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Neue Freie Presse
Morgenblatt
No. 452. Wien, Donnerstag den 30. November 1865

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Das erste „Patti-Concert“.


0002Ed. H. Indem wir in unserem letzten Feuilleton die
0003neue Erscheinung der Ullman’schen Associations-Concerte ganz
0004im Allgemeinen, als Form, betrachteten, wollten wir die Sache
0005von den Personen trennen. Letztere haben wir erst in dem
0006Patti-Concert von gestern Abends, also nach Abfassung jenes
0007Artikels, kennen gelernt. Die Thatsache des ungemeinen Er-
0008folges ward von uns in einer kurzen Nachschrift gemeldet;
0009über die Production selbst sind wir dem Leser noch genaueren
0010Bericht schuldig.


0011Gleich beim Eintritt in den glänzend beleuchteten Saal
0012war Jedermann von dem zweckmäßigen Arrangement ange-
0013nehm überrascht. Herr Ullman hat die zahlreichen Seiten-
0014öffnungen und Loggien zu beiden Seiten des Saales und der
0015Galerie — dem Ballbesucher als Pforten zum Souper be-
0016kannt — durch Holzwände verschließen lassen, um eine günstigere
0017Akustik zu erzielen. Die Eintheilung der Sitzreihen, sowie die
0018Ordnung bei Anweisung der Plätze war musterhaft — möge
0019sie auch thatsächlich ein Muster sein für unsere Redoutensaal-
0020Concerte, in welchen selbst ergraute Stammgäste nur mit
0021Mühe und Gefahr ihre Sitze auffinden. Dadurch, daß die
0022Stühle mittelst Holzleisten befestigt waren, sah sich der dank-
0023bare Zuhörer von der üblichen Barbarei des Rutschens er-
0024löst. Rühmen wir noch, daß selbst die Zuhörer auf den nicht-
0025nummerirten Plätzen des Parterres und der Galerie voll-
0026kommen bequem und ungedrängt waren, so wird man gerne
0027dem Lob zustimmen, das einhellig über Herrn Ullman’s Ar-
0028rangirtalent laut wurde.


0029Was die gefeierte Carlotta Patti betrifft, so will
0030sie mit einem eigenen Maßstab gemessen sein. Die abnorme
0031Höhe ihrer Stimme und mehr noch die erstaunliche Leichtig-
0032keit und Sicherheit, mit der sie sich in dieser dreigestrichenen
0033Schneeregion des Gesanges bewegt, in welcher selbst einer
0034Malibran und Catalani jeder Athemzug vergangen wäre,
0035stempeln Carlotta Patti zu einer bisher nicht vorgekommenen
0036und vielleicht niemals wiederkehrenden Specialität, also schlecht-
0037hin zu einem Unicum in der Gesangswelt. Sie erreicht Töne,
0038wie das dreigestrichene d, e, f, nicht etwa in gewagtem, blitz-
0039artigem Sprung oder vorbereitendem Anlauf, sondern setzt sie
0040nach einer Pause pianissimo oder mezza-voce frei, mit vollen-
0041deter Reinheit und Ruhe ein, schwellt sie bis zum fortissimo
0042und läßt sie allmälig wieder zum Hauch verklingen. In der
0043Linda-Arie hörten wir Triller auf dem hohen des und es, im
0044Carneval von Venedig“ ein lang und kraftvoll ausgehaltenes
0045e, in dem (nach Es-dur transponirten) „Schattenwalzer“
0046der Dinorah Echo-Effecte in den höchsten Lagen, einmal sogar
0047in schönstem Klang das dreigestrichene ges!


0048Durch diese wahrhaft außerordentliche Kehle und durch
0049die Virtuosität in Allem, was auf jenem ihr allein gehörigen
0050Höhengebiete sich bewegt, ist Carlotta Patti unstreitig eine
0051Erscheinung ohnegleichen.


