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Neue Freie Presse
Morgenblatt
Nr. 1978. Wien, Mittwoch, den 2. März 1870

[1]

Die Meistersinger“.

Von Richard Wagner.

(Erste Aufführung im Hofoperntheater am 27. Februar 1870.) II.


0004Ed. H. Der Leser, dem wir soeben die Handlung der
0005Meistersinger“ erzählt, dürfte staunen, wie daraus eine Oper
0006von größerem Umfange als „Der Prophet“ oder „Die Hugenotten“
0007entstehen konnte. Dies war nur möglich durch gewaltsames
0008Ausdehnen und Zerren der ärmlichen Handlung, welche, ohne
0009spannende Verwicklung oder Zwischenfälle, fortwährend stillesteht.
0010Die zähe Weitschweifigkeit dieser Reden und Gegenreden, häus-
0011lichen Gespräche und trockenen Belehrungen, welche durchweg in
0012ganz ähnlicher Ausdrucksweise und behäbig schleppendem Tempo
0013über ameisenartig wühlendem Orchester sich bewegen, legt dem
0014Hörer mitunter starke Geduldproben auf. Von dieser ermü-
0015denden Behandlung abgesehen, scheint uns der Stoff ohneweiters
0016ein Fortschritt, ein Weg zum Besseren und Gesünderen im
0017Vergleich mit Wagner’s vorhergehenden Opern. Im Widerspruch
0018zu seiner (nur den Mythus als berechtigtes Stoffgebiet
0019anerkennenden) Theorie, aber in richtigem Instinct ist Wagner 
0020von seinen abstrusen, unter dem Wasser und über den Wolken
0021spielenden Fabelstücken zum wirklichen Theater zurückgekehrt.
0022Er wendet endlich seinen Zwergen, Riesen und Walkyren den
0023Rücken, stellt sich mitten in die reale Welt und gibt uns
0024lebensvolle Bilder aus dem deutschen Volks- und Bürgerleben
0025des Mittelalters. Diese Nürnberger Handwerker mit ihren ein-
0026fachen kleinbürgerlichen Erlebnissen und hausbackenen Knittelversen
0027sind uns doch entschieden lieber, als diese schwindelhafte Verzückung
0028und das bombastische Alliterationsgestotter im „Tristan“ oder
0029Rheingold“. Insbesondere mit der farbenreichen Schilderung
0030des Volksfestes auf der Nürnberger Wiese hat Wagner einen
0031poetisch glücklichen Griff gethan.


