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Neue Freie Presse
Morgenblatt
Nr. 13795. Wien, Mittwoch, den 21. Januar 1903

[1]

Musik.

(Drittes Gesellschaftsconcert — „Euryanthe“ im Hofoperntheater.)


0003Ed. H. Neben der reichlich vertretenen Instrumental-
0004musik, wie sie uns die Philharmoniker, die Streichquartett-
0005vereine und die fast unzähligen Virtuosen-Concerte bieten,
0006besitzen die Gesellschaftsconcerte in ihrem gemischten Chor
0007den besonderen Vortheil, große cyklische Tonwerke (Ora-
0008torien, Cantaten) abwechselnd mit kürzeren Chören uns
0009vorführen zu können. Nicht immer wird die richtige Wahl
0010getroffen, nicht immer das Vertrauen des zuströmenden
0011Publicums gerechtfertigt. Glücklicher als die letzten Pro-
0012gramme (Wolfrum’s Weihnachts-Oratorium, Schumann’s
0013Faust“-Musik) gestaltete sich die Auswahl des jüngsten
0014(dritten) Gesellschaftsconcerts. Die Vorherrschaft übte
0015diesmal Brahms. Nicht weniger als fünf Stücke
0016seiner Composition schmückten das Programm: zwei
0017Orgelvorspiele, zwei Frauenchöre und die „Nänie“ für
0018Chor und Orchester. Die für den protestantischen
0019Gottesdienst bestimmten Orgelvorspiele haben wol nur aus-
0020nahmsweise Eingang in unseren Concertsaal gefunden; als
0021eine Gedächtnißfeier für Brahms, welcher seine reiche
0022Thätigkeit damit abschloß. Bekanntlich hat Brahms, damals
0023schon bedenklich erkrankt, die „Elf Choral-Vorspiele“ im
0024Sommer 1896 in Ischl niedergeschrieben. Als ich ihn dort
0025eines Vormittags in seiner hochgelegenen Wohnung an der
0026Salzburger Straße aufsuchte, hatte er eben ein Blatt seines
0027Manuscripts vor sich auf dem Clavierpult liegen. „Das ist
0028nichts für dich,“ wehrte er scherzhaft ab, „nichts für euch katho-
0029lische Wiener!“ — „Ich reiße mich auch nicht darum,“ ant-
0030wortete ich in gleichem Tone. Gern mochte ich das kunstvoll har-
0031monische und contrapunktische Gewand daran bewundern;
0032um aber die bearbeiteten Choräle selbst, ohne Textworte
0033zu erkennen und sich daran zu begeistern, muß man sie
0034wirklich von Kindheit auf gehört und gläubig mitgesungen
0035haben. Ich erinnerte Brahms an eine Aufführung von
0036Mendelssohn’s „Paulus“ wo Billroth mein Sitznachhar,
0037die eingefügten Choralmelodien andächtig leise mitsang, 
0038während ich sie als eine schwerfällige, fast störende Unter-
0039brechung des Oratoriums empfand. Ihm war jede dieser
0040uns hohl und starr anmuthenden Choralmelodien eine
0041theure Jugenderinnerung, hatte er sie doch alle als Knabe
0042unzähligemal in der Kirche mitgesungen. Die beiden das
0043Gesellschaftsconcert einleitenden Orgelvorspiele konnte man
0044immerhin bewundern, auch ohne die darin als Cantus fir-
0045mus erklingenden Choräle zu kennen. In großartigem Auf-
0046bau erhebt sich insbesondere Nr. 7 der Sammlung „O
0047Gott, du frommer Gott“. Der Choral tritt hier abwechselnd
0048in verschiedenen Stimmen auf, jede Zeile ist durch ein sechs-
0049tactiges Zwischenspiel getrennt. Weltfreudiger, inniger be-
0050rührt uns das zweite Vorspiel (Nr. 8) „Es ist eine Ros’
0051entsprungen“, eine duftige echt Brahms’sche Tonblüthe. Mit
0052schöner Wirkung variirt hier die Oberstimme den Choral;
0053das Pedal schweigt gänzlich. Max Kalbeck, dessen
0054Brahms-Biographie wir mit freudiger Spannung erwarten,
0055macht zu diesem Rosen-Vorspiel die hübsche Bemerkung,
0056man müsse hier an einen von Brahms in Düsseldorf oder
0057Hamburg verlebten heiligen Christabend denken. „Zierliches
0058Rankengewinde umgibt ein geliebtes Bild. Das Röslein,
0059das ich meine, braucht nicht das Jesuskind zu sein.“


