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Neue Freie Presse
Morgenblatt
No. 131. Wien, Dienstag den 10. Januar 1865

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Concerte.


0002Ed. H. Beethoven’s D-Messe und neunte Symphonie 
0003ertönten wie gewaltige Kanonensalven am Grabe des Jahres
00041864. Das neue Jahr begann desto kleinlicher mit allerhand
0005schüchternem Geplänkel. Mit dem Neujahrsmorgen brach ein
0006Concert des Herrn Pfeffer an, eine Aufführung von zehn
0007Compositionen dieses uns bisher unbekannten vaterländischen
0008Tonsetzers. Wer die Gewohnheit hat, sich aus dem Namen
0009einer ihm noch fremden Persönlichkeit die geistige Physiognomie
0010derselben zu abstrahiren, würde bei Herrn Pfeffer bedenklich
0011fehlgehen. Nach dem Charakter seiner Musik dürfte dieser
0012Componist weit eher Mandelmilch heißen, was ohne Zweifel
0013ein sehr anständiges, gesundes, aber wenig aufregendes Getränk
0014ist. Schliff und solide Haltung hat Alles, was wir von Herrn
0015Pfeffer hörten (und wir hörten dessen ziemlich viel), die grö-
0016ßern Instrumentalsätze verrathen ein fleißiges, wohlgenütztes
0017Studium der Meister, eine nicht ungeschickte Hand und vor
0018Allem einen auf Wohlklang und Formschönheit gerichteten, also
0019gesunden musikalischen Sinn. Den elegischen, langsamen Lie-
0020dern müssen wir sogar echte Empfindung zusprechen. Die Kehr-
0021seite der Medaille zeigt uns dafür einen ausgezeichneten Man-
0022gel an Kraft und Originalität der Erfindung. Wir entsin-
0023nen uns nicht eines einzigen Themas in der ganzen musikali-
0024schen Zimmerreise, das uns mit anderen als bekannten Augen
0025angesehen hätte. Das Streichquartett, sorgfältig im Satz und
0026von abgerundeter, nur für solchen Inhalt zu breiter Form,
0027gleicht einem schwachen Nachhall Spohr-Onslow’scher, auch
0028Mendelssohn’scher Weisen. Im Finale erscheint ein Pflicht-
0029exemplar von Fuge mit starkem Schulgeschmäckchen und scheint
0030lediglich sagen zu wollen, daß der Autor sich auch auf dieser
0031gelehrten Domäne umgethan. Weit besser gefielen uns, wie
0032gesagt, die Lieder elegischen und sentimentalen Inhalts, na-
0033mentlich das „Lied des Mädchens“ und Mosenthal’sLie-
0034besbote“, von Fräulein Bettelheim und Herrn Walter 
0035ganz ausgezeichnet vorgetragen. Hier auf dem Felde der Weh-
0036muth und Sehnsucht scheint Pfeffer’s Weizen zu blühen. Da
0037ist die Empfindung echt, der Ausdruck wahr, wenngleich weder
0038tief noch stark, auch Modulation und Accompagnement so weit 
0039charakteristisch, als es die reichlich überquellende Sentimenta-
0040lität zuläßt. Sobald der Componist hingegen das Gebiet des
0041Leidenschaftlichen oder des anmuthig Scherzenden betritt, wird
0042er ausdruckslos und banal. Die ganz äußerliche Composition
0043von Geibel’s stimmungsvollem Gedicht: „Nun der Lenz im
0044Forste wieder“, citiren wir als Beleg für die erste, die derb
0045kokette „Frühlingsmahnung“ als Beispiel der zweiten Gattung.
0046Die Lieder sind übrigens sämmtlich gut für die Stimme ge-
0047setzt und dankbar für den Sänger. Die „Frühlingsmahnung“
0048sang Fräulein Alexander, ein junges hübsches Mädchen von
0049äußerst sicherem Auftreten, kleinem Stimmchen und sehr un-
0050fertiger Gesangsbildung. Fragt man uns schließlich rundweg,
0051ob Herr Pfeffer Talent hat, so müssen wir mit der Gegen-
0052frage antworten: Was nennt ihr Talent? Versteht ihr dar-
0053unter einen gesund organisirten Tonsinn, ein anständiges Mit-
0054telmaß technischer Geschicklichkeit, ein freundlich bescheidenes
0055Nachempfinden und Nachschaffen in begrenzter Sphäre, so ant-
0056worten wir mit Freuden: Ja! Zielt aber die Frage nach
0057jener specifisch schöpferischen, ursprünglichen Kraft, welche ein
0058„Talent“ sofort unter die selbstständigen Erfinder reiht, ihm
0059eine bedeutende Wirkung und eine Rolle in den Kunstbestre-
0060bungen der Gegenwart gewährleistet, dann müssen wir mit
0061Nein antworten. Ein Talent in diesem Sinn an Herrn
0062Pfeffer zu entdecken, müssen wir dem Musikkritiker der Wie-
0063ner Zeitung überlassen, der in jüngster Zeit wieder sehr glück-
0064lich im Entschleiern verkannter einheimischer Genies ist. Der
0065äußere Erfolg des Pfeffer’schen Concerts konnte kaum günstiger
0066sein; von Freunden und Collegen ausgeführt, von Freunden
0067und Collegen angehört, fanden die Compositionen des am
0068Hofoperntheater mit Recht beliebten Chorrepetitors den schmei-
0069chelhaftesten Beifall.


