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Neue Freie Presse
Morgenblatt
Nr. 13740. Wien, Dienstag, den 25. November 1902

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Zweites Philharmonie-Concert.


0002Ed. H. Als Einleitung eine in ununterbrochenen
0003Sechszehnteln dahinrollende, für Streichhorchester arrangirte
0004Clavierfuge von S. Bach; dankbarer für die Geiger als
0005für die Zuhörer, passender für die Schule als für den
0006Concertsaal. Eine hübsche Ouvertüre hätten wir vorgezogen.
0007Hierauf nicht weniger als drei Orchester-Novitäten nach-
0008einander. Zuerst eine Idylle von Zdenko Fibich: „Am
0009Abend“. Man kennt in Wien nur wenig von diesem vor
0010Jahresfrist verstorbenen, in Böhmen hochgeschätzten Com-
0011ponisten. Seine Haupt- und Lieblingswerke, die dramatischen,
0012blieben durch ihren czechischen Text an die Heimatsscholle
0013gebunden: drei Opern und die wunderliche Schau-
0014spiel-Trilogie „Hypodamia“ mit fortlaufend melodrama-
0015tischer Orchesterbegleitung. Hingegen haben wir Fibich 
0016in einigen Instrumentalwerken als begabten, fein-
0017fühligen, insbesondere technisch hervorragenden Tondichter
0018schätzen gelernt. Seine 1893 hier aufgeführte Es-dur-
0019Symphonie kennt man als das Werk eines hochgebildeten, 
0020wenngleich nicht allzu erfindungsreichen Künstlers. Auch die
0021Lustspiel-Ouvertüre „Eine Nacht auf Karlstein“ wirkte
0022hier (1892) stärker durch die überaus geschickte Technik,
0023als durch ihr wenig originelles Gepräge. Die Novität
0024Am Abend“ gibt sich anspruchsloser und liebenswürdiger.
0025Sie verleugnet nicht Fibich’s deutsche Schule, noch weniger
0026seine Hinneigung zu Schumann und Mendelssohn. Der
0027idyllische Grundton ist glücklich festgehalten; Nachtigallen-
0028triller schweben flötend über dem sanften, ruhigen Gesang
0029des Orchesters. Wir hätten nur gewünscht, es wäre die
0030Nacht ein wenig rascher dem „Abend“ gefolgt, dessen lang
0031hinschleppender Schluß die Geduld des freundlichsten
0032Hörers ermüdet.


0033Auf Fibich folgte der berühmte belgische Geiger Emil
0034Sauret mit einem Violin-Concert in C-dur von
0035M. Moszkowski. Nach der Opuszahl 30 gehört es
0036kaum zu den neuesten Werken des beliebten Autors, dennoch
0037ist es in Wien unbekannt geblieben. Wir haben nicht viel
0038daran verloren. Nur die ganz einzige Kunst Sauret’s, dem
0039das Concert gewidmet und förmlich angepaßt ist, vermag mit
0040dieser erfindungsarmen, anspruchsvollen Musik den Hörer
0041zu fesseln. Wien kennt und schätzt Herrn Sauret seit fünf-
0042undzwanzig Jahren als einen liebenswürdigen und glän-
0043zenden Virtuosen. Er hat seither nichts eingebüßt von
0044seiner einschmeichelnden Kunst. In Bezug auf technische
0045Bravour zählt er zu den Hexenmeistern. Erstaunlich die
0046Schnelligkeit und Reinheit, mit welcher Sauret 
0047Octaven- und Terzenläufe ausführt oder in Pas-
0048sagen und Trillern bis in die Schneeregionen der
0049Applicatur dringt. Lieber noch als diesem Staunen geben
0050wir uns der einschmeichelnden Süßigkeit seiner Cantilene
0051hin. Wie lieblich, stets unfehlbar rein klingen seine langen
0052Cantilenen auf der E-Saite! Freilich ist jeder einseitige
0053Vorzug fast immer an einen Mangel gebunden. Sauret 
0054entlockt seiner Geige nur ein kleines Tonvolumen von
0055dünnem Klang, muß daher auf eine mächtig hinreißende
0056Wirkung verzichten. Der berühmte Künstler wurde durch
0057anhaltenden Beifall und Hervorruf gefeiert. Jedes erdenk-
0058liche Lob vernahmen wir von allen Seiten, nur nicht den
0059Ausruf des Freischütz-Kaspar: „Er hat mir warm 
0060gemacht!“