0060Auf die beiden Orgelvorspiele folgte Brahms’ 
0061Composition von Schiller’s „Nänie“. Diesem zuerst im
0062Jahre 1862 aufgeführten Chorwerk liegt bekanntlich eine
0063bestimmte Beziehung zu Grunde. Die Klage „Alles Schöne
0064muß sterben“ galt dem in voller Manneskraft hingerafften
0065genialen Maler Anselm Feuerbach, der während seines
0066Wiener Aufenthaltes dem Componisten persönlich sehr nahe
0067stand. Brahms ist auch in der bildenden Kunst zeitlebens
0068sehr wählerisch und eigenartig geblieben. Wie früher
0069Anselm Feuerbach, so hat später Max Klinger ihn
0070ganz besonders interessirt und begeistert. Was ihn zu
0071Feuerbach so sympathisch hinzog, war die Aehnlichkeit
0072ihrer ganzen Kunstanschauung; dieselbe unerschütterliche
0073Richtung auf das Große, Erhabene und Ideale, welche
0074die Beiden oft bis zur herben Strenge und Abgeschlossen-
0075heit geführt hat.


0076Frischer im Gedächtniß unseres Corncertpublicums lebt
0077Wanderers Sturmlied“ von Richard Strauß — ist
0078es doch erst im Jahre 1892 als Novität erschienen. Eine
0079Aehnlichkeit theilt es, nicht zu seinem Vortheil, mit der
0080Nänie“ von Brahms. Beide Chöre betonen Poesien 
0081unserer größten Dichter, aber diese Dichter, Schiller und
0082Goethe, verhalten sich hier recht unzugänglich, fast ab-
0083weisend gegen Musik. Schiller’s erhabenes Gedicht „Nänie“,
0084in Distichen geschrieben, hat für den Musiker neben ver-
0085lockenden auch manche gefährliche Seite — vor Allem das
0086Metrum, von dem die kunstvolle Musik nicht viel übrig
0087lassen kann, und das dem Tondichter, heiße er auch
0088Brahms, doch unleugbare Fesseln aufzwingt. Noch schlimmer
0089hat Goethe für Richard Strauß vorgesorgt, der aller-
0090dings nur das erste Drittel des Goethe’schen Gedichtes 
0091componirt hat. Dieses gehört in der Grundstimmung
0092zu den unklarsten, in den Einzelheiten räthselhaftesten,
0093in der Construction zu den verwickeltsten Gedichten,
0094die wir von Goethe, zumal dem jungen Goethe,
0095diesem Ideal edler Klarheit und Natürlichkeit, besitzen.
0096Die Strauß’sche Composition hat auch diesmal trotz aller
0097geistreichen Einzelheiten die Hörer mehr ermüdet und be-
0098täubt als erhoben. Im „Sturmlied“ behandelt Strauß 
0099den Musikstoff allerdings plastischer, übersichtlicher als sonst
0100in seinen Orchesterwerken, doch verleitet ihn oft der fieber-
0101hafte Drang nach Außerordentlichem, der Dichtung Gewalt
0102anzuthun. Das Goethe’sche Poëm (in seinem von Strauß 
0103componirten Abschnitt) athmet durchaus ein siegesfrohes
0104„göttergleiches“ Bewußtsein des vom Genius Ge-
0105führten. Bei Strauß glauben wir aber ganze Strecken ent-
0106lang die trostlose Klage Verzweifelnder zu hören. Nach dem
0107schmerzlichen Pathos der „Nänie“ und des „Sturmliedes“
0108legten wie milder Balsam zwei Chöre von Brahms sich
0109uns um Herz und Sinne. Zwei Chöre für Frauenstimmen
0110mit Begleitung von Harfe und zwei Waldhörnern:
0111Es tönt ein voller Harfenschlag“ und „Der
0112Gärtner“ (op. 72). Wer kennt und liebt sie nicht,
0113diese herrlichen, dabei so anspruchslosen Weisen!
0114In den zahlreichen Frauenchören von Brahms würde der
0115Director unserer Gesellschaftsconcerte eine fruchtbare Be-
0116reicherung seiner Programme finden. Für weiblichen Chor
0117hat Brahms 19 Compositionen mit und ohne Begleitung
0118geschrieben; neben den jetzt gehörten ragen die Lieder und
0119Romanzen op. 44 am schönsten hervor. Durchaus heiteren
0120Charakters sind die „Lieder für gemischten Chor“, op. 93;
0121voll Wärme und zarter Empfindung die Quartette op. 92.
0122Brauchen wir noch die Zigeunerlieder (op. 103) zu nennen?
0123Das gäbe lauter Freuden- und Glanznummern — wohl [2]-
0124gemerkt, wenn sie von wohlgeschulten und klangvollen,
0125frischen Stimmen vorgetragen werden.


