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Neue Freie Presse
Morgenblatt
Nr. 13755. Wien, Donnerstag, den 11. December 1902

[1]

Hofoperntheater.

(„Pique-Dame“, Oper in fünf Acten von P. Tschaikowsky.)


0003Ed. H. Die dritte Oper, die wir von Tschaikowsky 
0004zu hören bekommen. Zuerst erschien „Eugen Onegin“,
0005das erfolgreichste und uns noch immer liebste seiner Bühnen-
0006stücke. Sodann die zarte, überzarte „Jolanthe“, deren
0007Blindheit das Urtheil nur allzu scharfsichtig machte für
0008ihre Mängel. Und nun die „Pique-Dame“, die
0009letzte Arbeit (1891) des uns früh entrissenen Ton-
0010dichters. Sie ist der gleichnamigen Novelle von Puschkin 
0011nachgebildet. Man kennt die Pietät der russischen Com-
0012ponisten für die großen Dichter ihrer Nation; eine Pietät,
0013die ihrem Herzen zur Ehre, aber nicht ihren Opern zum
0014Vortheil gereicht. Tschaikowsky’s „Eugen Onegin“ und
0015Pique-Dame“ sind Puschkin’schen Novellen nachgebildet;
0016seine Oper „Wakula der Schmied“ einem Märchen von
0017Gogol; sein „Opritschnik“ einer Tragödie von Lagetschnikow.
0018Puschkin’s erste Dichtung „Ruslan und Ludmilla“ (1820)
0019hat Glinka componirt; hier fand sich der Vater der
0020russischen Dichtung mit dem Vater der russischen
0021Musik zusammen. Auf Puschkin’schen Dichtungen sind
0022Dargomijski’s Opern „Russalka“ und „Don Juan“
0023aufgebaut. Mussorgsky componirte Puschkin’s einziges
0024großes Drama „Boris Gudonow“. Rubinstein’s auch
0025in Wien gegebene Oper „Der Dämon“ entstammt einer
0026DichtungLermontow’s. Bei allem Werth kranken diese
0027Opern sämmtlich an ihren Textbüchern von so erlauchter
0028Herkunft. Aus spannenden Romanen entstehen meistens
0029schlechte Schauspiele, aus guten Schauspielen schlechte Opern.
0030Deutsche Operncomponisten haben sich weislich von unseren 
0031Classikern ferngehalten — geschah es aus Pietät oder aus
0032Klugheit? Wol aus einer Verschmelzung von beiden. An
0033die „Räuber“, „Kabale und Liebe“, „Maria Stuart“,
0034Jungfrau von Orleans“, „Wallenstein“, „Egmont“,
0035Clavigo“, „Nathan“ u. s. w. hat kein namhafter deutscher
0036Operncomponist gerührt. (Spohr’s „Faust“, direct an das
0037Volksbuch anlehnend, hat mit der Goethe’schen Dichtung 
0038nichts gemein als die beiden Figuren Faust und Mephisto.)
0039Im Gegensatz zu uns zeigten die Italiener stets einen be-
0040sonderen Appetit nach Schiller’s Tragödien. An Verdi’s 
0041Luise Miller“ („Kabale und Liebe“) und seinen „Räu-
0042bern“ konnten sich seinerzeit die Wiener krank lachen. Auch
0043Johanna d’Arc“, „Macbeth“, „Don Carlos“ und Aehn-
0044liches faßte Verdi als willkommene Beute.


0045Die Handlung von Tschaikowsky’s „Pique-Dame“ ist
0046in Kürze folgende: Hermann, ein junger Officier, hört
0047einige seiner Kameraden erzählen, die gemeinhin „Pique-
0048Dame“ genannte alte Gräfin verdanke ihren Reichthum
0049drei unfehlbaren Karten. In Lisa, die Enkelin der
0050Gräfin, verliebt, weiß Hermann ein nächtliches Stelldichein
0051in ihrem Zimmer zu erringen. Anstatt aber dahin zu
0052gehen, dringt er sofort in das anstoßende Schlafgemach der
0053eben vom Ball heimkehrenden alten Gräfin. Flehentlich
0054bittet er sie um die Mittheilung des Geheimnisses der drei
0055Karten. Als die Gräfin alles Drängens ungeachtet stumm
0056bleibt, bedroht Hermann sie mit der Pistole. Der Schreck
0057tödtet die alte Frau. Sie erscheint ihm in der folgenden
0058Nacht als Gespenst und nennt ihm die geheimnißvollen
0059Karten: Drei, Sieben und Aß. Er eilt zu Lisa, die ihn
0060angstvoll erwartet, verläßt sie aber schnell und ungestüm,
0061um am Spieltisch sein Glück zu erproben. Lisa stürzt sich
0062verzweifelnd in die Newa. Hermann gewinnt auf die
0063zwei ersten Karten riesige Summen. Bei dem dritten
0064Einsatze verwandelt sich aber vor seinen Augen das Coeur-
0065Aß in die Pique-Dame, und das Gespenst der Alten steht
0066hohnlächelnd vor ihm. Hermann, der nun Alles verloren
0067hat, ersticht sich am Spieltisch.