0052Ihre Intonation ist stets haarscharf, ihre Virtuosität
0053nach einigen Richtungen sehr ausgebildet, vor Allem im Stac-
0054cato, das man nicht glänzender hervorbringen kann, als sie
0055es in den Sextensprüngen der Linda-Arie und am Schluß
0056der Lachcouplets thut. Der Triller ist leicht und flüssig, aber
0057nicht immer von tadelloser Gleichheit; am wenigsten befrie-
0058digte die Verbindung der Töne im Legato, namentlich bei
0059herabsteigender Scala. Als vollendete Gesangskünstlerin
0060erscheint uns demnach Carlotta Patti trotz all ihrer blenden-
0061den Kunststücke nicht, und wir können sie, auch vom blos
0062technischen Standpunkt, unmöglich in Eine Reihe mit Ade-
0063lina Patti
oder Désirée Artôt stellen. Der Klang die-
0064ser phänomenalen Stimme ist nicht ohne eigenthümlichen Reiz
0065— die Höhe silberglöckchenartig — hat aber weder Größe
0066noch Wärme. Sie ist von einem kalten gläsernen Glanz, der
0067im Passagenwerk an Sterngeflimmer, in ruhiger Ausbreitung
0068auf den höchsten Noten an das weiße Licht des Magnesiums
0069erinnert. Eine gewisse Familienähnlichkeit herrscht zwischen
0070den Stimmen Carlotta’s und ihrer jüngeren Schwester, un-
0071gefähr wie zwischen ihren Gesichtszügen, doch ist Adelina’s 
0072Organ voller, wärmer und vor Allem empfänglicher für alle
0073Schattirungen des Ausdrucks. Die mittleren und tiefen Töne
0074Carlotta’s haben wenig Körper und Rundung; wenn sie
0075eine Cantilene in gewöhnlicher Gesangslage anhebt (wie gleich
0076anfangs in der Linda-Arie), so glaubt man fast eine Kinder-
0077stimme zu vernehmen und lauscht ihr mehr befremdet als be-
0078friedigt. Wir mußten den Timbre dieser Stimme erst förm-
0079lich gewöhnen, er sagte uns in der dritten Nummer besser 
0080zu, als in der zweiten und ersten, und am besten in der
0081letzten.


0082Wenn uns, was leicht möglich ist, Stimme und Aus-
0083druck Carlotta’s in gleicher Progression von Concert zu Con-
0084cert, wie gestern von Nummer zu Nummer, schöner vorkom-
0085men sollte, werden wir nicht zögern, es mit Freuden zu
0086gestehen. Und ihr Vortrag? Er gleicht frappant der Stimme.
0087Strahlend, elegant, sogar graziös, läßt der Gesang Carlotta’s
0088die weite, reiche Welt des Gedankens und der Empfindung
0089völlig abseits; das ewige Meer der Leidenschaft kräuselt er
0090nicht mit Einer Welle. Er blendet den Sinn, entzückt ihn
0091vielleicht, aber zum Herzen findet er keinen Weg. Aus diesen
0092Tönen dringt nicht Blumenduft noch Frühlingswärme zu
0093uns; kein Druck einer geliebten Hand, kein Blick eines
0094seelenvollen Auges — wir sind allein unter geschliffenen Kry-
0095stallen und hellpolirtem Marmor. Der Hörer kommt aus dem
0096Bewundern nicht heraus, der Kritiker nicht über die Bewun-
0097derung. Carlotta Patti ist eine eminente Merkwürdigkeit,
0098man muß sie gehört haben. Wie mächtig man sich hierauf
0099gedrängt fühle, sie oft und wieder zu hören, das mag die
0100Empfindung jedes Einzelnen entscheiden. Am meisten erstaunt
0101hat uns unter Carlotta’s Vorträgen der „Carneval von
0102Venedig“, am aufrichtigsten erfreuten die Couplets (l’éclat
0103de rire) von Auber. Dieser anspruchslose Scherz schien
0104uns, so wie er äußerlich die schönen, statuarischen Züge der
0105Sängerin plötzlich belebte, auch ihrem Gesang ein eigen-
0106thümliches Leben einzuhauchen. Dieses Lied singt Carlotta
0107Patti nicht blos mit Bravour, sondern in der That mit
0108Esprit und liebenswürdigem Humor. Das Publicum schien
0109derselben Ansicht, es steigerte den Beifall, den es der Künst-
0110lerin nach jeder Nummer so reichlich gespendet, nach den
0111Lach Couplets zum vollständigen Sturm. Ueberdies wirkt
0112das gesungene Lachen ansteckend; es war zu ergötzlich, nichts
0113als lächelnde und lachende Gesichter im ganzen Saale
0114zu sehen.