0126Ein Meer von süßem Wohllaut ergoß sich aus
0127Mozart’s Serenade für Blasinstrumente in B-dur (361 bei
0128Köchel). Das Stück ist bereits im December 1866 unter
0129Dessoff im Philharmonischen Concert gespielt worden, und
0130zwar mit Weglassung derselben drei Sätze, welche auch
0131heute gestrichen waren. Von den sieben Sätzen dieser
0132Serenade wurden somit nur vier gespielt — mit Recht,
0133wie ich glaube; denn so viel Schönes die Serenade
0134enthält — das Adagio als Schönstes obenan —
0135so sind ihre Bestandtheile doch von zu ungleichem
0136Werth und wirkt die Klangfarbe der Harmoniemusik
0137(obendrein ohne Flöte und Trompete) auf die Länge
0138monoton und ermüdend. Die Serenade, die sehr hübsch
0139vorgetragen wurde, erregte einen geradezu begeisterten
0140Applaus. Mozart hat thatsächlich über alle Modernen
0141gesiegt. ...


0142Als einzige Novität (neben den Orgelvorspielen) be-
0143kamen wir einen dreistimmigen Frauenchor „Elfen und
0144Zwerge“ von Robert Fuchs zu hören. Der Componist
0145hat die ursprüngliche Clavierbegleitung für Orchester um-
0146gearbeitet, in welcher Gestalt das überaus anmuthige,
0147liebenswürdige Stück sich bald überall einbürgern dürfte.
0148Elfenmusik zu componiren, ohne unversehens Anleihen beim
0149Sommernachtstraum“ oder „Oberon“ zu machen, ist
0150keine leichte Sache. Fuchs ist gar nicht in diese Falle ge-
0151rathen. Ohne eine exaltirte Originalität zu erzwingen, ist er
0152natürlich und selbstständig geblieben. Sangbar führt er die
0153Stimme, glänzend das Orchester. Wir können den Novi-
0154täten von Robert Fuchs nur vorwerfen, daß sie zu selten
0155kommen.


