
0054hat noch in der „Eva“ die Reden des Herrn und der Eva 
0055substituiren müssen. Die meisten Scenen in Massenet’s
0056Maria Magdalena“ bieten ein so lebensvolles plastisches 
0057Bild, daß man dem Verlangen kaum wehren kann, sie auf
0058einer Bühne mit den hier unersetzlichen Hilfsmitteln der
0059Decoration und des Costüms zu schauen. Wie alle fran-
0060zösischen Componisten ist Massenet geborener Dramatiker.
0061Nach der Oper hat die Magnetnadel des französischen
0062Talents von jeher gezeigt. Massenet’s „Manon“ und
0063Werther“ stehen sehr, sehr hoch über seinen Oratorien.
0064In „Maria Magdalena“ kann Massenet auch von theatra-
0065lischen Aeußerlichkeiten sich nicht frei machen; er gibt ge-
0066naue Anweisungen über die Scenerie und über das stumme
0067Spiel der Personen. Wenn er vorschreibt, „Judas erscheint
0068plötzlich unter der Menge und grüßt die Magdalena unter-
0069würfig“, oder „Jesus wendet sich zum Volke, auf die ver-
0070weinte Magdalena deutend“, so hat das Alles für eine Con-
0071certaufführung keinen Sinn. Darum schrieb Ernest Reyer, der
0072Nestor der französischen Musikkritik, schon vor Jahren:
0073„Wenn ich die beneidenswerthe Ehre hätte, eines unserer
0074großen Operntheater zu leiten, würde ich den Autoren von
0075Maria Magdalena“ vorschlagen, ihr geistliches Drama
0076mit Decorationen und Costümen aufführen zu lassen. Nichts
0077könnte die große Wirkung dieser Darstellung beeinträchtigen,
0078außer etwa die Schlußscene auf Golgatha. Man müßte,
0079um die Empfindlichkeit der Zuschauer zu schonen, blos die
0080langen Schatten der drei Kreuze auf den Hintergrund
0081projiciren, wie in dem berühmten Gemälde von Gérôme.“
0082Ein schöner Gedanke, der wol noch lange seiner Verwirk-
0083lichung entgegenharren wird, trotz der Vorbilder von Ober-
0084ammergau und der sehr durchsichtigen biblischen Scenen
0085im „Parsifal“. Zur Stunde sieht das Publicum noch
0086immer lieber einen stutzerhaften Christus in Frack und
0087weißer Cravate als eine würdige Verkörperung des
0088Heilands.


0089Für Massenet’s Talent, nebstbei auch für seine Zeit,
0090ist die Wahl der Maria Magdalena zum Mittelpunkt eines
0091Oratoriums bezeichnend. Ehedem besang man die Helden
0092und Krieger, Samson und Judas Maccäbus, die Leiden
0093oder Thaten Israel’s. Was uns heute anzieht, ist die
0094Gestalt einer Frau, die Begegnung und der herzliche
0095Verkehr der Sünderin mit dem Heiland. Selbst bei den [2]
0096Frömmisten hat der Glaube im Lauf der Jahrhunderte
0097sich leicht verschoben, er strömt mehr als sonst vom Herzen
0098aus. Das hat Massenet wohl erfaßt und empfunden. Am
0099nächsten Gounod verwandt, besitzt er dessen feine, etwas
0100sinnliche Sentimentalität und damit die Herrschaft über
0101die träumerischen, schwermüthigen Seelen. Man darf von
0102ihm keine heroischen Accente starker Männlichkeit ver-
0103langen, keine Schilderung aufgeregter Volksmassen, kriege-
0104rischer Heldenthaten. So wurde denn seine „Maria
0105Magdalena“ nicht eine Offenbarung genialer Kraft
0106und Ursprünglichkeit, wol aber ein liebenswür-
0107diges, in seinen Grenzen sich bescheidendes Bild,
0108das immerhin eine Bereicherung der neueren, ins Weltliche
0109hinüberspielenden Oratorien-Literatur bedeutet. An An-
0110klagen von Seite der streng Kirchlichen wird es Massenet 
0111ebensowenig fehlen, wie es Rossini, Gounod und Verdi 
0112daran gefehlt hat. Die geistlichen Compositionen der Fran-
0113zosen und Italiener sollen wir aber nicht mit deutschem,
0114am wenigsten mit dem norddeutschen Maßstab messen.
0115Jede Nation hat wie ihr eigenes Temperament so ihre
0116eigene Art des Cultus und der Religionsauffassung. In
0117italienischen Kirchen hören wir heitere Opernmelodien auf
0118der Orgel spielen — dort stören sie Niemanden. Hin-
0119gegen finden die Südländer deutsche Kirchenmusik, vollends
0120Händel und Bach, ungenießbar, gemüthlos; sie löst ihnen
0121keine Empfindung aus. Gehen wir voran mit dem guten Bei-
0122spiel der Duldsamkeit, und wo wir an der besten geistlichen
0123Musik unserer Nachbarn das Geistliche unzulänglich
0124finden — halten wir uns an die Musik.


