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Neue Freie Presse
Morgenblatt
Nr. 1980. Wien, Freitag, den 4. März 1870

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Concerte.

(Zweites Gesellschafts-Concert. — Rubinstein. — Fräulein Magnus. — Pensionsfonds-Concert des Conservatoriums.)


0004Ed. H. Rubinstein spielen zu hören, ist ein Genuß
0005im besten und eigentlichsten Sinne: ein Genießen, an welchem
0006auch der sinnliche Beischmack dieses Begriffes haftet. Die ge-
0007sunde, kräftige Sinnlichkeit von Rubinstein’s Spiel strömt
0008mit so erfrischendem Behagen auf den Hörer ein, daß dieser, ganz
0009anders als sonst bei Clavier-Concerten, den Eindruck des musika-
0010lischen Labsals empfindet. Ueber Rubinstein, den Compo-
0011nisten und Virtuosen, haben wir in diesen Blättern oft und aus-
0012führlich gesprochen. Seine Vorzüge wurzeln in seiner ungebro-
0013chenen Naturkraft und sinnlichen Frische; die Fehler, in welche
0014solch reiches, aber rücksichtsloses Talent sich leicht verirrt, sind
0015wahllose Productivität, unschöne, renommistische Derbheit, künst-
0016lerische Willkür. Rubinstein’s Spiel erschien uns geläutert
0017gegen frühere Jahre. Die berückende Schönheit des Klanges,
0018Weichheit und schleudernde Kraft des Anschlages stehen jetzt bei
0019Rubinstein auf ihrem Höhepunkte. Mit Einem Worte:
0020es ist eine Freude, ihn zu hören. In der Geschichte der Clavier-
0021Virtuosität nimmt Rubinstein einen der obersten Plätze ein,
0022er ist somit ohne Frage als Pianist größer, denn als Tondichter.
0023Es will hingegen wieder mehr sagen, daß Jemand sich den besten
0024Tondichtern annähert, als daß er den besten Pianisten gleichsteht.
0025In Rubinstein’s Compositionen steckt ein intensives und eigen-
0026thümliches Talent, nur hat es sehr ungleiche Tage und arbeitet
0027am liebsten ohne Selbstkritik und Feile. Kein größeres Tonstück
0028von Rubinstein erhält sich von Anfang bis zu Ende auf glei-
0029cher Höhe und den Hörer in ungetrübt ästhetischer Stimmung,
0030aber ein jedes hat Momente, welche, siegreich mit fortreißend,
0031den Eindruck des Echten und Genialen machen. Warum wir
0032gerade Rubinstein’s Ankunft immer mit einer besonderen
0033Freude begrüßen? Ich glaube, weil Rubinstein’s Vor-
0034züge im Spiel und auch in der Compositon aus einer
0035Quelle fließen, die heutzutage in Deutschland beinahe zu
0036versiegen droht: strotzende sinnliche Kraft und Lebens-
0037fülle. Das ist eine künstlerische Mitgift, der wir sehr viel
0038verzeihen, weil sie unter den Modernen so außerordentlich selten
0039ist. Unsere gegenwärtigen Instrumental- und Lieder-Componisten,
0040eine sehr ansehnliche Reihe theils ausgezeichneter, theils tüchtiger
0041Künstler, haben wenig von jener frischen, trotzigen Kraft, die lieber 
0042wagt als grübelt und in der Leidenschaft auch ohneweiters einen
0043unbesonnenen Streich begeht. Ueberwiegend thätig ist in ihnen
0044der Geist, die Bildung, die feine oder tiefsinnige Reflexion; ge-
0045meinsam ist ihnen die Neigung, volles Licht in allerlei Misch-
0046farben zu brechen, abzulenken, abzuschwächen, die Herztöne der
0047Leidenschaft motivirend zu dämpfen, zu umschreiben. Auch im
0048Clavierspiel sehen wir, namentlich durch Bülow’s Einfluß, die
0049Herrschaft der Reflexion und Bildung stark übergreifen. Dieser
0050gegenwärtig thätigen Gruppe deutscher Componisten und Pianisten
0051steht fast allein Rubinstein gegenüber, als eine verhältnißmäßig
0052naive Individualität, in welcher die Naturkraft das erste Wort
0053spricht. Sie hat ihre großen Fehler, aber diese Fehler sind doch
0054andere als die der grübelnden, bleichen Reflexion. Unsere Com-
0055ponisten erinnern fast durchweg an Mendelssohn oder Schumann,
0056tieferdringende nebenbei an Sebastian Bach, gefallsüchtigere an Berlioz 
0057und Wagner; Rubinstein ist vielleicht der Einzige, dessen Natur 
0058an Beethoven erinnert, wie es denn auch sein Aeußeres thut.
0059Hätten wir so viele sinnlich kräftige, titanische Naturen unter
0060den heutigen Musikern, als wir gelehrte und geistreich reflecti-
0061rende besitzen, wir würden Rubinstein’s Leistungen wahrscheinlich mit
0062kritischeren Blicken und viel gleichgiltiger ansehen. Inmitten seiner
0063gegenwärtigen, ihm anderweitig oft überlegenen Brüder in Apollo
0064steht aber Rubinstein als die frischeste, saftigste Natur. Er läßt uns
0065zwar auch mitunter lange schmachten, aber dann gibt er einen
0066Trunk von der Quelle.


