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Neue Freie Presse
Morgenblatt
No. 388. Wien, Mittwoch den 27. September 1865

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Der österreichische Adel und die Musik. II.


0002Ed. H. Von der kunstliebenden Aristokratie gelangte die
0003Musikpflege in die Hände des bürgerlichen Dilettantenthums.
0004Beide Perioden gehen unmerklich in einander über. Mit der Ent-
0005lassung der Privatcapellen hatte der österreichische Adel
0006keineswegs aufgehört, Musik zu pflegen und in großartiger
0007Weise zu unterstützen. Im Gegentheil, der Adel erscheint
0008am Ausgang des vorigen und zu Anfang dieses Jahrhunderts
0009als die oberste und glänzendste Schichte des musikalischen
0010Dilettantenthums
in Wien. Er besoldete keine eigenen
0011Capellen mehr, aber er musicirte selbst. Nicht ohne Freude
0012und patriotischen Stolz kann man jener Zeit gedenken,
0013wo in den höchsten Kreisen auch die größte Musikliebe
0014herrschte und mit dem Adel der Geburt so gern der Adel
0015des Talentes und der Bildung sich verband. Die Wiener
0016Aristokratie stand überall an der Spitze, wo Erhebliches für
0017die Tonkunst geschah. Sie hat zwar nicht, wie der Prager
0018Adel im Jahre 1808, ein Conservatorium errichtet, aber sie
0019darf sich anderer Thaten rühmen, die ein Conservatorium
0020aufwiegen. Man kennt die beiden Monumente, die der öster-
0021reichische Adel sich in der Geschichte der Musik gesetzt hat,
0022das eine, indem er Haydn’s „Schöpfung“ und „Jahreszeiten“ er-
0023warb und zuerst aufführte — das zweite, indem er durch eine lebens-
0024längliche an keine Gegenleistung geknüpfte Pension von 4000 fl.
0025Beethoven eine unabhängige, sorgenfreie Existenz sicherte.*)


