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Neue Freie Presse
Morgenblatt
No. 551. Wien, Dienstag den 13. März 1866

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Salomon Sulzer.


0002Ed. H. Während bereits der letzte Schnee des Concert-
0003winters vor den Strahlen der Ostersonne schmilzt, geht durch
0004die musikalischen Kreise Wiens noch eine fröhliche Geschäftig-
0005keit und Bewegung ganz eigener Art. Sie gilt dem in wenig
0006Tagen stattfindenden 50jährigen Jubiläum des Ober-Cantors
0007am israelitischen Bethause, Salomon Sulzer. Die Kunst
0008des Jubilars wirkt, abseits von weltlichen Erfolgen, nur für
0009den speciellen Zweck des Gottesdienstes — einer Minoritäts-
0010Religion obendrein — und dennoch darf man behaupten, daß
0011ganz Wien sich in dem Augenblick für den Ehrentag des
0012„alten Sulzer“ interessire. So hört man ihn am liebsten und
0013häufigsten nennen, denn „der alte Sulzer“ ist eine der popu-
0014lärsten Persönlichkeiten von Wien. Wer kennt ihn nicht, den
0015merkwürdigen Charakterkopf mit dem graugelockten Haar, den
0016runden, feurigen Augen und dem energischen breiten Mund,
0017über welchem die haftig gekrümmte Nase das Inventar der
0018orientalischen Physiognomik vollendet und hier zu sprechend-
0019stem Ausdruck zusammenfaßt? Der Mann, welcher vor einem
0020halben Jahrhundert, kaum siebzehnjährig, die Gemeinde seiner
0021Vaterstadt (Hohenems in Vorarlberg) als Cantor zum Gebet
0022geführt, hierauf an 40 Jahre lang das musikalische Wien 
0023durch die Pracht seiner Stimme und die Gluth seines Vor-
0024trages entzückt hat, er wirkt noch in ungebrochener Rüstig-
0025keit, weder seiner Stimme noch seines Jugendfeuers verlustig.
0026Noch heute wie vor 30 und 40 Jahren scheidet kaum ein
0027fremder Tonkünstler von Wien, ohne dem berühmten Cantor
0028einmal gelauscht zu haben.


0029Ich selbst habe Sulzer nicht mehr in der Blüthenzeit
0030seiner Stimme und überhaupt nur zweimal gehört: bei der
0031Einweihung des neuen Tempels in der Leopoldstadt und bei
0032der Hochzeit der schönen Fanny Todesco. Beidemale machte
0033mir sein noch immer klangreicher Bariton und seine schwung-
0034volle Vortragsweise einen tiefen Eindruck. Dieser Vortrag, in
0035welchem vom leisesten Atemzug bis zum mächtigsten Ton-
0036sturm jede Note — jede Pause möchte man fast sagen — tief
0037aus dem Innersten kam, den Reiz des Fremdartigen mit der
0038Ueberzeugungskraft wahrer, glühender Andacht verbindend, er
0039mußte Jedermann, weß Glaubens und Vaterlandes immer,
0040unwiderstehlich fesseln und erregen. Das war tönendes Feuer,
0041etwas überlodernd und qualmend vielleicht — jedenfalls der
0042lebendigste Gegensatz zu jenem mechanisch gleichmäßigen Ab-
0043singen ritueller Formeln, das in anderen Culten Styl und
0044Vorschrift geworden. Ein zerknirschtes Aufseufzen, ein begei-
0045stertes Emporjubeln zu Gott, stets mit dem vollen Aufgebot,
0046der Empfindung und gleichsam gespornt durch den Gedanken,
0047mit der Wahrheit jedes einzelnen Tones für die ganze Ge-
0048meinde, ja für ganz Israel einzustehen. Sulzer hatte damals
0049ein wunderbar ergänzendes und erläuterndes Seitenstück an
0050dem seither verstorbenen Prediger Mannheimer. Der alte
0051Mannheimer — noch sehe ich seinen hageren, geistvollen
0052Kopf mit den flatternden Haaren — predigte, wie Sulzer 
0053sang. Dieselbe Gewalt über das Material, dieselbe fremdartige
0054und doch Alles fortreißende Leidenschaftlichkeit, dasselbe begei-
0055sterte Aufleuchten des Auges und der Stimme. Es war die
0056glühendste Kanzelberedtsamkeit, die ich erlebt, hier in Worten,
0057dort in Tönen.