0067Wir müssen uns unter dem gegenwärtigen typographischen
0068Belagerungszustand kurz fassen. Von Rubinstein’s neuer Clavier-
0069phantasie mit Orchester (C-dur, op. 84) sagen wir vorläufig nur,
0070daß sie neben Geringfügigem auch schöne und glänzende Momente
0071enthält und daß in ihr Rubinstein’s Virtuosität ihren höchsten Flug
0072unternimmt. Wenn die „Phantasie“ sowie der „Thurm zu
0073Babel
“ einmal im Stiche vorliegen, können wir auf Einzel-
0074heiten dieser beiden höchst interessanten Werke zurückkommen.
0075„Geistliche Oper“ nennt Rubinstein die letztgenannte, anderthalb
0076Stunden lang spielende Composition für 3 Solo-Männerstimmen,
0077ganzen Chor und Orchester. Er hätte ebenso gut die Bezeichnung
0078„Oratorium“ brauchen können, bei der schwankenden und dehnbaren
0079Natur dieses Begriffs. Altes und Neues vereinigt sich in dem
0080eigenthümlichen Versuch Rubinstein’s. Durch die ganze Literatur
0081des Oratoriums geht ein immer stärkerer Zug vom Kirchlich-
0082Religiösen zum Profan-Historischen. Das Oratorium begann mit
0083Stoffen aus der Lebensgeschichte des Heilands, zog die Geschichten
0084des Neuen Testaments in seinen Bereich, griff hierauf in den alten
0085Bund hinüber, wo das Historische und Decorative schon bedeu-
0086tenden Raum fand, machte sich ferner, den biblischen Boden ver-
0087lassend, das unübersehbare Feld der christlichen Legenden zu-
0088nutze und erreichte endlich sogar den Ausgang des Mittelalters
0089in einem rein kirchengeschichtlichen Vorwurf (dem „Johann Huß“
0090von Löwe). Schumann hat mit seinen weltlichen Oratorien
0091(„Paradies und Peri“ etc.) der Tradition dieser Kunstgattung den
0092letzten und schwersten Schlag versetzt. Rubinstein kehrt zur
0093biblischen Geschichte, also stofflich zum Alten zurück; neu in der
0094Form ist das Zusammenziehen des sonst in mehrere Theile zer-
0095fallenden, ausgedehnteren Oratoriums in einen einzigen Act,
0096etwa wie Liszt die alte viersätzige Symphonie in seine „Sympho-
0097nische Dichtung“ zusammendrängt. Der Sache nach beabsichtigt er
0098wol dem Oratorium durch solche reformatorische Umwandlung
0099ein künftiges Asyl zu retten, und sein Vorgang kann einflußreich
0100werden; mit der Bezeichnung „geistliche Oper“ greift er aber
0101thatsächlich in eine verschollene Vergangenheit. Die ersten
0102Oratorien waren nichts Anderes als geistliche Opern („azione
0103sacra“), im Costüme theatralisch aufgeführt zur Fasten-
0104zeit, wo weltliche Opern verboten waren. Noch Dittersdorf 
0105beschreibt uns die Decorationen, welche zur Aufführung seiner
0106Oratorien beim Bischof von Großwardein verfertigt wurden, und
0107Händel, der wahre Schöpfer der gegenwärtigen Oratorien-
0108form, empfing den äußeren Anstoß dazu von dem Verbot, seine
0109ersten Oratorien als „geistliche Opern“ auf der Bühne auffüh-
0110ren zu lassen. Rubinstein will seinen „Thurm zu Babel“
0111(wie wir aus mündlicher Mittheilung wissen) wirklich als aufführ-
0112bares Bühnenstück angesehen und die Concert-Einkleidung mehr als
0113ein Surrogat aufgefaßt wissen. Möglich, daß er das Widerstre-
0114ben der Opernbühnen gegen geistliche Dramen eines Tages besiegt;
0115zum Vortheil seines Werkes dürfte es kaum ausschlagen. Die
0116Ehrfurchtsdämmerung, welche für uns die biblischen Gestalten
0117umgibt, verträgt sich überhaupt schlecht mit der starren Gegen-