0156Das Concert ist wegen plötzlicher Erkrankung des
0157Herrn Löwe durchaus vom Director des Conservatoriums,
0158Herrn v. Perger, dirigirt worden. Es war keine
0159Kleinigkeit, ein so reichhaltiges Programm mit einer
0160flüchtigen Probe zu dirigiren. Herr v. Perger hat dieses
0161Helden- und Wagestück glänzend durchgeführt. Bei seinem
0162Erscheinen am Dirigentenpult begrüßte den Retter des
0163Concertes wohlverdienter dankbarer Beifall, der sich nach
0164jeder Nummer steigerte.


0165„Die „Euryanthe“ ist fünfzig Jahre zu früh er-
0166schienen.“ So schrieb der alte Castelli nach der ersten
0167Aufführung von Weber’s „Euryanthe“ in Wien1823.
0168Seitdem sind nicht blos fünfzig, sondern beinahe achtzig
0169Jahre verflossen, und dennoch hat die Vorhersage Castelli’s
0170sich nur sehr mangelhaft erfüllt. Die Wiener hatten zwar
0171aus Schwärmerei für den „Freischütz", wie aus persön-
0172licher Verehrung für Weber auch die „Euryanthe“ als
0173Novität warm aufgenommen, waren aber sofort erkaltet,
0174als der Componist abgereist war. Die Oper verschwand
0175nach wenigen Aufführungen wieder vom Repertoire. Und
0176so ist es jedesmal geschehen, so oft ein kunstsinniger Director
0177unserer Hofoper die lange Vernachlässigund wieder gut-
0178machen wollte und die „Euryanthe“ in neuer Besetzung
0179und Ausstattung wieder auferstehen ließ. Freudigste Zu-
0180stimmung des Publicums und der Kritik — und nach
0181wenigen Wiederholungen abermals ein leeres Haus! Ein
0182wahres Fest schien es, als am 18. August 1855 unter
0183Esser’s Direction „Euryanthe“ aus vieljährigem Schlafe
0184wieder erwachte. In Ander begrüßte man den
0185idealsten Adolar, in Beck den gewaltigsten Lysiart.
0186Mit ihnen wetteiferten an Stimmkraft und Begeisterung
0187Therese Tietjens als Euryanthe, die Czillagh als
0188Eglantine. Vorzüglich wirkten in den kleinen Rollen des
0189Königs und der Bertha Herr Mayerhofer und Fräu-
0190lein Amalie Weiß, spätere Frau Joachim. Außer Beck,
0191dem in Baden Unsichtbaren und Unnahbaren, und dem
0192trefflichen Mayerhofer, den, rüstig und heiter trällernd,
0193man täglich in Hietzing begegnen kann, umfängt alle die
0194Genannten der ewige Schlaf. Auch mit dieser Elitetruppe
0195erhielt sich „Euryanthe“ in Wien nur sehr kurze Zeit.
0196Erst nach sechzehn Jahren wurde sie wieder aufgenommen,
0197fast „ausgegraben", und zwar zum erstenmale im neuen
0198Opernhause, im Jahre 1871. Neben Beck, dem einzigen
0199aufrecht gebliebenen Lysiart, sang Gustav Walter den
0200Adolar. „Zarter und schmelzender“ (so berichteten wir damals)
0201wird man die Romanzen des schwärmerischen Minne-
0202sängers kaum wieder hören Die Euryanthe sang zum
0203erstenmale Frau Wilt abwechselnd mit Frau Dust-
0204mann
, die Eglantine Frau Materna. Dessoff diri-
0205girte. Die Wiederholungen erschienen spärlich, gleichsam
0206tropfenweis. Neuen Aufschwung nahm die Oper im 
0207Jahre 1886, als Jubiläums-Vorstellung zu Weber’s
0208hundertstem Geburtstag unter W. Jahn. Den Adolar 
0209sang Herr Winkelmann, heute noch ein willkommener,
0210kräftiger Vertreter dieser anstrengenden Partie. Frau
0211Sucher (dann Fräulein Klein) gab die Euryanthe, Frau
0212Materna die Eglantine, den Lysiart Herr Sommer.
0213Auch diese Neubelebung reichte nur für kurze Zeit. Zwei
0214Wiederholungen, eine zu Ende 1886, die letzte am 2. Ja-
0215nuar 1887, das war Alles! Nun endlich nach abermals
0216sechzehn Jahren gelangen wir zu der neuesten
0217Wiederaufnahme der „Euryanthe“, zur gestrigen Aufführung
0218der Oper unter Director Mahler.


