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Neue Freie Presse
Morgenblatt
No. 820. Wien, Dienstag den 11. December 1866

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Hofoperntheater.

(„Rothkäppchen“, komische Oper von Boieldieu.)


0003Ed. H. „Le petit chaperon rouge“ von Boieldieu 
0004zählt fünfzig Jahre, ist also in der Gesellschaft der heute sich
0005herumtummelnden Opern bereits eine Respectperson von ehr-
0006würdigem Alter. So entrückt ist dieses Werk den Erinnerun-
0007gen unserer Generation, daß sie selbst von dessen Libretto
0008meistens unrichtige Vorstellungen hegt. Die Oper „Rothkäpp-
0009chen“ behandelt weder das alte Kindermärchen mit seiner
0010naiven Tragik, noch die künstlich lallende, altkluge Dramati-
0011sirung von Tieck, in welcher die Vögel Unsinn sprechen und
0012der Wolf mit dem Hund philosophische Gespräche führt. Der
0013Titel von Boieldieuʼs Oper ist eigentlich nur eine witzige
0014Anspielung an das Original-Märchen, dessen Inhalt sammt
0015Wolf und Großmutter die beschreibende, mit zahlreichen Er-
0016klärungen ausgestattete Ouverture zu schildern unternimmt.
0017Rothkäppchen ist in der Oper ein unschuldiges Bauernmäd-
0018chen, das leicht unschuldig sein kann, weil sein rothes Käpp-
0019chen als zauberkräftiger Talisman gegen jede Anfechtung schützt.
0020Auf dieses Rothkäppchen lauert kein wirklicher Wolf, sondern
0021ein Prachtexemplar aus dem moralischen Hundegeschlecht,
0022Herr Rudolph, Verführer von Profession und Baron. Ihm
0023fällt das Unwiderstehlichsein ganz so leicht, wie Rothkäppchen 
0024die Tugend, denn auch er besitzt einen Talisman in Form
0025eines Ringes, dessen Glanz jedes Mädchen berückt. Im Walde
0026lauert der Baron dem Mädchen auf, das auf dem Wege zu
0027einem alten Einsiedler begriffen ist. Die Zauberkraft des Rin-
0028ges versagt kläglich vor dem Talisman der rothen Mütze;
0029wüthend über diese Niederlage, eilt Rudolph in die Einsiedelei
0030voraus und erwartet, als Eremit verkleidet, den Besuch Rös-
0031chens. Diesmal hat der Wolf seine Beute beinahe schon ge-
0032faßt — da tritt der echte Klausner rechtzeitig als Retter ein,
0033entdeckt in Rothkäppchen eine heimliche Nichte des Barons
0034und vereinigt sie mit dem Grafen Roger, der in Schäfer-
0035tracht bereits ihr Herz gewonnen. Die große Einfachheit der
0036Handlung und ihre Motivirung aus einer hier gänzlich un-
0037nothwendigen Zauberwelt sind dem modernen Geschmack ziem-
0038lich fernegerückt. Insbesondere für Zwitter wie der Eremit 
0039haben wir nicht mehr das rechte Verständniß; gerne sehen
0040wir diesen erhabenen Zauberer als umgekehrten Samiel jedes-
0041mal über den Hintergrund der Bühne marschiren, so oft der
0042Tugend Gefahr droht; wenn er aber im letzten Act persönlich
0043und sentimental wird, sein Leben beklagt und ein baldiges
0044Absterben wünscht, so werden wir ungeduldig wie bei einem
0045schlechten Spaß. Offenbar stammt dieser Klausner direct von
0046dem zaubernden Prinzen-Erzieher Alcidor aus Isouardʼs „Cen-
0047drillon“ ab, sowie „Rose dʼamour“ („Rothkäppchen“) von
0048Aschenbrödel“ selbst. Der Einfluß dieser Isouardʼschen
0049Oper auf BoieldieuʼsRothkäppchen“ scheint uns in Text
0050und Musik unzweifelhaft; er findet auch eine historische Be-
0051stätigung in der ungeheuren Beliebtheit „Aschenbrödels“ bei
0052dem damaligen Pariser Publicum und dem eifrigen Bestreben
0053Boieldieuʼs, seinen mächtigen Rivalen Isouard im gleichen
0054Genre zu überflügeln.