0058Liszt erzählt in seinem Buche „Des Bohémiens et de
0059leur musique“, er habe bei Sulzer’s Tempelgesang zum
0060ersten- und einzigenmal den Eindruck von einer wirklich na-
0061tional-jüdischen Kunst empfangen, während alle anderen, selbst
0062trefflichsten Leistungen jüdischer Tondichter, Poeten und Maler
0063doch nur ein Nachbilden und Wiederholen christlich-abendlän-
0064discher Kunst seien. Ich habe den treffenden Ausspruch Liszt’s 
0065in seiner vollen Wahrheit empfunden, als ich Sulzer zum
0066erstenmal hörte.


0067Die Wirkungen des Sängers, wie alle höchstpersönlichen,
0068erlöschen mit dem Individuum; nur in der Erinnerung der
0069Zeitgenossen und den Bestrebungen der Schüler schlummern 
0070sie wie unter einem Schleier fort. Sulzer hat dafür gesorgt,
0071daß sein Name nicht zugleich mit seiner Stimme verklingen
0072wird. Als Schöpfer und Verbreiter eines geregelten Synago-
0073gen-Gesangs hat er sich ein bleibendes Verdienst geschaffen, des-
0074sen sichtbares Document, der „Schir-Zion“, vor mir aufge-
0075schlagen liegt. Ueber den früheren jüdischen Synagogal-Gesang
0076und die einschlägigen Reformen Sulzer’s zu urtheilen, fehlt
0077mir die innere wie die äußere Berechtigung. Die literarische
0078Belehrung über den ersteren ist mehr als dürftig; das Ge-
0079wicht der letzteren muß ich auf Treu’ und Glauben annehmen.
0080Anerkannt fand ich Sulzer’s Verdienst von Freund und
0081Feind. Sachkundige bezeugen, daß Sulzer der musikalischen
0082Liturgie der Juden Ordnung, Würde und ästhetische Form
0083gegeben, daß er sie aus einem wüsten Zustande der Willkür
0084und Verwahrlosung gerissen. Es sei Sulzer’s Einfluß, wenn
0085Gemeinden, in welchen man ehemals Psalmen auf profane
0086Opern- und Liedermelodien vortragen und den Cantor das
0087häßlichste Schnörkelwerk improvisiren hörte, sich gegenwärtig
0088in musikalisch würdigen, wohlgeregelten Formen bewegen. Für
0089die rein musikalische Seite dieser Reform haben wir einen
0090entscheidenden Anhaltspunkt an dem „Schir-Zion“, der von
0091Sulzer herausgegebenen großen Sammlung von Gesängen
0092für den gesammten jüdischen Cultus. Von diesem Werke ist
0093vor Kurzem der zweite Theil erschienen, welcher wol den er-
0094sten nicht so sehr zu ergänzen als zu ersetzen beabsichtigt. Er
0095ist dem „ersten Theil“, welcher sich sehr überwiegend in deut-
0096schem Musikstyl, theils Haydn-Mozartisch, theils noch viel
0097moderner bewegt, unvergleichlich überlegen. (Der erste Theil
0098enthielt unter Anderm viele Compositionen von Seyfried,
0099Schubert, Fischhof, Würfel, Drexler und Volkert.)
0100Die Gesänge der neuen Sammlung klingen nicht nur kräfti-
0101ger, origineller und kirchlicher, sie tragen auch — worauf ein
0102großes Gewicht zu legen — ungleich mehr das Gepräge jü-
0103disch-orientalischer Musik. „Schir-Zion“ ist nicht etwa eine
0104Compilation oder Bearbeitung älterer Gesänge, sondern durch-
0105aus eigene, freie Composition Sulzer’s. Nur in einigen we[2]-
0106nigen Chören, sowie in vielen der recitativartigen Einzelge-
0107sänge des Cantors hat der Componist ältere, im jüdischen
0108Gottesdienst zu besonderer Bedeutung gelangte Melodien zu
0109Grunde gelegt.*)