0219In ganz merkwürdigem Verhältniß finden wir die
0220Aufführungszahl der „Euryanthe“ zu jener des „Freischütz“.
0221Weber’s „Freischütz“ hat hier in runder Zahl 500 Wieder-
0222holungen erlebt, „Euryanthe“ — blos hundert! Im
0223neuen Opernhause, also seit 1871, ist „Euryanthe“ nur
0224elfmal gegeben worden. In zweiunddreißig Jahren! Einer
0225vorgefaßten Meinung oder ungerechten Laune des Publi-
0226cums kann man diese geringe Zugkraft der „Euryanthe“
0227unmöglich zuschreiben. Die Begeisterung der Wiener für
0228den „Freischütz“ übertrug sich ja anfangs auch auf die
0229Euryanthe“. Sobald aber Weber von Wien abgereist
0230war, erlosch auch das Interesse an „Euryanthe“. Es hat,
0231wie wir gesehen, immer sehr lange Zeit gebraucht, bevor
0232unsere Operndirection von neuem den Muth faßte, die aus
0233Mangel an Theilnahme abgesetzten „Euryanthe“-Vorstel-
0234lungen wieder aufzunehmen. Kein Zweifel, daß die Musik
0235neben ihren so glänzenden Vorzügen doch nicht mehr die
0236Frische und Natürlichkeit des „Freischütz“ aufweist; die
0237weit größere Schuld, ja die entscheidende, lastet
0238auf dem Textbuch. Das empfinden wir bei jeder
0239Wiederholung. Man urtheilt in neuerer Zeit über Opern-
0240texte viel strenger, als es vor siebzig Jahren der Fall war.
0241Aber die heute viel schärfer betonte Unzufriedenheit mit
0242dem Libretto der Hermine v. Chezy ist keineswegs neuen
0243Datums. Schon im Jahre 1824 schrieb darüber in der
0244Zeitschrift „Cäcilie“ der bekannte Kunstkritiker St. Schütze 
0245(gestorben 1839 als Hofrath in Weimar): „Man findet sich
0246hier nicht nur völlig getäuscht, sondern man geräth in das
0247größte Staunen, wie eine geistreiche Dichterin etwas so
0248Unvollkommenes hat liefern und ein so genialer Componist [3]
0249seine Kunst daran verschwenden können. Nicht blos ein
0250wenig Dunkelheit ist in dem Text, sondern ermangelt
0251durch und durch der Klarheit, die ein Kunstwerk haben
0252muß.“ In einer langen Abhandlung führt nun der Ver-
0253fasser diese seine Bedenken an den einzelnen Personen und
0254Scenen überzeugend aus.