0070Unter den concertirenden Pianisten des letzten Monats
0071verdient Herr Derffel jedenfalls an erster Stelle genannt zu
0072werden. Es sind im Ganzen immer tüchtige Leistungen, die er
0073bietet, Leistungen, welche eine gediegene Bildung, ein selbststän-
0074diges musikalisches Denken, eine charakteristische, mitunter geist-
0075reiche Auffassung bekunden. Was seinem Spiele zunächst fehlt,
0076ist der weiche, singende Anschlag und (damit zusammenhängend)
0077die Anmuth überhaupt. Sein Spiel hat etwas Starres, der
0078Vortrag leidet an einer gewissen Hast und excentrischen Unruhe,
0079die sich auch in der äußeren Haltung des Spielers kundgibt, 
0080ihn bei schwierigen Stellen eilen macht und nicht selten die
0081Reinheit und Klarheit derselben in Frage stellt. Dies machte
0082sich jüngst vornehmlich in Beethoven’s C-moll-Sonate (op. 111)
0083geltend, die uns in der weniger energischen, aber klaren, siche-
0084ren Auseinandersetzung Ernst Pauer’s (im vorigen Jahre)
0085weit mehr zusagte. Herr Derffel war an diesem zweiten
0086Abend offenbar nicht so gut disponirt, wie in seinem ersten
0087Concert, und das ist bei solchen Naturen immerhin von Be-
0088lang. Gegen Ende des Concerts schien Derffel sicherer und
0089aufgelegter, er spielte zwei hübsche Etuden eigener Composition
0090und Chopin’s reizende F-moll-Ballade durchaus lobenswerth.
0091Frau Maria Wilt entfaltete in Schubert’s „Allmacht“ ihre
0092kraftvolle Sopranstimme mit glänzender Wirkung. Zwei von
0093ihr vorgetragene Lieder von Theodor Kirchner eignen sich
0094in ihrer unruhig grübelnden Melodik und überwuchernden Be-
0095gleitung schlecht für den Concertsaal. Hingegen möchten wir
0096unsere Pianisten auf die Clavierstücke dieses von ihnen mit
0097Unrecht ignorirten, geistreichen Componisten aufmerksam machen.
0098Wird ihnen auch nicht Alles gleichmäßig zusagen, so bieten
0099doch die „Zehn Clavierstücke,“ „Albumblätter,“ „Prä-
0100ludien
“ und andere bei Rieter-Biedermann verlegte
0101Compositionen Kirchner’s eine höchst lohnende Ausbeute für
0102jeden Pianisten, der nicht blos Finger-Virtuose ist.


0103Muß man in Derffel, bei allen Unebenheiten seines
0104Spiels, doch immerdar eine Individualität schätzen, und
0105zwar eine tüchtig gebildete, so befindet man sich in einer ganz
0106andern Lage den vielen clavierspielenden Damen gegenüber,
0107deren Concerte in jüngster Zeit stark vorherrschten. Die Zahl
0108unserer Pianistinnen scheint Legion werden zu wollen; ob sie
0109ihre Rechnung dabei finden, müssen wir natürlich ihnen allein
0110überlassen. Uns schienen bei ihren Vorträgen zwar häufig
0111die Tempi, niemals aber die Sperrsitze vergriffen. Von der
0112jüngsten der Wiener Clavier-Amazonen, Fräulein Pauline
0113Fichtner
, haben wir bereits (nach ihrem ersten Concert) ge-
0114meldet, daß sie freundlich aufmunternden Beifall fand. Diesen
0115offenbar vor einem sehr befreundeten Publicum errungenen Er-
0116folg scheint die junge Dame oder ihre maßgebende Umgebung
0117mißverstanden zu haben, indem sie ein „zweites Concert“ eiligst
0118nachfolgen ließ. Ein Mißverständniß dünkt es uns, die durch
0119diesen Beifall ausgedrückte Hoffnung auf eine erfreuliche Zu-
0120kunft ihres hübschen, aber ganz unreifen Talentes jetzt schon [2]
0121in barer Münze escomptiren zu wollen. Fräulein Fichtner’s
0122erste Production glich einer gut überstandenen Prüfung, zu
0123welcher die Kritik freundlich gratuliren durfte; die Wiederho-
0124lung nöthigt uns den wohlgemeinten Rath ab, Fräulein Ficht-
0125ner möchte zwischen ihr zweites und drittes Concert einige
0126Jahre ernsten Studiums einschieben. Die Anforderungen, die
0127man gegenwärtig an einen Concertspieler stellt, sind so hoch,
0128und die Zahl derer, die sie erfüllen, so ansehnlich, daß alle
0129halbflüggen Pianisten sehr wohl thun würden, ihre Kräfte eher
0130zu mißtrauisch als zu sanguinisch abzuschätzen.


