Neue Freie Presse
Morgenblatt
Nr. 13760. Wien, Dienstag, den 16. December 1902
[1]„Ein Weihnachts-Mysterium“ von Ph. Wolfrum.
(Erste Aufführung im Gesellschaftsconcert vom 13. December d. J.)
0003Ed. H. Es mag an dreißig Jahre her sein, daß ich
0004Liszt unweit der Augustinerkirche begegnete, wo eben
0005die Messe eines Wiener Dilettanten aufgeführt worden.
0006„Nun, Meister, wie hat Ihnen die Composition gefallen?“
0007Liszt antwortete nach einigem Räuspern: „Nun ... hm
0008... Sie wissen ja, was für die Menschen zu schlecht ist,
0009muß für den lieben Gott noch immer gut genug sein.“
0010Immer mußte ich an diesen grausam scharfen Ausspruch
0011denken, so oft ich in der Kirche Messen oder Requiem
0012hörte, welche niemals Einlaß in einen Concertsaal
0013gefunden hätten. Kirchliche Andacht und ästhetische
0014Andacht, das ist eben zweierlei. Kirchenmusik, wie
0015sie, von irgend einem braven Regenschori oder Organisten
0016componirt, ihren nächsten Zweck erfüllt, bietet den Vortheil,
0017daß sie nie durchfallen kann. Freilich auch nicht trium-
0018phiren, wird doch in der Kirche ebensowenig applaudirt
0019als gezischt. Letzteres am allerwenigsten, denn der fromme
0020Beter, der die Composition nur als andächtig stimmende
0021Tonwelle über sich rinnen läßt, theilt seine Aufmerksamkeit
0022zwischen ihr und seinem Gebetbuche. Er denkt an keine
0023Kritik. Tondichtern von künstlerischem Ehrgeiz wird dieser
0024stumme Erfolg selten genügen. Sie wollen aufmerksam,
0025mit musikalischer, nicht blos mit kirchlicher Andacht gehört
0026sein. Aus der Kirche streben sie hinüber nach dem
0027Concertsaal. So ließen in unseren Tagen Rossini und
0028Gounod ihre Messen, Berlioz und Verdi ihre
0029Requien, Liszt seine Festmesse im Concertsaale auf-
0030führen; sie alle sind sogar damit herumgereist. Auch
0031für unsere verstorbenen großen Meister zeigten
0032sich die Musikvereine in gleicher Weise bemüht:
0033Bach’s Hohe Messe, Beethoven’s Missa solemnis,
0034Mozart’s Requiem, Schubert’s As-dur-Messe haben
0035wir im Concertsaal gehört. Tondichter wie Zuhörer konnten
0036dabei nur gewinnen, daß das musikalische Kunstwerk als
0037solches, ohne alle liturgische Zuthat, frei und unbefangen
0038genossen wurde. Es drängt uns dieser Zusammenhang
0039gleich zu dem Wunsche, es möchte Mozart’s hier noch unbe-
0040kannte Große Messe in C-moll, welche zuerst in Dresden,
0041dann in anderen, deutschen Hauptstädten die Musikfreunde
0042erbaut hat, endlich auch in Wien, der Mozart-Stadt vor
0043allen anderen zur Aufführung gelangen. Diese Messe, aus
0044der besten Schaffenszeit des Meisters (1783), gehört un-
0045streitig zu seinen großartigsten Werken, ist jedoch, gleich
0046dem Requiem, unvollendet geblieben. Der kürzlich ver-
0047storbene hochverdiente Dresdener Hofcapellmeister Alois
0048Schmitt hat die Lücken mit anderen Mozart’schen
0049Stücken ergänzt und so das Werk für alle Zeiten gerettet.
0050Wir gelangen endlich an unser Thema: Wolfrum’s
0051„Weihnachts-Mysterium.“ Nicht ohne guten Grund haben
0052wir vorher eine Reihe von Oratorien genannt, die, un-
0053beschadet ihres religiösen Stoffes, nach dem weltlichen
0054Concertsaal verlangen, weil ihr Ueberschuß an ästhetischer
0055Bedeutung, an rein musikalischer Größe und Schönheit ein
0056Auditorium von Musikfreunden anruft. In Wolfrum’s
0057Oratorium erblicken wir das Gegentheil: es nimmt den
0058Concertsaal in Anspruch, während es in die Kirche gehört.