0119Ein hohes Alter nehmen übrigens selbst diese Reliquien
0120nicht in Anspruch; die ältesten jüdischen Melodien reichen
0121nicht über 400 Jahre. Bei dem hohen Alter und der stren-
0122gen Zucht der jüdischen Traditionen, zumal im Gottesdienste,
0123wäre es gerade kein Wunder, wollten die Juden ihre älte-
0124sten Melodien bis zu David, dem Gründer der hebräischen
0125Tempelmusik, zurückgeführt wissen. Um so rühmlicher und
0126redlicher handelt Sulzer, indem er jede derartige Träu-
0127merei oder Fiction verschmäht, sogar gegen einige Gesang-
0128weisen ausdrücklich polemisirend, „welche in ganz unberechtig-
0129ter Weise den Schutz des Alterthums für sich in Anspruch
0130nehmen“.


0131Eine ins Einzelne gehende Würdigung des Sulzer’schen
0132Werkes müssen wir uns an dieser Stelle versagen, wäre sie
0133doch ohne Notenbeispiele auch kaum von Nutzen. Nur einige
0134allgemeinere Bemerkungen seien hier noch gestattet. Der
0135zweite Theil des Sulzer’schen „Schir-Zion“, obwol natürlich
0136dem modernen Ton- und Modulations-System angehörig,
0137läßt ein eigenthümliches orientalisch-jüdisches Gepräge nirgends
0138vermissen. Mit voller Anschaulichkeit tritt dasselbe allerdings
0139erst heraus, wenn die Note durch den charakteristischen na-
0140tionalen Vortrag belebt und individualisirt wird. Aber auch die
0141Note an sich trägt diesen Typus: wir finden ihn in dem
0142Vorwiegen des Recitativischen, das im Munde eines Cantors,
0143wie Sulzer, den Charakter begeisterten Improvisirens an-
0144nimmt; in gewissen rhythmischen, harmonischen, vorzüglich
0145aber melodischen Grundzügen, wiederkehrenden Cadenzen und
0146Schlußformeln. Ein namhafter neuerer Musik-Historiker geht
0147offenbar zu weit, wenn er dem jüdischen Synagogal-Gesang
0148einen original-jüdischen Charakter aus dem Grunde abspricht,
0149weil die Juden seit ihrer Zerstreuung über den Occident
0150überall dem modernen Adoptivlande sich assimiliren, so daß
0151die Musik der spanischen Juden spanisch, der deutschen deutsch,
0152der polnischen polnisch sei. Man braucht aber nur einmal
0153dem Gottesdienste der deutschen, portugiesischen und polnischen
0154Juden beizuwohnen (in Wien hat man das Alles ganz nahe),
0155um durch alle Verschiedenheiten hindurch das überwiegend Ge-
0156meinsame in ihrem Gesange wahrzunehmen. Und dies Ge-
0157meinsame ist eben der specifisch orientalische Typus, der weit
0158mehr an arabische, türkische, persische Weisen erinnert, als
0159an die Nationalmusik der Deutschen, Portugiesen und
0160Polen.**)