0131Das Concert des Fräuleins Alphonsine v. Weiß 
0132konnten wir nicht besuchen, wissen also blos aus zweiter Hand,
0133daß diese in den hiesigen Salons sehr gern gesehene Pianistin
0134lebhaften Beifall fand. Aus eigener Anschauung können wir
0135dagegen über das Concert der Frau Markl-Wiswe referi-
0136ren. Wir sind — ohne Umschweife gesprochen — wenig er-
0137baut davon. Frau Wiswe’s Anschlag ist so schwach und hilf-
0138los, ihr Vortrag so matt und einfärbig, daß sogar Beethoven 
0139und Schumann unter diesen allzu zarten Händen uns lang-
0140weilig und lästig wurden. Entbehrte nicht der erste und der
0141letzte Satz von Schumann’s F-dur-Trio vollständig der Energie,
0142das Adagio des breiten, seelenvollen Gesangs, das Scherzo
0143endlich jeder Spur von Humor, ja nur von rhythmischer Ent-
0144schiedenheit? In Tondichtungen wie dies Trio und Beetho-
0145ven’s As-dur-Sonate (op. 110) kann man sich mit einigen
0146nett hingeperlten Passagen doch nicht begnügen? Daß die Con-
0147certgeberin (genau wie im vorigen Jahre) obendrein von ihrem
0148Gedächtniß im Stich gelassen wurde, kann gar nicht in Be-
0149tracht kommen, erhöhte aber das Unerquickliche des ganzen
0150Eindrucks. Das Trio spielte Frau Wiswe mit den Herren
0151Laub und Schlesinger. Die Production schien auf Herrn
0152Schlesinger eine weich herabstimmende, auf Herrn Laub eine
0153wild aufregende Wirkung zu üben, so daß zwischen dem fast
0154unhörbaren Hauch des Claviers und des Cellos der kraftvolle
0155Geigenton mitunter ganz allein herrschend klang. — Frau
0156Wilt war mit zwei Schubert’schen Liedern nicht ganz so
0157glücklich, wie in Derffel’s Concert; den Vortrag der „Nonne“
0158beeinträchtigte unseres Erachtens auch die Clavierbegleitung,
0159welche den tobenden Aufruhr der Elemente in schwächlichen
0160Diminuendos und Smorzandos verzettelte. Eine erquickende
0161Abwechslung bot ein Vortrag unseres weitaus bedeutendsten 
0162Declamators, Herrn Lewinsky. Getreu seiner Gepflogenheit,
0163nicht stets dieselben Paraderosse zu reiten, sondern den neuen
0164poetischen Erscheinungen liebevoll zu folgen, hatte Lewinsky 
0165die ergreifende Erzählung „König Nomann’s Zins“ aus Gei-
0166bel’s
neuester Sammlung gewählt. Wir glauben, er könnte
0167es getrost auch mit der Perle dieser Sammlung, der „Blut-
0168rache
“, wagen, einem meisterhaften Gedicht, dessen Länge Le-
0169winsky’s
Kunst kaum zu fürchten hat.


0170Die „Philharmoniker“ unter Capellmeister Des-
0171soff’s
Leitung gaben in ihrem fünften Concert Mendels-
0172sohn’s
Meeresstille und glückliche Fahrt“, Beethoven’s 
0173Achte Simphonie und den „Pilgermarsch“ aus Berlioz
0174Childe Harold“. Letzteres Stück war anfangs entschieden zu
0175langsam, nicht blos nach unserer Empfindung, sondern auch
0176nach unserer genauen Erinnerung an Berlioz’ eigene Con-
0177certe; im Verlauf beschleunigte auch Dessoff das Tempo.