0061Schluß- und Hauptstück des Concertes bildete als
0062Novität eine Symphonie (Es-dur) von Franz Schmidt.
0063Bereits vor zwei Jahren war dem Autor dafür der Com-
0064positionspreis von 2000 Kronen von der Gesellschaft der
0065Musikfreunde zuerkannt worden. Eine gute Aufführung
0066und günstige Aufnahme — das ist der willkommenste Preis
0067für einen jungen Componisten. An beiden war gestern kein
0068Mangel und der Erfolg wohlverdient. Die Symphonie 
0069verräth ein anmuthiges, dabei ernstes Talent, Sinn für
0070Form und Klang, dabei gewissenhafte Arbeit. Frei-
0071lich weiß Herr Schmidt sich nicht genug zu thun und
0072dehnt die einzelnen Theile weiter aus, als ihr Inhalt
0073es verträgt; insbesondere die beiden Ecksätze. Die
0074mittleren wirken (wie dies ja der Fall bei den meisten
0075neuen Symphonien) am günstigsten. Das Andante beginnt
0076ungemein zart und stimmungsvoll; zu dem Streichquartett
0077gesellen sich blos zwei Flöten, Clarinetten und Hörner.
0078Leider währt diese Idylle nicht allzu lang. In das fried-
0079liche Dörfchen dringen offenbar wüthende Kosaken ein mit
0080Mord und Brandlegung. Zu der zarten Instrumentirung des
0081Anfanges gesellen sich plötzlich noch zwei Hörner, Trompeten,
0082Contrafagott, Posaunen und Tuba; die Geigen entfesseln
0083eine wilde Jagd in 32stel-Passagen, bis, leider allzu spät,
0084der Friede wieder einkehrt. Schade um den schönen An-
0085fang! Einheitlicher, maßvoller gibt sich das Scherzo mit
0086seiner leicht dahinspringenden Staccatofigur. Die Posaunen
0087und Trompeten, welche hier ruhen durften, bekom[2]-
0088men im Finale desto härtere Arbeit. Dieser vierte Satz,
0089welcher dem Componisten wol am meisten Mühe und
0090Studium gekostet, hat uns am wenigsten erbaut; er pro-
0091ducirt zu viel Gelehrsamkeit und zu absichtlich. In ein
0092aufgeregtes contrapunktisches Stimmengeflecht dringt ganz
0093plötzlich ein von den Bläsern allein vorgetragener feier-
0094licher Choral. Man kann sich die unerwartete Er-
0095scheinung dieses Bußpredigers nicht erklären. Er hat viel-
0096leicht nur den praktischen Zweck, als verläßliche Säule zu
0097dienen für die ihn ruhelos umwindenden contrapunktischen
0098Stimmen. Sonst hängt unserem jungen Tondichter zum
0099Glück nichts Schmerzrenommistisches an. Für den künst-
0100lerischen Ernst und die frühe Gewandtheit des Componisten
0101liefert übrigens dieses Finale ein glänzendes Zeugniß.
0102Herr Schmidt ist nach jedem Satze seiner Symphonie sehr
0103oft und stürmisch gerufen worden. Ohne Zweifel warten
0104seiner noch zahlreiche lohnende Erfolge.


0105Herr Director Hellmesberger brachte, wie gesagt, in
0106dem gestrigen Concert nicht weniger als drei Novitäten;
0107das nächste philharmonische Concert verspricht deren zwei
0108in einem Programm von nur drei Nummern. Ist das nicht
0109zu viel des Guten? Wir können Herrn Hellmesberger nur
0110dafür danken, daß er uns mehr Neues vergönnt, als alle
0111seine Vorgänger gethan, und daß er namentlich junge,
0112noch unbekannte Talente in die Oeffentlichkeit einführt.
0113Aber wer das Gesammtprogramm seines heurigen Cyklus
0114durchliest, stutzt doch ein wenig, dreizehn „erste Aufführungen“
0115darin zu finden (Brüll, Charpentier, Dvořak, Fibich,
0116Forster, Graedener, Haydn, Hofman, Noskowski, F. Schmidt,
0117Schrecker, Strauß, Tschaikowsky) gegen nur acht Reprisen:
0118(Bach, Beethoven, Brahms, Bruckner, Goldmark, Liszt,
0119Mozart und Volkmann). Es berührt doch schmerzlich,
0120die Namen Schumann und Mendelssohn gänzlich
0121zu vermissen. Lieber hätten wir nöthigenfalls auf Liszt 
0122und Bruckner verzichtet.