0055An die Composition des „Rothkäppchen“ hatte Boiel-
0056dieu, bekanntlich ein Künstler von peinlichster Sorgfalt, meh-
0057rere Jahre rastloser Arbeit verwendet. Sie durften ihn nicht
0058reuen, denn der Erfolg der Oper war ebenso glänzend als
0059anhaltend. Wir begreifen ihn vollkommen. Man denke sich nur
0060fünfzig Jahre zurück und stelle sich gleichsam auf den histori-
0061schen Isolirschemel jenes Zeitpunktes, wo all die reizenden
0062Blüthen des späteren italienischen und französischen Sing-
0063spiels noch nicht aufgebrochen waren und „Le chaperon
0064rouge“ die eben erstiegene höchste Spitze der komischen Oper
0065in Frankreich bezeichnete. „Rothkäppchen“ ist ein Werk von
0066bewunderungswürdiger künstlerischer Einheit des Styls, von
0067feinem Geschmack, niemals trivial oder übertrieben, und melodiös
0068im Charakter jener musikalischen Conversation, welche die
0069Franzosen vor Allem lieben. Feinheit und Eleganz walten
0070vorherrschend, die Empfindung wird nur leicht gestreift, nir-
0071gends ins Herz getroffen; die Charaktere locken als scharf-
0072gezeichnete lohnende Contouren die ausmalende Hand des
0073Schauspielers. Neben kleinen Romanzen und Couplets (wie
0074die allerliebsten der Nannette im dritten Act) brachte „Roth-
0075käppchen“ große ausgeführte Nummern voll dramatischer Ent-
0076wicklung, wie Rudolphʼs Duett mit Nannette und mit Rös-
0077chen im zweiten, dann seine Arie im dritten Act — Musik-
0078stücke, welche die damaligen Normalmaße der Opéra comique
0079(„Johann von Paris“ mit eingeschlossen) beträchtlich erweiter-
0080ten. Dies Alles erschien noch gehoben durch eine feine, be-
0081wegliche Instrumentirung, welche namentlich in Behandlung
0082des Wunderbaren (Harfen-, Flöten- und Waldhornsolos) als
0083originell und effectvoll gerühmt werden durfte. „Rothkäpp-
0084chen“ war eben neu. Die Neuheit ist aber das wahrhafte
0085rothe Käppchen, unter dessen Schimmer Melodien so zauber-
0086haft hervorblicken, welche uns später, ohne das Käppchen,
0087sehr menschlich und alltäglich dünken. Das rothe Käppchen
0088der Boieldieuʼschen Oper erhielt sich lange wie neu; endlich
0089begann es doch blaß und fadenscheinig zu werden. Noch immer
0090sind wir uns der künstlerischen Vorzüge dieser Partitur wohl
0091bewußt und hören Vieles daraus mit aufrichtigem Vergnü-
0092gen. Als Ganzes hat sie die Zaubermacht über uns verloren,
0093denn wir vermissen, was uns unmittelbar ergreift, packt, fest-
0094hält, was uns nicht blos freundlich anregt, sondern auch ein
0095wenig aufregt. Wir hören heute rascher und ungeduldiger,
0096wir fühlen accentuirter und energischer, als unsere Vorgänger
0097Anno 1818; die Instrumentirung dünkt uns matt und
0098gleichförmig, die Melodie nicht warm, die Harmonisirung
0099nicht reich genug. Der Puls der ganzen Oper scheint uns zu
0100langsam zu gehen. Ja wie eine brüderliche Auseinander-
0101setzung kommt uns mitunter vor, was unseren Großeltern
0102als glühende Leidenschaft erschien, z. B. Rudolphʼs Liebes-
0103geständniß am Schluß des dritten Acts („Rose, daigne
0104mʼentendre!“); die erste Romanze des Grafen klingt uns
0105mehr im Tone gereifter Gouvernanten, als schwärmerischer
0106Jünglinge, und an dem Lockenhaupt des salbungsvollen Klaus-
0107ners erblicken wir heutzutage, was man vor fünfzig Jahren
0108nicht erblickte: ein böses Anhängsel.