0125In fast ängstlicher Scheu vor der Bezeichnung Ora-
0126torium nennt Massenet seine Maria Magdalena „un
0127drame religieux“, wie er denn auch seine Eva „un
0128Mystère“ und sein letztes Oratorium La vierge „une
0129Légende sacrée“ betitelt. Möglichst bibelgetreu hat der
0130Textdichter Louis Gallait die Scenen aus dem Neuen
0131Testament zusammengerückt, in welchen Maria von
0132Magdala die Hauptperson ist. Sie beherrscht, sie erfüllt
0133das Ganze. Martha verschwindet neben ihr. Judas stört
0134beinahe. Jesus allein glänzt an der Seite Magdalena’s 
0135als Verkörperung der Frömmigkeit und des himmlischen
0136Mitleids. Das Werk hat vier Theile. Der erste, beschreibend
0137und malerisch, spielt bei untergehender Sonne in einer
0138Landschaft nahe den Thoren der alten Stadt Magdala.
0139Pharisäer, Schriftgelehrte, Weiber aus dem Volke gehen
0140vorüber und rasten unter den Palmen. Eine süße Müdig-
0141keit erfüllt diese Scene und den F-dur-Chor „C’est l’heure
0142du repos“. Maria von Magdala, die reuige Sünderin,
0143welche den Namen ihres armseligen Städtchens in der Welt
0144so berühmt gemacht hat, nähert sich zaghaft, schwermüthig.
0145Das Volk verhöhnt sie mit dem Ruf: „Schande über dich!“
0146Zweimal ruft sie angstvoll nach Jesus; zum Schluß jedesmal
0147mit einem starken Aufschwung von Leidenschaft. Wir er-
0148innern uns unwillkürlich, daß sie, nach den Vorstellungen
0149ihrer Zeit, von sieben Dämonen besessen war, also von
0150anscheinend unerklärbaren Nervenleiden. Jesus tritt auf,
0151theilt mit gebietender Geberde die Menge und beschützt
0152Magdalena, die sich ihm zu Füßen wirft. Er tilgt die
0153Vergangenheit der Büßenden mit den tröstenden Worten:
0154„Mein Vater vergibt dir, sein Name sei geheiligt.“ Der
0155zweite Theil (oder „Act“, wie es im Textbuch heißt) führt
0156uns in das Haus der Magdalena, wohin Jesus zu kommen
0157versprochen. Die Schwester Martha streut Blumen und
0158entzündet Spezereien; die bescheidene Wohnung ist in
0159einen Tempel umgewandelt. Der moderne Geschmack ver-
0160langte hier auch musikalisch ein wenig Farbe. Jesus er-
0161scheint unhörbar auf der Schwelle und empfängt schweigend
0162die Huldigung der beiden Frauen, deren anfangs ganz unbe-
0163gleiteten zweistimmigen Gesang später ein Violoncell ergänzt.
0164Es folgt ein Duo zwischen Magdalena und Jesus, gewiß
0165zu kühl für eine Oper und doch wol etwas zu warm für
0166ein Oratorium; den Act beschließt ein Gebet Jesu mit
0167seinen Jüngern, das uns an dieser Stelle nicht recht
0168motivirt erscheint. Im dritten Theile, dem gelungensten,
0169wirksamsten des Oratoriums, befinden wir uns auf Gol-
0170gatha. Jesus ist an das Kreuz geheftet; Priester, Sol-
0171daten und Henkersknechte verhöhnen ihn mit dem Zurufe:
0172„König der Juden!“ und erschweren so die Sterbestunde
0173des für sie Betenden. Die Erscheinung des aus dem Grabe 
0174Auferstandenen vor Maria Magdalena und den frommen
0175Frauen in der Begräbnißhöhle bildet den Schluß des
0176Oratoriums. Die schmerzerfüllte Klage (C-moll 6/8)
0177Magdalena’s am Fuße des Kreuzes und ihr von Thränen
0178erstickter Gesang im Grabgewölbe (A-moll, quasi una
0179marcia funebra) sind von zarter, tiefer Empfindung und
0180wol das Beste in dem ganzen Werke.