0115Die Clavierbegleitung aller Solostücke wurde von Herrn
0116Ed. Franck in jener vorlauten und schleuderischen Weise
0117abgehämmert, welche unsern Walzerspielern auf Hausbällen
0118eigen ist.


0119Die berühmten drei Instrumental-Virtuosen, welche an
0120dem Abend auftraten (Jaell, Vieuxtemps und Piatti), [2]
0121sind unserem Publicum aus früheren Zeiten bekannt und
0122lieb; wir können uns daher über sie kürzer fassen. Die Er-
0123öffnungsnummer spielten sie zusammen: Mendelssohn’s
0124C-moll-Trio, welches uns bereits stark frostig und formell
0125klingt. Die Ausführung war virtuos, in jedem Sinn, also
0126nicht blos im lobenden; sie kam uns gar zu glatt im Aus-
0127druck, gar zu rapid im Zeitmaß vor. Es wäre kein Wunder,
0128wenn die Herren nicht in bester Stimmung waren, drückte
0129sie doch die doppelte Wahrnehmung, in einem für Kammer-
0130musik viel zu großen Raum und vor einem aus lauter Patti-
0131Neugierde zerstreuten Publicum zu spielen. Sobald letztere
0132befriedigt war und die drei Künstler sich einzeln producirten,
0133war ihr Erfolg auch der allergünstigste. Herr Jaell ist als
0134der vollendete Salonspieler zurückgekehrt, der uns vor zwei
0135Jahren verlassen, ja wir möchten behaupten, er habe sein
0136„Home, sweet home“ diesmal noch eleganter und perlender
0137vorgetragen als je, wenn wir selbst das für möglich hielten.
0138Herr Alfred Piatti gilt unbestritten für den ersten lebenden
0139Violoncell-Virtuosen. Sein Ton ist von entzückender Fülle
0140und Reinheit, sein Vortrag vornehm und gesangvoll, die linke
0141Hand thut Wunder an Behendigkeit, während die rechte den
0142Bogen bald leicht wie auf einer Violine, bald wuchtig wie
0143auf dem Contrabaß führt. Blos das Eine war zu bedauern,
0144daß Herr Piatti seiner Kunst keine besseren Objecte ge-
0145wählt hatte, als die beiden veralteten Solostücke von Mo-
0146lique
und Kummer.


0147Ueber Herrn Vieuxtemps kommt uns das Urtheil
0148etwas schwerer an, denn fast erkannten wir in ihm den herr-
0149lichen Meister vom Jahre 1852 nicht wieder, für den kaum
0150ein Kritiker mehr geschwärmt hat, als Schreiber dieser Zei-
0151len. Der Vieuxtemps vom gestrigen Patti-Concert glänzt
0152noch immer als ein Virtuose voll Bravour und prickelnder
0153Effecte, aber es ist nicht mehr jener große, edle Geiger, der
0154die blühenden Töne mit der Wurzel herauszog, und dessen
0155gewaltiger Sang jedes Herz bewegte. Eine gewisse Flachheit
0156und leere Leichtigkeit, ein bequemes Prunken mit kleinlichen
0157Flageolett-Effecten und Aehnlichem hat sein ehemals impo-
0158santes Spiel verwinzigt. Möglich, daß besondere, ungünstige
0159Einflüsse gerade an dem Abend ihn gehemmt oder uns ge-
0160täuscht haben — nichts könnte uns lebhafter freuen, als wenn
0161Vieuxtemps selbst unsere Meinung demnächst widerlegen und
0162unbarmherzig niedergeigen würde. Eine alte Liebe wäre uns
0163zurückgegeben.