[2]


0109Der Componist, welcher zuerst das gefeierte „Rothäpp-
0110chen“ weit übertraf und es aus der ersten in die zweite Reihe
0111der Repertoires rückwarf, war Boieldieu selbst mit seiner
0112Weißen Frau“. Dieses sieben Jahre nach dem „Rothkäpp-
0113chen“ componirte Meisterwerk steht gegen Boieldieuʼs frühere
0114Opern wie ein in Rosen- und Jasminfülle prangender Som-
0115mergarten gegen eine grün angehauchte, schüchtern knospende
0116Frühlingslandschaft. Daß ein Tondichter sich in seinem fünf-
0117zigsten Jahre noch zu einer größeren Production aufschwingt,
0118die an Jugendfrische, Geist und Wärme alle seine früheren
0119Werke weit zurückläßt, ist ein seltenes Ereigniß. Rossiniʼs 
0120letzte Oper, „Tell“, eine noch frappantere Erscheinung, war
0121— was wohl zu bemerken ist — ein vollständiger Stylwechsel,
0122eine Transformation. Boieldieu ist in der „Weißen Frau“
0123seiner Individualität und seinem Styl durchwegs treu geblie-
0124ben, aber seine Phantasie hat an Reichthum, sein Gefühl an
0125Wärme und Lebendigkeit gewonnen; die etwas trockenen, sprö-
0126den Wurzeln der französischen Melodik sind wie in frisches
0127Erdreich gesteckt. Ja, in der „Weißen Frau“ findet Boiel-
0128dieuʼs Musik zum erstenmale Momente von Genialität, wäh-
0129rend sie vordem doch vornehmlich als Product feinen Ge-
0130schmacks und anmuthigen, beweglichen Geistes glänzte. In
0131unseren Bemühungen, für dies interessante Phänomen äußere
0132und innere Gründe aufzuspüren, hat uns schließlich ein einziges
0133erklärendes Moment festgehalten, und das ist der Einfluß der
0134Rossiniʼschen Musik. Daß die französische Kritik Boieldieu 
0135gerade ob seiner gänzlichen Unabhängigkeit von Rossini preist
0136und erst gegen Auber mitunter den Vorwurf des Rossini-
0137Cultus ausspricht, darf uns nicht irremachen. Gerade die
0138Jahre zwischen dem „Rothkäppchen“ und der „Weißen Frau“
0139(1818 bis 1825) bezeichnen die Periode, wo Frankreich, das
0140sich am längsten gegen Rossini abgesperrt hatte, seiner Fahne
0141zu folgen begann. Rossiniʼscher Einfluß durchzog unsichtbar die
0142Luft, wie Blumenstaub im Frühling. Boieldieu aber, viel zu
0143selbstständig und klug als Künstler, um Rossiniʼs Aeußerlich-
0144keiten nachzuahmen, war doch eine weiche, empfängliche Natur, 
0145ein poröses Talent möchten wir sagen, das die Atmosphäre
0146der Zeit unwillkürlich einsog. Förmliche Anklänge an Rossini 
0147finden sich in der „Weißen Frau“ nur ein bis zwei ganz un-
0148bedeutende, aber der ungewöhnliche, stärkere Melodienduft,
0149der die ganze Oper durchzieht, gemahnt uns wie ein Hauch
0150aus den fernen Orangenwäldern Rossiniʼs. Dieser Hauch fehlt
0151in der Musik zum „Rothkäppchen“ noch vollständig.