0032Was um so empfindlicher auffällt, ist Wagner’s Mangel an Hu-
0033mor. Für die komische Oper — und das sind die „Meistersinger“
0034nach ihrer ganzen Anlage wie durch ihre beiden ausgesprochenen
0035Buffo-Figuren — erscheint Wagner’s Talent durchaus ungeeignet.
0036Der Conversationston, welcher doch fast ausschließlich in den
0037zwei ersten Acten herrscht, klingt nicht einen Augenblick leicht und
0038fließend, er ist vielmehr durch eine schwerfällige, gesuchte, fort-
0039während unruhige Musik wiedergegeben, deren Instrumentirung
0040obendrein in complicirtester und lautester Weise arbeitet. Die
0041Sänger müssen die alltäglichsten, auf gewöhnlichen Sprechton an-
0042gewiesenen Fragen und Antworten einander zuschreien, um den
0043Schwall des Orchesters zu übertönen. Mit dieser verfehlten Fär-
0044bung verbindet sich die verfehlte Zeichnung durch eine meist sprach-
0045widrige, unnatürlich auf und abspringende Declamation. Im Aus-
0046druck des Komischen ist Wagner’s Musik vollends unglücklich; da
0047wird sie regelmäßig gespreizt, überladen, ja widerwärtig. Mit den
0048grausen Dissonanzen, in welchen der „komische“ Beckmesser schimpft
0049oder wehklagt, könnte man die entsetzlichsten Scenen eines Schauer-
0050dramas begleiten, und wo der Lehrjunge David von „eitel Brot
0051und Wasser“ spricht, da spielt das Orchester Galgen und Rad.
0052Wenn friedliche Bürger und Handwerker ihr Mißfallen an einem
0053Gedicht in so wüthenden Tönen ausdrücken, wie es im ersten und
0054im dritten Act der „Meistersinger“ geschieht, was für eine Steigerung
0055bleibt dem Componisten noch übrig etwa für die französische Re-
0056volution? Von dem gar nicht komischen, sondern nur häßlichen
0057und gemeinen Prügelfinale des zweiten Actes wollen wir gar
0058nicht sprechen. Laube’s wehmüthiger Ausruf bei der Münchener
0059Vorstellung: „O leichtfertiger Rossini, sei du gesegnet!“ fiel uns
0060unwillkürlich ein und dazu das bei aller Tollheit so harmonische
0061graziöse Finale im „Barbier“. Die Musik hat freilich nur sehr
0062beschränkte Mittel für komische Wirkungen; sie muß sich in den
0063meisten Fällen damit begnügen, komischen Text auf den leichten
0064Wellen fröhlich scherzender Weisen zu tragen und zu heben. Hu-
0065mor, Leichtigkeit und unbefangener Frohsinn fehlen aber Wagner 
0066vollständig, er ist immer pathetisch, wie sein italienisches Gegenbild
0067Verdi. Was in den „Meistersingern“ oasengleich aus grauer Wüste
0068herausleuchtet (Pogner’s Anrede, Walther’s Lieder, das Quintett im
0069dritten Act), gehört nicht dem komischen, sondern durchweg dem
0070pathetischen Theil der Oper an.