0035Aus Mozart’s Briefen kennen wir die hervorragende
0036Rolle, welche in den Achtziger-Jahren der Adel in dem Wie-
0037ner Musikleben spielte, den ununterbrochenen herzlichen An-
0038theil, den die liebenswürdige Gräfin Thun, Graf Hatz-
0039feld
, Fürst Lichnowsky (später Beethoven’s Freund und
0040Gönner) und Andere an Mozart’s Leben und Schaffen nah-
0041men. Während Mozart nur wenige öffentliche Concerte gab,
0042ist die Zahl seiner Productionen in den Privatconcerten des
0043hohen Adels eine sehr große. Bereits im Winter 1782 war
0044Mozart beim Fürsten Galitzyn auf alle Concerte enga-
0045girt, im nächsten Winter spielte er regelmäßig bei demselben,
0046bei Graf Johann Eszterhazy, bei Graf Zichy. In einem
0047Briefe vom Jahre 1784 theilt er seinem Vater mit, daß er
0048vom 26. Februar bis 3. April fünfmal bei Galitzyn, neun-
0049mal bei Eszterhazy zu spielen habe. Die Mitwirkung in die-
0050sen aristokratischen Soiréen gehörte überdies zu Mozart’s
0051besten Einnahmsquellen. Die Cavaliere schaarten sich in den
0052Jahren 1780 bis 1803 in musikalischen Angelegenheiten meist
0053um den Freiherrn Gottfried van Swieten, der, ein ernster,
0054langer, feierlicher Mann, beinahe das Ansehen eines musika-
0055lischen Oberpriesters in Wien genoß. Die Musiken, die Sonn-
0056tag Morgens bei ihm gemacht wurden und an denen Mo-
0057zart
theilnahm, waren nicht für Zuhörer berechnet. Der
0058Hausherr und die wenigen Mitwirkenden hatten dabei ledig-
0059lich den Zweck, classische Werke kennen zu lernen (vorzüglich
0060von Händel und Bach), die man damals in Wien nicht
0061öffentlich zu hören bekam. Von weitgreifendem Einflusse wa-
0062ren hingegen die großen Aufführungen Händel’scher Ora-
0063torien, welche van Swieten mit bedeutenden Vocal- und In-
0064strumentalkräften ins Werk setzte. Mehrere Kunstfreunde
0065aus dem hohen Adel erklärten sich auf Swieten’s Anre-
0066gung zur Tragung der Kosten bereit; es waren die Fürsten
0067Lobkowitz, Schwarzenberg, Dietrichstein, die Grafen Apponyi,
0068Batthyany, Franz Eszterhazy, also zum Theil derselbe Kreis
0069von musikalischen Aristokraten, welchen wir zehn Jahre
0070später für die Aufführung von Haydn’s „Schöpfung“ zusam-
0071menwirken sehen. Diese Akademien fanden im Saal der k. k. 
0072Hofbibliothek statt, deren Vorstand van Swieten war, hin
0073und wieder auch im Palais des Fürsten Schwarzenberg auf
0074dem Mehlmarkte. Der Zutritt war unentgeltlich und stand
0075nur geladenen Gästen zu. Die Proben wurden im Hause
0076Swieten’s gehalten, der alle Vorbereitungen mit großem Eifer
0077betrieb. Die Mitwirkenden gehörten größtentheils der Hof-
0078capelle und dem Opern-Orchester an; Dirigent war anfangs
0079Joseph Starzer, nach dessen Tode (1787) Mozart, der
0080junge Weigl accompagnirte am Clavier. Mozart lieferte für
0081diese Aufführungen 17881790 seine bekannten und lange
0082Zeit alleinherrschenden Bearbeitungen des „Messias“, dann der
0083Cantaten „Acis und Galathea“, „Alexanderfest“ und der „Ode
0084auf den St. Cäcilientag“ von Händel. An diese Concerte
0085in der Hofbibliothek schlossen sich einzelne große Productionen
0086im Schwarzenberg’schen Palast, gleichfalls vor einer geladenen
0087Gesellschaft, wie die berühmten ersten Aufführungen der
0088Schöpfung“ (1799) und der „Jahreszeiten“ (1801). Diese
0089Aufführungen waren keine regelmäßig wiederkehrenden, doch
0090gab es deren in der Regel jährlich einige. Sie waren veran-
0091staltet von einer Gesellschaft Hochadeliger, deren „beständiger
0092Secretär“ van Swieten war. Eine weitere Abzweigung
0093war das sogenannte „adelige Liebhaber-Concert“,
0094oder „Cavalier-Concert“, das unter dem Protectorat des
0095Fürsten Trauttmansdorff sich im Jahre 1806 bildete,
0096und mit der denkwürdigen Aufführung der „Schöpfung“ im
0097Universitätssaal am 27. März 1808 abschloß, bei welcher
0098Haydn zum letztenmal öffentlich erschien. Hiemit endet die
0099thätige Mitwirkung des hohen Adels an großen Musikauf-
0100führungen. Die Musikpflege desselben zog sich aus den gro-
0101ßen Formen der Orchester- und Chorcomposition mit seltener
0102Ausnahme ganz in die kleine behagliche Kammermusik zurück.
0103Es ist bekannt, wie einflußreich und fördernd die Musikpflege
0104des Adels auch in dieser Form für Beethoven wurde.
0105Seine Quartette, Trios und Sonaten haben in den Häusern
0106Lichnowsky’s, Rasumowsky’s, der Grafen Fries und Bruns-
0107wick zum größten Theil ihre erste Aufführung und begeister-
0108teste Aufnahme gefunden.

[2]