0255Was mich betrifft, so habe ich in meiner innigen,
0256früher geradezu maßlosen Verehrung für Weber mich stets
0257wie auf ein Fest gefreut, wenn „Euryanthe“ wieder ein-
0258mal zur Aufführung kommen sollte. Und jedesmal — auch
0259heute — mußte ich an mir erfahren, daß ich das Theater
0260beiweitem nicht so beglückt verließ, wie ich es betreten
0261hatte. Der „Freischütz“ ist doch viel schöner! rief es in mir.
0262In der „Euryanthe“ gibt uns Weber ein Product gewalt-
0263samer Ueberspannung seines Talents. „Die „Euryanthe,“
0264schrieb er, „muß etwas ganz Neues werden, muß ganz
0265allein auf ihrer Höhe stehen!“ Sie ist auch etwas ganz
0266Neues geworden, schon dadurch, daß sie neben der im
0267selben Jahre erschienenen bescheideneren „Jessonda“ von
0268Spohr die erste deutsche Oper ist, die auf den gesprochenen
0269Dialog verzichtet. „Ueberboten“ hat sie den „Freischütz“
0270auch wirklich nach allen Richtungen, ihn aber in seiner
0271reinen volksthümlichen Wirkung nicht erreicht. Die ange-
0272strengte Tendenz nach Neuem, Großem brachte auch neue
0273und große Gefahren. In der „Euryanthe“ sehen wir die
0274frühere Innigkeit Weber’s zu überschwänglicher Senti-
0275mentalität, den Ausdruck der Leidenschaft zu gewaltsamer
0276Uebertreibung gesteigert. Freilich, gegen den „Lohengrin“ ge-
0277halten, welcher undenkbar ist ohne das Vorbild der „Euryanthe“,
0278erscheint uns letztere noch maßvoll; aber man vergesse
0279nicht, daß aus Wagners Individualität Manches
0280natürlich quillen konnte, was für Weber nicht mehr
0281natürlich war. Immer ist’s jedoch das unglückselige Text-
0282buch der „Euryanthe“ das mit seiner inneren Hohlheit
0283und Unwahrheit uns jedesmal neu verstimmt. „Die
0284Weise tadl’ ich nicht, doch wol die Worte vom Ge-
0285dicht
!“ wie es in dem Küchendeutsch der Dichterin
0286heißt. Die Fabel ist nicht blos stellenweise dunkel, sie ist
0287es total; was zu ihrem Verständnisse vor unseren Augen
0288vorgehen müßte, wird nur so beiläufig erzählt. Die Expo-
0289sition wie die Verwicklung bleibt unverständlich, die Lösung 
0290ein Räthsel. Der eine Vers der verstorbenen Emma, auf
0291dem der ganze dramatische Vorgang fußt: „Nicht
0292eher find ich Frieden, bis diesen Ring der Unschuld
0293Thräne netzt, im höchsten Leid und Treu dem
0294Mörder Rettung beut für Mord“ — er könnte eine Oper
0295umbringen. Die zweideutigen Orakel des Altertums
0296wurden wenigstens nachträglich, wenn sie erfüllt waren,
0297klar; über den Ausspruch der Emma disputirt man noch
0298beim Herausgehen aus dem Theater. Wir werden in ein
0299Netz von häßlichen Widersprüchen, welche jedes Kind lösen
0300könnte, eingesponnen und so lange festgehalten, bis es um
0301unsere Sympathie mit den zwei „idealen“ Charakteren,
0302Adolar und Euryanthe, geschehen ist. Die Handlung
0303in „Euryanthe“ ist nicht blos unzusammenhängend,
0304kindisch (wie im „Oberon“), sondern widerwärtig. Sie
0305verletzt unser sittliches Gefühl von der ersten Scene
0306an, der brutalen Wette, auf die Adolar so willig eingeht,
0307bis zur Erniedrigung der unschuldigen Euryanthe, welche
0308vor dem ganzen Hofe wie ein gehetztes Wild gemartert und
0309dann von ihrem herz- und kopflosen Geliebten zur Ab-
0310schlachtung geführt wird. Nach einer solchen Kette ver-
0311letzender Auftritte vermag schließlich selbst der „gute Aus-
0312gang“ keine glückliche, befreiende Wirkung auf uns zu üben.
0313Das blitzschnelle Ende des Bösewichterpaares Lysiart und
0314Eglantine wirkt wie eine Parodie schlechter Ritterstücke und
0315nicht besser die von Adolar vorgetragene Schlußmoral, daß
0316dies Alles, was die guten Leute und wir mit ihnen den
0317Abend hindurch erduldet haben, nur geschah, damit die
0318Geister des uns unbekannten Pärchens Udo und Emma 
0319jenseits vereint würden. Man muß nur immer wieder
0320staunen, wie viel große und schöne Musik Weber trotz
0321dieses Textbuches in der „Euryanthe“ entfaltet. Lange ist
0322Euryanthe“ vom Publicum und der Kritik abgelehnt worden.
0323Später wuchs das Verständniß und die Anerkennung immer
0324höher; ja man ist in dem Bestreben, Versäumtes gutzu-
0325machen, mitunter so weit gegangen, die „Euryanthe“ hoch
0326über den „Freischütz“ zu stellen. In Wagner’schen Kreisen
0327namentlich begegnet man dieser Anschauung. Nach dem
0328Eindruck, den ich von allen „Euryanthe“-Vorstellungen (auch
0329von der gestrigen) empfing, scheinen die Ansichten des
0330Publicums wieder zur richtigen Mitte zurückzukehren. 
0331Euryanthe“ wie „Oberon“ bieten uns in reichverzierter Vase
0332Wunderblumen aus allen Himmelsrichtungen. Ein voller,
0333frischer, immergrüner Kranz ist nur — der „Freischütz.“
0334Die Liebe zu Weber’s „Freischütz“ bleibt immer jung, immer
0335mächtig in uns. Wenn ein Biograph Schillers den „Wil-
0336helm Tell“ zu jenen seltenen Dramen zählt, die das Volk selbst
0337sich bei dem Dichter bestellt zu haben scheint, so können wir
0338das Wort getrost auch auf Weber’s „Freischütz“ anwenden.