0071Wagner ist seinem musikalischen Reform-Princip, wie es
0072schon den größten Theil des „Lohengrin“ bestimmt und den
0073Tristan“ vollständig durchdringt, in den „Meistersingern“ treu
0074geblieben, ja er hat es noch strenger in allen Details durchge-
0075führt. Diese von keiner Anfechtung beirrte Consequenz gibt dem
0076Werke den überall imponirenden Charakterzug der Sicherheit und
0077Ueberzeugung. Das Princip selbst (zu welchem auch die „Mei-
0078stersinger“ uns nicht bekehrt haben) ist das bewußte Auflösen al-
0079ler festen Form in ein gestaltloses, sinnlich berauschendes Klin-
0080gen, das Ersetzen selbstständiger, gegliederter Melodien durch ein 
0081vages Melodisiren. Die „unendliche Melodie“ (man kann
0082dieses von Wagner erfundene Wort bereits als technischen Aus-
0083druck gebrauchen) ist die herrschende, zugleich die musikalisch
0084unterwühlende Macht in den „Meistersingern“. Ein kleines
0085Motiv beginnt, es wird, bevor es zur eigentlichen Melodie, zum
0086Thema sich gestaltet, gleichsam umgebogen, geknickt, durch fort-
0087währendes Moduliren und enharmonisches Rücken höher oder
0088tiefer gestellt, durch Rosalien fortgesetzt, dann angestückelt und
0089wieder verkürzt, bald von diesem, bald von jenem Instrument
0090wiederholt oder nachgebildet. Mit ängstlicher Vermeidung jeder
0091abschließenden Cadenz fließt diese knochenlose Ton-Molluske, sich
0092immer wieder aus sich selbst erneuernd, ins Unabsehbare fort.
0093Aus Furcht vor der „Gewöhnlichkeit“ der natürlichen Ganz- oder
0094Halbschlüsse verfällt Wagner einer andern, gar nicht besseren Pe-
0095danterie; er wird nämlich monoton gerade dadurch, daß er regel-
0096mäßig, wo das Ohr einen abschließenden Dreiklang erwartet, in
0097einen dissonirenden Accord einlenkt. Welch überraschend wohl-
0098thuenden Effect machen die zwei lang austönenden C-dur-Accorde
0099vor Walther’s Preislied im dritten Act! Sie machen ihn, weil
0100der Hörer drei Stunden lang nach einem einzigen gesunden
0101Dreiklang geschmachtet hat. Ueberschaut man ganze große
0102Partien dieser Oper mit einem Blick, so gewahrt man immer
0103dieselbe Einförmigkeit des Total-Eindruckes, bei fortwähren-
0104der nervöser Unruhe und Störung des Details. Nur an den
0105wenigen Stellen, wo ein lyrischer Ruhepunkt, eine Art Liedform
0106schon im Texte geboten ist (die Gesänge Walther’s, das Schuster-
0107lied), concentrirt sich der Gesang wenigstens eine Weile hindurch
0108zur selbstständigen, wirklichen Melodie; hingegen ist im ganzen
0109Fortgang des Dramatischen, in den Monologen, Dialogen, Ge-
0110sammtscenen der Faden der Melodie nicht in die Singstimmen,
0111sondern ins Orchester verlegt, wo er als „unendlicher“ sich wie
0112in einer Spinnfabrik gleichförmig abhaspelt. Diese melodien-
0113spinnende Orchester-Begleitung bildet eigentlich das zusammen-
0114hängende und selbstständige Tonbild in den „Meistersingern“, die
0115Singstimme accommodirt sich dieser Begleitung, indem sie halb
0116declamirend, halb singend ihre Phrasen einwebt. Man sieht, daß
0117diese Methode des Componirens der bisher von allen Meistern
0118geübten entgegengesetzt ist. Die Melodie der Singstimme war
0119jederzeit in der Conception des Tondichters das Erste und Bestim-
0120mende, welchem die Begleitung (sei sie von noch so freier oder com-
0121plicirter Bewegung) untergeordnet wurde. Man konnte in der Regel
0122zu der gegebenen Singstimme die Begleitung oder doch eine Be[2]-
0123gleitung annähernd errathen und besaß hingegen in dem Accom-
0124pagnement ein für sich unselbstständiges Etwas. In den „Meister-
0125singern“ ist die Singstimme für sich allein nicht etwas blos
0126Unvollständiges, sondern gar nichts; die Begleitung ist Alles,
0127ist eine selbstständige symphonische Schöpfung, eine Orchester-
0128Phantasie mit begleitender Singstimme ad libitum. Gibt man
0129einem geschickten, mit Wagner’scher Musik vertrauten Musiker
0130von den „Meistersingern“ nichts als das Textbuch und die Or-
0131chester-Begleitung, so wird er passende Singstimmen in die leeren
0132Notensysteme eintragen können, etwa wie der Bildhauer die feh-
0133lende Hand einer aufgefundenen Statue ergänzt. Niemandem
0134würde es jedoch gelingen, zu der Partie des Hanns Sachs oder der
0135Eva die verloren gegangene Orchester-Begleitung nachzuschaffen,
0136so wenig wie die ganze Statue zu einer abgetrennten Hand. Das
0137natürliche Verhältniß ist auf den Kopf gestellt: das Orchester
0138unten ist der Sänger, der Träger des leitenden Gedankens; die
0139Sänger auf der Bühne sind ausfüllende Instrumente. Um bei
0140dieser Methode, welche keineswegs eine schärfer charakterisirende,
0141specialisirende, sondern im Gegentheil eine nivellirende, verall-
0142gemeinernde ist, doch ein Mittel für Charakteristik der Personen
0143zu gewinnen und dem Ohr einen Rettungsanker in dem Ocean
0144der melodischen Unendlichkeit zu schaffen, verwendet Wagner die
0145sogenannten Gedächtniß- oder Leitmotive, d. h. Themen, welche
0146im Orchester jedesmal anklingen, sobald eine bestimmte Person
0147auftritt oder ein bestimmtes Ereigniß erwähnt wird. Die Zunft
0148der Meistersinger hat ihr eigenes marschartiges Motiv, der Lehr-
0149junge David seine zappelnde Sechzehntel-Figur, desgleichen
0150Walther und Beckmesser jeder sein Thema, gleichsam musikalische
0151Uniformen, an welchen man die Leute im Gedränge oder in der
0152Dämmerung erkennt. Nun begründen bei Wagner diese Gedächt-
0153nißmotive nicht blos Personen-, sondern auch Sachenrechte. So-
0154bald irgendwer in der Oper vom Johannesfest oder dem Preis-
0155singen spricht, ertönt das Motiv Pogner’s aus dem ersten Act;
0156das Motiv Walther’s begleitet nicht blos dessen Person, sondern
0157jede Anspielung auf ihn, auf Eva’s Liebe, auf die echte Poesie
0158im Gegensatze zur zünftigen u. s. f. Nachdem das, worauf diese
0159Motive anspielen, so ziemlich den ganzen Stoff der „Meister-
0160singer“ ausmacht, überdies die Motive selbst die glücklichsten
0161melodiösen Ansätze in der ganzen Oper sind, so bekommt man
0162sie den ganzen Abend hindurch zu hören, einzeln oder zusammen,
0163bald in dieser, bald in jener Orchesterstimme, heller oder dunkler 
0164gefärbt, Anfangs freut sich der Hörer an diesen Melodiechen,
0165deren Verfolgen und Erkennen überdies den Verstand beschäftigt;
0166je unablässiger sie ihn aber hin und her schaukeln, desto unbehag-
0167licher wird ihm zu Muthe. Für den Musiker, der befähigt und
0168geneigt ist, sich vorzugsweise an dem technischen Detail zu er-
0169freuen und darüber zeitweise das Unerquickliche des Total-Ein-
0170drucks zu vergessen, hat die Orchester-Begleitung der „Meister-
0171singer“ unstreitig einen fesselnden Reiz. Die Kunst, mit wel-
0172cher Wagner die verschiedenen Erinnerungs- oder Leitmotive im
0173Orchester anbringt, verändert, deren zwei und drei mit einander ver-
0174webt, ist ohne Frage bewunderungswürdig. Schade nur, daß diese
0175dramatische Polyphonie“, wie man das neue Princip Wag-
0176ner’s mit Einem Worte und zum Unterschiede der bisherigen, mu-
0177sikalisch
gedachten Polyphonie bezeichnen könnte, durchweg
0178Product der Reflexion ist. Die zauberische Macht des „Unbe-
0179wußten“, welche in der Conception jedes Kunstwerks das erste
0180Wort sprechen soll, weicht vor solchem Verstandes-Absolutismus
0181scheu zurück.