0109Ein lebendiges, aus unmittelbarer Anschauung gemaltes
0110Bild des Musiktreibens in den Wiener Adelskreisen geben
0111uns die „Vertrauten Briefe“ des preußischen Capellmeisters
0112J. Fr. Reichardt, der in den Jahren 1808 und 1809 in
0113Wien verweilte. Es war die Zeit des letzten glänzenden Auf-
0114flackerns des aristokratischen Musikcultus, dieser erlöschenden
0115Flamme. Reichardt kam aus einem hochgebornen Concert in
0116das andere, und bei Concerten blieb es nicht. Im Hause des
0117Fürsten Lobkowitz wurden italienische Opern aufgeführt,
0118durchaus von Dilettanten und mit schönstem Erfolge. Rei-
0119chardt, dessen Oper „Bradamante“ dort vollständig probirt
0120wurde, nennt das Lobkowitz’sche Haus „die wahre Residenz
0121und Akademie der Musik“. Beethoven’s „Eroica“ erlebte ihre
0122erste Aufführung im Palast des Fürsten Lobkowitz, welcher
0123Beethoven die Partitur abgekauft hatte. Bei Lobkowitz, er-
0124zählt Reichardt, „kann man zu jeder Stunde in dem besten
0125schicklichsten Locale Proben nach Gefallen veranstalten, und
0126oft werden mehrere Proben in verschiedenen Sälen und zu
0127gleicher Zeit gehalten“ — ein sprechendes Zeugniß, daß es
0128dem Fürsten nicht blos um prunkende Ostentation zu thun
0129war. Kann es endlich ein liebenswürdigeres Zeit- und Sit-
0130tenbild geben, als den Fürsten Lichnowsky bei der Probe von
0131Christus am Oelberg“? „Es war eine schreckliche Probe,“
0132erzählt Ries. „Sie hatte um 8 Uhr Früh (im Theater an der
0133Wien) angefangen, um halb 3 Uhr war Alles erschöpft und
0134mehr oder weniger unzufrieden. Da ließ Fürst Karl Lich-
0135nowsky, der vom Anfang an der Probe beiwohnte, kaltes
0136Fleisch, Butterbrot und Wein in großen Körben herbeiholen,
0137freundlich ersuchte er Alle, zuzugreifen, was nun auch mit
0138beiden Händen geschah und den Erfolg hatte, daß die Leute
0139wieder guter Dinge wurden. Nun bat der Fürst, das Ora-
0140torium noch einmal durchzuprobiren, damit es Abends recht
0141gut ginge und das erste Werk dieser Art von Beethoven 
0142würdig vor’s Publicum gebracht würde — die Probe fing
0143also wieder an.“