0339Zu der gestrigen Aufführung der „Euryanthe“ war ein
0340sehr zahlreiches und dankbar anerkennendes Publicum herbei-
0341geströmt. Director Mahler hatte die Oper mit rühmens-
0342werther Pietät und Wärme einstudirt und leitete das
0343sichtlich begeisterte Orchester als erprobter Feldherr.


0344Die virtuos ausgeführte Ouvertüre, ein echt Weber-
0345sches Glanz- und Prachtstück, wurde stürmisch applaudirt.
0346Durchaus exact functionirten die Chöre und das Ballet.
0347An die vier Solopartien der Oper darf man heute nicht
0348mit allzu hohen Ansprüchen herantreten; sie erfordern un-
0349gewöhnliche Stimmkraft und Gesangstechnik. Das wärmste
0350Lob verdient das böse Paar in der Oper. Fräulein
0351v. Mildenburg, als Eglantine eine Erscheinung
0352von dämonischer Schönheit, erwies sich ihrer schwierigen
0353Rolle in Gesang und Spiel vollauf gewachsen. Ihr zur
0354Seite stand — mehr als gediegener Sänger, denn als
0355teuflischer Bösewicht — Herr Demuth, der stimmkräftige,
0356erprobte Gesangskünstler. Herr Slezak, unser hoch-
0357gewachsener schmucker Heldentenor, schien in der unge-
0358wohnten Rolle des Adolar noch etwas befangen und un-
0359sicher, führte aber die Glanznummern derselben mit
0360bestem Gelingen durch. Eine der schwierigsten Rollen,
0361Euryanthe, war Frau Förster-Lauterer zu-
0362gefallen. Mit sichtlichem Eifer hat sie sich dieser
0363Aufgabe unterzogen, leider reichte ihre Stimme nicht überall
0364aus, in welchem Falle sie durch übertrieben heftige Mimik
0365und Gesticulation sich zu helfen suchte. Ganz zweckmäßig
0366waren auch die kleineren Rollen des Königs, des Rudolph 
0367und der Bertha mit Herrn Mayer, Herrn Preuß und
0368Fräulein Kittel besetzt. Die obengenannten Darsteller
0369der Hauptpartien wurden nach jedem Actschluß gerufen.
0370Hoffentlich blüht der „Euryanthe“ von heute an eine
0371etwas rosigere Zukunft.