0182Die Aufführung der „Meistersinger“ wird jedem Musik-
0183freund ein denkwürdiges Kunsterlebniß bleiben, wenn auch keines
0184von jenen, deren echter Schönheitssegen uns beglückend und läu-
0185ternd durch’s Leben begleitet. Wir erblicken in dieser Oper keine
0186Schöpfung von tiefer Ursprünglichkeit, von bleibender Wahrheit
0187und Schönheit, sondern ein geistreiches Experiment, das durch
0188die zähe Energie seiner Durchführung und die unleugbare Neu-
0189heit nicht sowol des Erfundenen, als der Methode des Erfinders
0190frappirt. Die „Meistersinger“ gehören für uns mit Einem Wort
0191zu den interessanten musikalischen Abnormitäten. Als Regel ge-
0192dacht würden sie das Ende der Musik bedeuten, während sie als
0193Specialitäten immerhin bedeutender und nachhaltiger anregen,
0194als ein Dutzend Alltagsopern von tadelloser Correctheit der
0195Form und „Gesinnung“.


0196Ueber die vortreffliche Aufführung der „Meistersinger“ am
0197Hofoperntheater haben wir bereits gestern in Kürze berichtet und
0198erinnern nochmals gerne an das besondere Verdienst der Sänger
0199Beck und Walter, sowie des Dirigenten Herbeck. Spätere
0200Wiederholungen der Oper werden wol Gelegenheit bieten, Man-
0201ches über das Werk und die Aufführung nachzutragen oder näher
0202zu begründen.