0059Herr Wolfrum, dessen Namen und Werke in Wien so gut
0060wie unbekannt geblieben, erfreut sich in Deutschland auf-
0061richtiger Hochschätzung als Lehrer, Dirigent und Kirchen-
0062componist. Auch das „Weihnachts-Mysterium“ gibt lautes
0063Zeugniß für Wolfrum’s Kunstfertigkeit, sowie fromme Gesin-
0064nung. Weit schwächer dünkt uns seine productive Kraft,
0065seine musikalische Erfindung. Diese scheint ihm vielleicht
0066selbst etwas zweifelhaft, sonst griffe er nicht so emsig nach
0067verschiedenen äußeren Hilfsmitteln. Wir meinen damit
0068nicht blos die starke Benützung geistlicher Volksmelodien,
0069sondern noch mehr, Herrn Wolfrum’s Absicht, das Werk
0070nach Art der alten Mysterien dramatisch zu gestalten. Er
0071plante dafür (wie sein Vorwort berichtet) „in einander-
0072gehende lebende Bilder: die Ankündigung des Engels
0073Gabriel, Maria zum Lobsingen niederkniend; ferner in
0074pantomimischer Behandlung die Hirten auf dem Felde, die
0075Lichterscheinung, die Verkündigung des Engels, die Hirten
0076nach Bethlehem eilend.“ In diesem Sinn und nicht etwa als
0077eigentliches „Oratorium“ wollte er das Textbuch ausgestalten.
0078Daß Herr Wolfrum diesen Plan nicht ausgeführt hat,
0079können wir nur bedauern. Als lediglich erläuternde, colori-
0080rende Musik würde seine Composition einen harmonischen
0081Eindruck erzielt haben, den sie für sich allein, als „Gnade
0082ohne Bild“ nimmermehr erreicht. Der ursprünglichen Ab-
0083sicht des Componisten stellten sich, wie er uns mittheilt,
0084praktische Bedenken entgegen. Wir hören also sein Weihnachts-
0085Mysterium ohne die geplanten belebenden Illustrationen.
0086Lediglich auf die musikalische Erfindung gestellt, wirkt es
0087jedoch abspannend. Fromm, aber musikalisch eintönig und
0088reizlos, weist dieses Werk mehr nach der Kirche als nach
0089dem Concertsaal. Den classischen Ausspruch des Abbé
0090Liszt möchte ich durchaus nicht ungemildert auf Wolf-
0091rum’s Oratorium anwenden; aber was uns sündigen
0092Menschen langweilig erscheint, mag dem lieben Gott immer-
0093hin zu Ruhm und großer Freude gedeihen.
0094Kaum lohnt es sich, die einzelnen Stücke der Partitur
0095der Reihe nach zu charakterisiren: sie sehen einander alle
0096zu ähnlich. Schon in dem „Vorspiel“ fällt die rhythmische
0097Monotonie auf: immer die gleichen vier oder fünf Viertel[2]-
0098noten ein ganzes Stück hindurch. Wo eine lebhaftere Be-
0099gleitung hinzutritt, bringt sie fast ausnahmslos auf- und
0100abrollende Tonleitern in Sechzehnteln oder Zweiund-
0101dreißigsteln oder (wie in dem G-dur-Chor „Fröhlich“)
0102gleichmäßige Triolengänge. Einfach, aber ganz unbedeutend
0103klingt die Ankündigung des Engels. Von dem Lobgesang
0104Maria’s hofften wir eine innige, über das Frühere sich
0105aufschwingende Melodie; diese Hoffnung wird hier
0106ebenso getäuscht wie an einer zweiten Stelle, die gleich-
0107falls eine wärmere Erfindung heischt: Maria an der Krippe.
0108Ihr theatralisch declamirender, sprunghafter Gesang dünkt
0109uns die Worte „Still die Erde, still der Himmel“ eher
0110zu verneinen, als zu erklären. Mit den heranziehenden
0111Hirten tritt natürlich die typische, billige Schalmeifigur im
0112Sechsachtel-Tact in Permanenz. Man vergleiche damit
0113die liebliche Hirtenmusik in Bach’s Weihnachts-Ora-
0114torium oder die berühmte Sinfonia pastorale in
0115Händel’s „Messias“ oder die analoge Scene in Berlioz’
0116„Enfance de Jésus Christ“. Mit dem Einmarsch
0117der heiligen drei Könige gewinnt die Musik etwas
0118mehr Leben, um aber bald wieder in die frühere Er-
0119müdung zurückzufallen. Zu den bekanntesten, von
0120Wolfrum benützten kirchlichen Volksliedern gehört der
0121Gesang Maria’s „Joseph, lieber Joseph mein, hilf
0122mir wiegen das Kindelein“. Brahms hat diese
0123Melodie als charakteristische Begleitungsfigur in seinem
0124„Geistlichen Wiegenlied“, op. 91, überaus schön verwendet.