0068Hält man diesen farbenreichen Operntext ver-
0069gleichend an die äußerst dürftige Original-Novelle, so
0070muß man die praktische Gestaltung des ersteren hoch an-
0071schlagen. Aus Puschkin’s knapper Erzählung eine drei-
0072actige Oper zu schaffen, erscheint dem ersten Blick fast 
0073unmöglich. Dort handeln eigentlich nur zwei Personen, die
0074eine beinahe so widerwärtig wie die andere: die alte Gräfin 
0075und Hermann. Erstere, eine achtzigjährige eitle Weltdame,
0076tyrannisch gegen ihre Umgebung und ihre arme Pflege-
0077tochter Lisa, falsch und grausam noch als abgeschiedener
0078Geist; Hermann, ein unbedeutender Lieutenant mit der
0079einzigen Passion, durch Hazardspiel reich zu werden, nicht
0080etwa um die ihm ziemlich gleichgiltige Lisa zu heiraten,
0081sondern — wie es im Original heißt — „um seinen Ab-
0082schied zu nehmen, Reisen zu machen und in den Pariser Spiel-
0083sälen Fortuna ihren Schatz zu entreißen.“ Nicht um Lisa’s willen
0084umlauert er unermüdlich das Haus, sondern um zur Gräfin 
0085einzudringen und ihr das Geheimniß der drei Karten ab-
0086zulocken. Auch der Ausgang der Geschichte ist bei Puschkin 
0087nicht so tragisch, wie in der Oper. Lisa heiratet einen
0088liebenswürdigen jungen Staatsbeamten: Hermann vegetirt
0089als Irrsinniger in einem Spital. Der Operntext bringt
0090diese abstoßenden Charaktere uns merklich näher. Hermann 
0091ist von allem Anfang rasend verliebt in Lisa, die als
0092Comtesse und Verlobte eines Fürsten Jeletzky ihm un-
0093nahbar erscheint. Der Fürst, ein liebenswürdiger edler
0094Charakter, ist von dem Librettisten frei hinzugedichtet.
0095Desgleichen der leider überhastete schrille Ausklang der
0096Handlung: Lisa’s Selbstmord und der darauf folgende
0097Hermann’s. Dort Unglück in der Liebe, hier Unglück im
0098Spiel. — Daß der Librettist, Tschaikowsky’s Bruder
0099Modest, nicht allzu modest gewesen in seiner Bearbeitung,
0100verdient nur Anerkennung. Abgesehen von den nothwendigen
0101Abänderungen, hat er zahlreiche Episoden-Figuren und
0102Zwischenhandlungen hiezu erfunden, welche die Einfärbig-
0103keit der Handlung ein wenig coloriren: Strophenlieder,
0104Frauenchöre, Männerchöre, Kinderchöre, Tänze — ja, ein
0105vollständiges mythologisches Zwischenspiel bei dem Ballfest.