0152Aus unseren Bemerkungen über Boieldieuʼs „Rothkäpp-
0153chen“ geht wol von selbst hervor, daß wir für den kühlen
0154succès dʼestime im Hofoperntheater keineswegs die Auffüh-
0155rung allein verantwortlich machen. Allerdings hat die Auffüh-
0156rung ihrerseits für den Erfolg der Oper auch gerade nicht ein
0157Uebriges gethan. „Rothkäppchen“, wie das ganze französische
0158Genre, dem es angehört, will nicht blos mit dem feinsten
0159Ausdrucke gesungen, sondern auch durchwegs gut gespielt wer-
0160den. „Gut spielen“ ist leider in der Opernpraxis ein sehr
0161dehnbarer Begriff. Will man schon die nothdürftig correcte,
0162anständige Ausfüllung der allgemeinsten dramatischen Umrisse
0163so nennen, so wurde auch in Wien das Rothkäppchen „gut
0164gespielt“. Dieser Grad von Schauspielkunst, der nichts geradezu
0165auf den Kopf stellt oder verdirbt, aber auch nie aus seiner
0166Neutralität einen selbstständigen Schritt herauswagt, ist un-
0167ter den deutschen Sängern der herrschende. Es gibt in Deutsch-
0168land kaum sechs bis acht Sänger, die mehr leisten; für eine
0169große Zahl von Rollen, die mittelst schablonenmäßiger An-
0170wendung der gebräuchlichsten Ausdrucksmittel gespielt werden
0171können, mag das auch hinreichen. Die französische Spiel-Oper
0172jedoch bedarf zu ihrer vollen Wirkung mehr; sie verlangt von
0173ihren Hauptdarstellern geradezu schauspielerisches Talent.
0174Das Pariser Publicum ist gewöhnt, derlei Rollen nicht blos
0175äußerlich ausgefüllt, sondern lebendig und eigenthümlich ge-
0176staltet („geschaffen“) zu sehen. Es verlangt und findet in der
0177Spiel-Oper neben dem musikalischen Genuß den Eindruck
0178eines gut aufgeführten Lustspiels. J. F. Reichardt erzählt
0179in seinen „Briefen aus Paris“ (1803), daß er in Méhulʼs
0180Oper „Joseph und seine Brüder“ den gesprochenen Dialog 
0181oft mehr applaudiren hörte, als die Gesangstücke. In
0182Deutschland wird es selten vorkommen, daß ein Sän-
0183ger für seine gesprochene Prosa beklatscht wird; eher könnte
0184ihm das Gegentheil widerfahren. Wirkliche schauspielerische
0185Talente wird man in den Spiel-Opern am Kärntnerthor-
0186Theater wenige entdecken. Wir erkennen den löblichen Eifer,
0187mit welchem unsere Sänger gegen die Klippen des Sprechens
0188und Spielens ankämpfen — der „mindere Grad von Dispo-
0189sitions-Fähigkeit“, kann ihnen nicht als Schuld angerechnet
0190werden. Fräulein Tellheim als Rothkäppchen sang und
0191spielte recht nett, aber ohne Naturkraft und Tempera-
0192ment. Ihre Naivetät und Grazie war etwa die der Ge-
0193neviève
in den „Braven Landleuten“, tadellose Pensio-
0194natsblüthe. Rothkäppchen muß die herbe Frische der Land-
0195luft athmen; an ihrer Grazie wollen wir wie an Feldblumen
0196und Waldbeeren noch ein Körnchen Wurzelerde hängen sehen.
0197Auch Herr v. Bignio war als Baron Rudolph ganz con-
0198ventionell, überdies nicht frisch und leichtblütig genug. Indeß
0199ist die Rolle so schwierig und anstrengend und war manche
0200Einzelheit in Herrn v. Bignioʼs Vortrag so gelungen, daß
0201wir in den ihm vom Publicum im dritten Act gespendeten
0202Beifall gerne einstimmen.


0203Fräulein Benza, die wir bisher nur als Siebel in
0204Faust“ kennen gelernt, bewies als Nannette die erfreulichsten
0205Fortschritte. Hier steckt ohne Zweifel dramatisches Talent, ein
0206Talent, das einer höheren Ausbildung ebenso werth, freilich
0207auch ebenso bedürftig ist, als Fräulein Benzaʼs frische
0208Stimme. Nach ihrer Nannette zu urtheilen, hat Fräulein
0209Benza das Zeug zu einem künftigen Rothkäppchen. Herr
0210Hrabanek als Eremit, Herr Lay als Schulmeister genüg-
0211ten, was man von Herrn Prott (Graf Roger) streng ge-
0212nommen nicht behaupten kann. Lebhafteren Beifall ernteten
0213in der ganzen, vom Herrn Capellmeister Dessoff sorgfältig
0214geleiteten Vorstellung nur Herr v. Bignio, Fräulein Tell-
0215heim
und Fräulein Benza. Wer BoieldieuʼsRothkäpp-
0216chen“ noch kennen lernen will, möge sich beeilen.