0125In Wolfrum’s Oratorium füllt sie, endlos wiederholt,
0126einen unverhältnißmäßig großen Raum; der Componist
0127läßt das arme Jesukind durchaus nicht einschlafen, während
0128er uns müde Zuhörer förmlich dazu einladet. Einige
0129hübsche Details in der Harmonie und Instrumentirung
0130(leider rasch verschwindend) verdienten lobende Erwähnung;
0131so die kühnen Modulationen in dem F-dur-Vorspiel zu
0132Maria’s Gesang „Zarte Blüthe“. Desgleichen die meistens
0133correcte Declamation und gute Stimmführung. Nur das
0134hohe B und Ces hätte lieber dem Evangelisten nicht sollen
0135erpreßt werden. Die Instrumentirung folgt dem Inhalte
0136treulich; leider übertönt das Blech ganze Strecken lang
0137völlig die Figuration der Geigen.
0138Also im Ganzen eine achtbare solide Arbeit. Aber
0139es fehlt das Letzte, das Beste: der Zauber des Unwider-
0140stehlichen. Wir begegnen in Wolfrum’s Oratorium
0141Tausenden von schulgerechten Tacten, aber nicht einem
0142einzigen originellen. Durch dieses umfangreiche Werk
0143schleppt sich eine trostlose Armuth an origineller Erfindung.
0144Dazu überall gleicher Tact und gleiches Tempo, ein lahmer
0145Rhythmus, der nach Belebung dürstet. Da hilft es wenig,
0146daß der Componist, etwa zur letzten Strophe eines er-
0147barmungslos in Viertelnoten marschirenden Chors, schließ-
0148lich eine lebhafter figurirte Begleitung setzt. Auch ein
0149anderes Reizmittel will nicht verfangen: die unerwartet
0150kühnen Liszt’schen Accordfolgen, mit der er stellenweise, in
0151der zweiten Abtheilung, den einförmigen Gesang zu würzen
0152trachtet. Daß solche musikalische Blutarmuth nicht noth-
0153wendig zu geistlicher Musik gehört, zeigen uns Händel’s
0154„Messias“ und jede Kirchen-Composition Mozart’s.
0155Das protestantische Deutschland, in einer Hinsicht aller-
0156dings strenger in seinen Ansprüchen, ist doch andererseits
0157wieder leichter zu befriedigen. Streng gegen weltliche
0158Sonnenblicke, zeigt es sich um so toleranter gegen den
0159dichtesten Frömmigkeitsnebel. So mag es denn richtig
0160sein, wenn der Concertzettel auf die große Verbreitung und
0161Beliebtheit von Wolfrum’s Oratorium in Deutschland hin-
0162weist. Ich glaube aber nicht, daß Wien sich diesen auserwählten
0163protestantischen Heilsstätten anreihen und je eine Wieder-
0164holung des Wolfrum’schen Mysteriums erleben wird.
0165Die Aufführung im Gesellschaftsconcert ist nicht schuld
0166daran. Das Orchester und der Chor (in welchem nur die
0167Männerstimmen zu schwach besetzt sind) hielten sich tapfer
0168unter der Führung des Directors Löwe. Die Solo-
0169sänger fanden leider wenig Gelegenheit zur Auszeichnung.
0170Um so größere Anerkennung verdienen Frau Ruckbeil-
0171Hiller, Fräulein Fournier und Fräulein Günz-
0172burg, endlich Herr Emil Pinks — ob seiner deutlichen
0173Aussprache ein geborener „Evangelist“. Das Publicum
0174blieb nach der langen ersten Abtheilung vollständig stumm
0175und regungslos; erst am Schluß des Oratoriums erwies
0176es sich freundlicher und ehrte den anwesenden Componisten
0177durch einen Hervorruf.