0181Das Oratorium war von einem überaus zahlreichen
0182und dankbaren Auditorium besucht. So oft Massenet 
0183mit seiner ungezwungenen, natürlichen Liebenswürdigkeit
0184nach allen Seiten hin dankte und mit der Hand grüßte,
0185wiederholte sich die herzlichste Ovation. Die Aufführung,
0186von Massenet selbst als ganz vortrefflich gerühmt, hat
0187diese Anerkennung vollkommen verdient. Er konnte in der
0188That sich kaum bessere Solosänger wünschen, als die
0189Damen Kurz und Walker, die Herren Naval und
0190Demuth. Desgleichen kein vollkommeneres Orchester und
0191Chor-Ensemble als das unserer Hofoper.


0192Auf Massenet’s Oratorium folgte am nächsten Abend
0193Rossini’sStabat mater“. Das Werk übte diesmal
0194einen besonderen Reiz durch Mascagni als Dirigenten
0195und die italienischen Sänger, welche eigens zu dieser Auf-
0196führung nach Wien gekommen waren. Die Composition
0197selbst bedarf nicht mehr der kritischen Beleuchtung; man
0198hat ob ihrer glänzenden Schönheiten sich längst und willig
0199mit ihren Schwächen abgefunden. Rossini’s altes „Stabat“
0200hat heute viel stärker gewirkt, als Tags vorher Massenet’s
0201Maria Magdalena“ mit all ihrem Reiz der Neuheit. Ein
0202streng rituales Kirchenstück, ist es von Rossini doch viel
0203weltlicher componirt als Massenet’s religiöses Drama;
0204weltlicher, aber musikalisch stärker, genialer, ideenreicher.
0205In solchen Fällen wird immer die Kunst über die Kirche
0206siegen. Das Bedürfniß der Kirchengläubigen ist ein anderes
0207als das der Musikfreunde. Selten fallen die Beiden voll-
0208ständig zusammen. Wo dies nicht der Fall, da ziehen wir
0209das musikalisch bedeutendere Werk dem blos kirchlich
0210correcten vor. Ich glaube, Rossini’s „Stabat“ wird uns [3]
0211noch lange erfreuen, wenn von Massenet’s Oratorien nur
0212mehr ein flüchtiges Erinnern zurückgeblieben ist.


0213Wien kennt Rossini’s „Stabat“ seit 60 Jahren. Am
021431. Mai 1842 wurde es zum erstenmale im großen
0215Redoutensaale unter Donizetti’s Leitung von
0216den ersten Gesangskräften unserer italienischen Sta-
0217gione gesungen. Unvergeßlich ist mir eine etwas
0218spätere Aufführung geblieben, welche zu einem un-
0219erhörten Triumph Rossini’s erwuchs und zugleich zu
0220einer trostlosen Niederlage — Joseph Haydn’s. In der
0221Charwoche 1857 hatte der „Wiener Chorregenten-Verein“
0222eine geistliche Akademie im Theater an der Wien veran-
0223staltet, welche aus Haydn’s „Sieben Worte des Heilands
0224am Kreuz“ und aus Rossini’s „Stabat“ bestand. Ersteres
0225Oratorium wurde von sehr mittelmäßigen deutschen Sängern
0226vorgetragen, gleich darauf das „Stabat“ von den ersten
0227Gesangskräften der italienischen Oper. Die Folge war für
0228das deutsche Oratorium ein kläglicher Durchfall, während
0229das italienische unerhörten Enthusiasmus hervorrief. Wäre
0230die Tonkunst ein Reich von dieser Welt, sie hätte nach
0231jenem Concerte ihren deutschen Gesandten von Wien ab-
0232berufen müssen. So gefahrvolle Doppelaufführungen sind
0233hier gottlob nicht mehr möglich; die italienischen Sänger
0234sind seit 50 Jahren im Allgemeinen etwas schwächer, die
0235deutschen besser geworden.


0236Die gestrige Aufführung war überaus gut besucht.
0237Mascagni, stürmisch begrüßt, dirigirte mit dem ihm
0238eigenen schönen Ernst und Feuer.


0239Die Solosänger waren keineswegs vom ersten Rang;
0240wir sind in Wien an ein besseres Italien gewöhnt. Signora
0241Pozzi mit ihrem vollen kräftigen Alt und Signora
0242Migliardi mit ihrem dünnen spitzigen Sopran wett-
0243eiferten in tremolirendem, theatralisch affectirtem Vortrag,
0244und der Tenorist Marconi strengte seine bereits etwas
0245beschädigte Stimme zu fortwährendem Forte an. Erfreulicher
0246war der Bassist Brancaleoni, der sein bescheideneres
0247Organ durch maßvollen künstlerischen Vortrag zur besten
0248Wirkung steigerte. Musikalischen Gemüthern von seinem
0249Gehör wurde es am wohlsten, wenn unser vortreffliches
0250Orchester sechzehn oder zwanzig Tacte allein zu spielen hatte.