0106Die Musik zur „Pique-Dame“ ist in ihren besten
0107Stücken eigenartig und interessant; mehr für musikalische
0108Feinschmecker als für das große Publicum, das ein gutes
0109Recht hat, in der Oper stärker bewegt zu werden. Die
0110Oper verlangt kräftige Farben, mitunter Frescomalerei,
0111während in der „Pique-Dame“ das Meiste nur mit Silber-
0112stift gezeichnet scheint, bestenfalls mit Wasserfarben. Daß
0113die Glanzpunkte nur vereinzelt aufragen, bedrängt und
0114umwuchert von episodischem Beiwerk, verschuldet der Text, [2]
0115der, wie gesagt, den Erfolg der Composition verrammelt.
0116Aber das Libretto ist keineswegs allein schuld. Müde und
0117erschöpft, von Heimweh verzehrt, schrieb Tschaikowsky in
0118Florenz die „Pique-Dame“ hastig in sechs Wochen
0119nieder, zwölf Jahre nach seinem „Eugen Onegin“.
0120Die enthusiastische Aufnahme, welche Moskau der
0121ersten Aufführung der „Pique-Dame“ bereitete, galt
0122weniger dem Werk, als der Persönlichkeit des Com-
0123ponisten, dessen fünfundzwanzigjähriges Künstler-Jubiläum
0124mit dieser Première zusammenfiel. Bald darauf verschwand
0125Pique-Dame“ vom Repertoire und hat nirgends auch
0126nur annähernd die Wirkung von „Eugen Onegin“ erreicht.
0127Hier wie in allen seinen größeren Werken erscheint
0128Tschaikowsky ungleich; auf einfache, beinahe einfältige
0129Strophenlieder und Tanzstücke folgen einzelne Blitze seines
0130ganzen Talents. Ueberall bleibt er jedoch Er selbst,
0131entlehnt nicht, copirt nicht, „ihm ist der Schnabel hold
0132gewachsen“. Er citirt nicht Wagner, wie ich es eben gethan.
0133Vielmehr hält er sich unberührt vom Wagnerismus,
0134dem heute neun Zehntel unserer deutschen Componisten
0135zum Opfer fallen, indem sie, ihre bescheidene Eigenart
0136krampfhaft verdrängend, lieber wagnerisch zu Grunde gehen.


0137Die musikalisch hervorragenden Stücke der Oper sind
0138bald aufgezählt. Im ersten Act eine ziemlich ausführliche
0139Kinderbelustigung im Freien, munter, doch nicht originell;
0140dann Tomsky’s Strophenlied von den drei Karten in
0141schlichten, gut erzählendem, zuletzt gesteigerten Balladen-
0142ton. Wiederum folgen Scenen, die, mit der Handlung
0143kaum verknüpft, durch schlichte melodiöse Musik ansprechen:
0144das Frauenduett in G-dur, noch mehr der Chor von Lisa’s
0145Gespielinnen: „He, Maschenka komm’ zur Linde“ mit
0146seinem erfrischenden Volkston. Das nun folgende Liebes-
0147duett zwischen Lisa und Hermann, durch die überaus
0148günstige Situation zum glänzenden Höhepunkt der Oper
0149wie geschaffen, findet leider den Componisten matt und
0150erfindungsarm. Im zweiten Act singt Lisa’s Bräu-
0151tigam, der Fürst, eine innig empfundene Romanze in
0152Es-dur, mit welcher Herr Demuth den stärksten
0153Beifall des Abends erntete. Hierauf entwickelt sich in
0154größter Pracht und Weitschweifigkeit ein Ballet.
0155Das nächste (vierte) „Bild“ führt uns in das Schlaf-
0156zimmer der alten Gräfin. Ein äußerst stimmungsvolles
0157Orchestervorspiel in Fis-moll, dessen unheimlich klopfende
0158Sechzehntel-Figur sich über hundert Tacte fortspinnt, leitet
0159den nur allzu redseligen Monolog der Gräfin ein, die sich
0160ihre einstigen Triumphe zurückruft und mit einer zopfigen
0161Romanze von Grétry illustrirt. Hermann’s leidenschaftliche
0162Beschwörung „Haben Sie jemals die Liebe gekannt“
0163schmückt die aufregende Scene, die mit dem Tode der
0164Gräfin endet. Der dritte und letzte Act spielt in Hermann’s
0165Stube. Daß wir uns in der Kaserne befinden, sagt uns,
0166geistreich anspielend, ein wiederholtes Trompetensignal, das
0167sich von draußen in die düsteren Es-moll-Trauerklänge des
0168Orchesters mischt. In der folgenden Scene findet Lisa 
0169ausdrucksvolle, leidenschaftliche Töne in ihrer Arie und
0170dem Duett mit Hermann. Alles jedoch weit mehr dra-
0171matisch zugespitzt als musikalisch neu oder bedeutend. Auch
0172von der Schlußscene am Spieltisch gilt dasselbe; ein
0173Strophenlied Tomsky’s und ein heiterer Männerchor, an
0174sich unbedeutend, haben nur die Aufgabe, die schauerliche
0175Stimmung zu sänftigen, welche mit dem Eintritt des halb-
0176wahnsinnigen Hermann über uns Macht gewinnt.