0178Trefflich ging die Mendelssohn’sche Ouverture und die
0179Achte Symphonie, deren reizendes Allegretto stürmisch zur Wie-
0180derholung begehrt wurde. Herr Joseph Hellmesberger 
0181spielte ein ganz eminentes Violinconcert von Seb. Bach mit
0182großer Bravour und feinster, mitunter etwas modern ange-
0183hauchter Eleganz. Er feierte damit keinen geringeren Triumph,
0184als Tags zuvor in seiner fünften Quartett-Soirée, die viel
0185des Schönen brachte. Da erklang zuerst Schubert’s A-moll-
0186Quartett, dessen weiche, blühende Romantik sich so unwider-
0187stehlich in alle Herzen stiehlt. In Tondichtungen wie diese ist
0188Hellmesberger’s Spiel geradezu unvergleichlich. Wenn
0189dem schönen, vielleicht etwas verhätschelten Talent dieses Künst-
0190lers noch ein letzter Antrieb fehlte, so hat er diesen in der
0191Rivalität des gefeierten Laub erhalten. Hellmesberger war
0192niemals ein besserer Quartettspieler als jetzt, wo er nicht mehr
0193der einzige ist. — Unter dem Eindruck von Schubert’s 
0194Melodienfülle hatte die unmittelbar darauf folgende „Suite
0195für Clavier und Violine“ von Karl Goldmark begreiflicher-
0196weise einen schweren Stand. Um so ehrenvoller der Erfolg,
0197den die tüchtige, geistreiche, aber etwas trübe und reflectirte
0198Composition errang. Goldmark’sSuite“ führt diesen Na-
0199men nur sehr beiläufig, weder von den alten Charaktertypen
0200dieser Form, noch von Tanzweisen überhaupt ist darin die
0201Rede. Das Stück könnte eher eine Sonate mit eingeschobenen
0202fünften Satz (Intermezzo) genannt werden. Der erste (unseres 
0203Erachtens bedeutendste) Satz ist ein rasch und energisch dahin-
0204stürmendes Allegro (E-dur, ¾), der zweite ein breit
0205ausgeführtes Andante in Cis-moll, eine düstere, lang-
0206gezogene Klage, deren Melodik und Harmonisirung
0207an orientalische Weisen anklingt. Es folgen zwei kürzere Sätze,
0208ein die Stelle des Scherzo vertretender Dreivierteltact (E-dur)
0209und ein Andantino im Sechsvierteltact (A-dur); beide Num-
0210mern mit schönen, gesangvollen Motiven beginnend, die nur
0211leider im Verlauf allzusehr mit jenen unbestimmten, gebroche-
0212nen Farben übermalt werden, die seit Schumann stark im
0213Schwunge und von Goldmark ganz besonders bevorzugt
0214sind. Der Finalsatz (Cis-moll, Alla breve), dessen etwas
0215zappelnde Regsamkeit mitunter an Mendelssohn’sche Allegros
0216erinnert, schließt das Ganze jedenfalls in effectvoller, die Bra-
0217vour beider Spieler günstig herausfordernder Weise. Die
0218Suite“ bezeichnet einen unleugbaren Fortschritt gegen Gold-
0219mark’s
frühere Werke, der Componist hat einen guten Theil
0220seiner früheren Verworrenheit und grübelnden Subjectivität
0221von sich geworfen, er ist klarer, freier, in der Form conciser
0222geworden. Wir hoffen, er werde in dieser Befreiung, beson-
0223ders nach melodischer Seite hin, noch einen Schritt weiter
0224thun; seine von edelstem, ernstem Sinn getragene Musik wird
0225dann auch der allgemeinen Wirkung nicht entbehren. Die Suite 
0226wurde von Fräulein Bettelheim und Herrn Hellmesber-
0227ger
meisterhaft gespielt. Fast that es uns leid, daß Fräulein
0228Bettelheim, die Zierde jeder Opernbühne, es „gottlob nicht
0229nöthig“ hat, Clavierspielerin zu sein. Keine unserer Pianistin-
0230nen (wozu auch mehrere Pianisten gehören) besitzt entfernt
0231diese Kraft des Anschlags, diese rhythmische Energie und Frei-
0232heit des Vortrags. Das Publicum schien von dem Spiel
0233Fräulein Bettelheim’s neuerdings überrascht und rief die
0234Künstlerin wiederholt mit Hellmesberger und Goldmark.
0235— Den Schluß der Soirée bildete Beethoven’s großes
0236Cis-moll-Quartett (op. 132), bekanntlich eine der schwierigsten
0237Aufgaben für Spieler und Hörer. Oft und anhaltend läßt
0238uns darin der Meister in trübem Nebel, die Leuchte erlischt,
0239der Faden entgleitet unserer ängstlich tastenden Hand. Zum
0240Glück ist, wo die Noth am größten, auch wieder der alte
0241Beethoven am nächsten und schleudert Sonnenblitze in das
0242Dunkel, von deren Licht Hunderte seiner Epigonen zehren könn-
0243ten — und auch wirklich zehren.