0167Lebt doch im jüdischen Volke neben dem Charakterzug der
0168Assimilirung der noch stärkere eines zähen Festhaltens an den
0169nationalen Sitten und Traditionen. Am stärksten wirkte er
0170in den unteren Volksclassen, und diese sind überall die treue,
0171alte Garde der Religiosität. So dürfen wir denn auch im
0172Schir-Zion“, dem Repräsentanten des modernen Synagogal-
0173Gesangs, einen nationalen Grundton anerkennen. Die Ge-
0174sänge sind durchaus vocal, ohne Instrumental-Begleitung,
0175und werden vom Cantor theils allein, theils gemeinsam mit
0176dem Chor vorgetragen. Letzterer ist ein geschulter Sängerchor
0177von Männern und Knaben; die Nichtbetheiligung der Ge-
0178meinde, sowie die Ausschließung der Frauen vom Tempelge-
0179sang steht in strenger Uebereinstimmung mit dem alten salo-
0180monischen Gottesdienst zu Jerusalem. Von schöner, ergrei-
0181fender Wirkung sind die (an unsere katholischen Responsorien 
0182mahnenden) Wechselgesänge zwischen dem Cantor und dem
0183Chor; jener beginnt allein mit einem kräftigen Motiv —
0184die häufigen Intonationen vom Grundton in die Quinte ge-
0185ben ihm den Charakter des Rufenden, Emporschwingenden — der
0186Chor erwidert in kürzeren oder längeren vierstimmigen Sätzen.
0187Einige Chöre hat Sulzer mit Orgelbegleitung versehen und
0188damit thatsächlich gegen allzu orthodoxe Stimmen für das
0189Recht der Orgel in der Synagoge plaidirt. In großen Räu-
0190men ist dies Instrument zur Unterstützung und Ausfüllung
0191reiner Vocalmusik nahezu unentbehrlich; sein universal reli-
0192giöser Charakter eignet es für jeden monotheistischen Cultus.
0193Historisch dürfen die Juden überdies auf ihre „Magrepha“
0194und „Maschrokita“ pochen, die, primitiv und bald überwunden,
0195doch immerhin Orgeln waren. Dem christlichen Abendlande
0196verdankt die Orgel ihre Ausbildung, aber nicht ihre Herkunft.
0197Das musikalische Verdienst Sulzer’s erscheint in den Augen
0198des Kenners gesteigert durch viele eigenthümliche, in der
0199Sprache wie im Ritus begründete Schwierigkeiten. Die Me-
0200lodie muß allezeit dominiren, die Stimme des Cantors dem
0201Chor stets voraus und überlegen sein, kein Wort darf wieder-
0202holt werden. Die Texte entbehren jeglicher Strophen-Architek-
0203tonik und fügen sich schwer dem musikalischen Tact und
0204Periodenbau; dazu treten die strengsten Ansprüche auf die
0205Beachtung der überaus schwierigen Prosodie des Hebräischen.


0206Wir glauben, daß kein Musiker den neuen Band des
0207Sulzer’schen „Schir-Zion“ ohne lebhaftes Interesse durch-
0208gehen wird. Der sich immer weiter ausbreitende reformirende
0209Einfluß dieses Werkes (man benützt es bereits in amerikani-
0210schen Synagogen) verleiht ihm überdies eine culturhistorische
0211Bedeutung. Kein Wunder, wenn selbst aus fernen Ländern,
0212wo man nie den Eindruck von Sulzer’s Stimme erlebte,
0213Huldigungen und Ehrengeschenke an den Jubilar in Menge
0214hier eintreffen. Wien aber, die Stätte seines langen, rühm-
0215lichen Wirkens, besitzt das erste Anrecht, den greisen Cantor
0216zu feiern, der als Künstler weit über den Tempeldienst hin-
0217ausgereicht und als Priester durch die Läuterung seines 
0218Gottesdienstes für die Idee einer weihevollen und menschlich
0219schönen Andacht überhaupt gewirkt hat.

Fußnoten
  • *)Bei einem der ältesten Themen gibt uns Sulzer eine An-
    schauung der altjüdischen Notirungsweise („Neginah“), die, in Form
    von kleinen Häkchen, Punkten und Strichen über den Wörtern an-
    gebracht, die größte Verwandtschaft mit den altchristlichen Neumen 
    hat. Indem das Hebräische zeilenweise von rechts nach links gelesen
    wird, so ist es einer Notirung nach unserem Musiksystem eigentlich
    unzugänglich. Im „Schir-Zion“ sind deßhalb nur die Ueberschriften
    in hebräischen, der ganze gesungene Text hingegen in lateinischen Buch-
    staben ausgesetzt.
  • **)Wie sehr erinnert z. B. das Klagelied Nr. 345 und Aehn-
    liches bei Sulzer an den Ruf des Muezzim bei den Türken! Die nahe
    Verwandtschaft der jüdischen mit der arabischen Gesangweise bestätigt
    uns (von älteren Sammlungen abgesehen) ganz neuerdings das Werk
    von Alexandre Christianowitsch, „Esquisse historique de la
    Musique Arabe“ (1863).