0144Diese eifrige musikalische Thätigkeit des Adels würde 
0145schon alles Lob verdienen, wenn sie auch nur den Adel selbst
0146gebildet und erfreut hätte. Aber die wohlthätige Wirkung er-
0147streckte sich noch weiter. Sie äußerte sich (ermöglicht und be-
0148fördert durch die vorangegangene französische Revolution) auch
0149in dem socialen Verhalten, indem sie die Künstlerwelt und
0150den gebildeten Mittelstand mit dem hohen Adel verband. Die
0151Musik bewirkte diese freie Annäherung in einem Grade, von
0152dem unsere demokratisch doch so vorgeschrittene Zeit keine
0153Ahnung mehr hat. Schon der Umstand, daß Reichardt,
0154ein einfacher Capellmeister und keineswegs Berühmtheit ersten
0155Ranges, in diesen vornehmsten Kreisen um die Wette einge-
0156laden und fetirt wurde, spricht für deren Kunstinteresse und
0157Liebenswürdigkeit. In den Soiréen bei Fürst Lobkowitz 
0158traf Reichardt wiederholt kaiserliche Erzherzoge, namentlich
0159Rudolph und Ferdinand, daneben Componisten, Gelehrte,
0160Virtuosen — Alles ohne beengende Etiquette mit einander
0161verkehrend. Erzherzog Rudolph (Beethoven’s großmüthiger
0162Freund und Beschützer) nahm keinen Anstand, diese Gesell-
0163schaften stundenlang mit seinem trefflichen Clavierspiel zu
0164erfreuen, die Gräfin Kinsky sang u. s. w. Waren Musiken
0165bei den Bankiers-Familien Pereira, Arnstein oder Henik-
0166stein, so konnte man gleichfalls darauf zählen, Kunstfreunde
0167aus dem höchsten Adel, Lobkowitz, Kinsky, Dietrichstein, dort
0168anzutreffen. Es unterliegt keinem Zweifel, daß wir in dieser
0169Hinsicht Rückschritte gemacht und keine Kreise mehr haben, in
0170welchen die Musik eine so schön vermittelnde, social nivelli-
0171rende Kraft ausübt. Musikliebe und Musikpflege spie-
0172len im Leben der gegenwärtigen Aristokratie nicht die
0173Rolle von ehemals, von großen Concert-Aufführungen bei
0174oder gar von dem hohen Adel ist nirgends mehr zu verneh-
0175men. Letzteres kann man allerdings der Aristokratie nicht ein-
0176seitig zum Vorwurf machen. Hat doch in dem Maß, als das
0177Concertleben sich zur vollsten Oeffentlichkeit entwickelt hat,
0178auch der Musikbetrieb im Mittelstand sich in engste Schran-
0179ken zurückgezogen. Die Concerte in Privathäusern,
0180von welchen das alte Wien täglich widerhallte, haben ebenso
0181wie die in den Palästen aufgehört. Man besucht Concerte,
0182aber man veranstaltet keine mehr, man hört alle neuen
0183Quartette und Symphonien, aber man spielt sie nicht mehr
0184selbst. Ehemals war auch der kaiserliche Hof ohne alle Osten-
0185tation mit dem schönsten Beispiel vorangegangen. Es ist be-
0186kannt, welch’ entschiedene musikalische Begabung und Bil-
0187dung insbesondere den Kaisern Karl VI., Leopold I., Jo-
0188seph II. und dem Erzherzog Rudolph eigen war und welche
0189bedeutende Stelle in ihrer Tagesordnung die eigene Ausübung
0190der Tonkunst einnahm. Hat nun auch seither der kaiserliche
0191Hof niemals seinen Schutz der Musik entzogen, so gehört es
0192doch längst der Geschichte an, daß österreichische Kaiser und
0193Erzherzoge sich als Tonkünstler selbst hervorgethan und ihre
0194Freude darin gefunden haben, bei ihren regelmäßigen Musik-
0195partien mitzuwirken. Die Concerte mit großem Orchester,
0196welche im Lustschloß Laxenburg unter Salieri’s oder Weigel’s
0197Direction oft gegeben wurden, in denen Kaiser Franz die
0198erste Violine spielte und die Kaiserin (Maria Theresia von
0199Neapel) sang, hörten mit dem Tode der Letzteren (1807)
0200gänzlich auf. Der Kaiser verlegte sich nun aufs Quartett-
0201spielen. Das Streichquartett auf Schloß Persenbeug, das aus
0202dem Kaiser Franz, Graf Wrbna, Feldmarschall-Lieute-
0203nant Kutschera und Capellmeister Eybler bestand und
0204dem an ruhigen Abenden unten die Schiffer auf der Donau
0205lauschten, es war der letzte schwache Nachklang aus der musi-
0206kalischen Kaiserzeit.


0207Auch ohne äußerlich hemmende Einflüsse wäre das fröh-
0208liche Concertiren in den Adelspalästen Wiens allmälig vor
0209der anwachsenden Macht des modernen öffentlichen Musik-
0210lebens geschwunden. Die politischen Calamitäten, besonders
0211das für Wien so tief schmerzliche und demüthigende Kriegs-
0212jahr 1809 trugen aber noch besonders dazu bei, jene musi-
0213cirende Freudenzeit definitiv zum Abschluß zu bringen. Man
0214kann das Jahr 1809 als den entscheidenden Wendepunkt, als
0215das Sterbejahr jener schönen aristokratischen Bestrebungen
0216ansehen.

Fußnoten
  • *)Die Adeligen, welche im Jahre 1799 die Aufführung der
    Schöpfung“ veranstalteten und für Haydn ein Honorar von
    500 Ducaten zusammenschossen, waren: die Fürsten Eszterhazy,
    Trauttmansdorff, Lobkowitz, Schwarzenberg, Kinsky, Liechtenstein,
    Lichnowsky, die Grafen Marschall, Harrach, Fries, Freiherr
    v. Spielmann und van Swieten. Die Pensions-Urkunde zu Gunsten
    Beethoven’s, ddo. 1. März 1809, war ausgestellt vom Erzherzog
    Rudolph (1500 fl.), Fürst Lobkowitz (700 fl.) und Fürst Kinsky 
    (1800 fl.).