0177Was neben einzelnen wirksamen Scenen die „Pique-
0178Dame“ am meisten auszeichnet, ist die feine, oft überzarte,
0179aber stets charakteristische Instrumentirung. Weniger be-
0180deutend und weniger reizvoll als „Eugen Onegin“ gilt uns
0181doch die „Pique-Dame“ als eine willkommene, hoch-
0182interessante Gabe inmitten der gegenwärtigen Opernnoth.
0183Director Mahler hat die Novität, die er selbst dirigirt,
0184prachtvoll ausgestattet und glänzend besetzt. Orchester, Chöre
0185und Ballet bieten vortreffliche Leistungen. Die weitläufige
0186Balletscene, ja die ganze Oper krankt leider an dem
0187Costüm. Für die Gesammtwirkung einer Oper ist das
0188Costüm so wichtig, daß es den Eindruck der Dichtung
0189wie der Musik fördern oder schädigen kann. Letzteres
0190thut die „Pique-Dame“ durch die Tracht vom Aus-
0191gange des achtzehnten Jahrhunderts. Unter den wulstigen
0192weißen Perrücken, welche gleichmäßig die blonden, schwarzen,
0193grauen Köpfe aller Sänger und Sängerinnen bedecken,
0194sehen sie Alle entsetzlich gleich aus. Nur mit einiger An-
0195strengung konnten wir die Meisten derselben (nicht Alle)
0196erkennen. Dieses Costüm ist tödlich für den Eindruck 
0197leidenschaftlicher Handlung und individueller Charakteristik.
0198Lächerlicheres in einer ernsten Oper haben wir selten gesehen,
0199als die Erscheinung der jungen Lisa mit ihrer ellenhohen
0200gepuderten Frisur und dem Riesenfaß von Reifrock. Die
0201Wirkung des Costüms färbt natürlich noch weiter ab, auf
0202den Charakter der Musik. Bei der Lectüre des Text-
0203buches, wer freute sich nicht auf die Ballscenen des zweiten
0204Actes, welche Leben und Fröhlichkeit in die düstere
0205Schicksalstragödie hauchen würden! Was bekamen wir
0206aber zu sehen und zu hören? Lauter langsame feierliche
0207Tänze. Zuerst eine traurige Sarabande in D-dur, dann
0208noch ein Menuett in E und ein endloses Intermezzo. „Die
0209aufrichtige Schäferin“ von aufrichtigster Langweiligkeit.
0210Chloë beginnt mit einem Larghetto „Ich habe Daphnis
0211gern“; dieser antwortet ebenso feierlich; dann kommt Pluto
0212in gravitätischem Menuettschritt hereinstolzirt, worauf das
0213schäferliche Liebespaar, abermals im tempo larghetto, ver-
0214kündet: „Wir haben uns gefunden.“ Der Chor bestätigt
0215in gleicher Gelassenheit: „Sie haben sich gefunden.“ So
0216ist in der Oper leider die einzige Gelegenheit verpaßt,
0217uns durch eine Tanzscene von lebendigem Rhythmus aus
0218dem tragischen Lamento herauszuretten. Spät, aber
0219um so lieber kehren wir von den Tänzern zu den Sängern
0220zurück. Die Darsteller der Hauptrollen Frau Förster-
0221Lauterer
, Fräulein Kittel und Fräulein Petru,
0222die Herren Schmedes, Demuth und Mantler 
0223lösten ihre Aufgaben mit großem Eifer und lohnendstem
0224Erfolg. Das war ihnen wesentlich erleichtert durch die
0225vortreffliche Bearbeitung des Textes durch unseren musik-
0226und sprachgewaltigen Uebersetzer Max Kalbeck.


0227Auch die heutige Wiederholung der „Pique-Dame“
0228erfreute sich zahlreichen Besuches und lebhaften Beifalls.
0229Neubesetzt war die Rolle Hermann’s mit Herrn Slezak,
0230dessen klangvolle Stimme und musterhaft deutliche Aus-
0231sprache der Partie zu besonderem Vortheil gereichten. Fräulein
0232Weidt als Lisa gefiel durch ihre jugendlich schöne Er-
0233scheinung und ihr angenehmes, nur in hoher Lage etwas
0234angestrengtes Organ. Beide Künstler ernteten reichlichen
0235Beifall, desgleichen Herr Demuth und Fräulein Kittel.