0118ständlichkeit der Bühne; im „Thurm zu Babel“ drängen sich
0119außerdem so gewagte scenische Vorgänge, daß man sie besser der
0120Einbildungskraft des Hörers, als der Geschicklichkeit des Maschi-
0121nisten anvertraut. Auf der Bühne wird der himmelanstrebende
0122Riesenthurm stets kleinlich und sein Zusammensturz ein gewöhn-
0123liches Theaterspectakel sein; das Heraustreten des gebratenen und
0124dennoch unversehrten Abram aus dem Ofen dürfte sogar eine
0125gefährliche Heiterkeit erwecken. Eine „Oper“ ist das Werk in-
0126sofern, als die dramatische Einkleidung consequent durchgeführt
0127und die erzählende, epische Form gänzlich beseitigt ist. Wir sind
0128gleich mitten in die Handlung versetzt: von einem Aufseher zur
0129Arbeit gerufen, gehen die Völker rüstig an’s Werk, Nimrod tritt
0130auf, den Bau bewundernd u. s. f. Von höchst energischem Ausdruck
0131ist der Doppelchor („Das Wunder hat Baal gethan“) nach der [2]
0132Errettung Abram’s. Entwickelte hier der Componist eine unge-
0133wöhnliche Gewalt und Sicherheit in der Gruppirung großer
0134Chormassen, so bietet ihm die folgende Scene Gelegenheit zu
0135glänzender instrumentaler Schilderung. Dumpf rollt das Gewitter
0136heran, schwillt mächtig über den Häuptern der angstvoll fliehen-
0137den Arbeiter und entladet sich endlich in Donnerschlägen, welche
0138den Thurm zu Boden schmettern — eine prachtvolle Schilderung
0139von unwiderstehlicher Kraft und Anschaulichkeit. Die Perle des
0140Ganzen soll indeß noch folgen: der Gesang der drei auswan-
0141dernden Völkerstämme. Zuerst intoniren die Semiten einen feier-
0142lichen Gesang von idealisirt hebräischem Gepräge; es folgt
0143ein Unisono-Chor der Hamiten, wahre Mohrenmusik in athemver-
0144setzendem Zweiviertel-Tact, von wilden Trommelschlägen begleitet,
0145ein Stück an der äußersten Grenze musikalischer Realistik, aber zweifel-
0146los berechtigt gerade an diesem Platz. Von beiden vorhergehenden
0147wesentlich verschieden und gleichsam über ihnen schwebend in
0148süßem, heiterem Frieden ertönt der Gesang der Japhetiten, ein
0149vierstimmiger Vocalsatz beinahe volksthümlich deutschen Charakters,
0150in der 2. und 3. Strophe durch reichere Begleitung belebt und
0151gesteigert. Rubinstein, allzeit besonders glücklich in nationaler Ton-
0152charakteristik, hat mit diesen drei Chören ein bewunderungswür-
0153dig prägnantes, farbenreiches Bild hingestellt. Die folgenden
0154Partien fallen dagegen ab, hier wie durch das ganze Werk sind
0155die Sologesänge von entschieden matterer, mitunter schwacher
0156Erfindung; das letzte Arioso Abram’s mahnt fast an den ge-
0157müthlichen Biedermannsstyl von Weigl und Consorten. Der aus
0158drei Gruppen gebildete Schlußchor, ein stolzer musikalischer Bau,
0159findet den Hörer leider schon müde und abgespannt. Im Ganzen
0160ist Rubinstein’s, „geistliche Oper“, so ungleich an Werth ihre
0161einzelnen Theile seien, ein hervorragendes Werk von rühmlichem
0162künstlerischen Ernst und hinreißenden Einzelheiten. Rubinstein,
0163welcher selbst dirigirte, erzielte damit einen großen Erfolg, von
0164welchem den ausführenden Kräften, nämlich Herbeck’s „Sing-
0165verein“, den Herren Adams, Kraus und Dr. Raindl, ein
0166redlich Theil zufällt.


0167Herr Rubinstein gab (Sonntag Mittags) noch ein eigenes
0168Concert ohne Orchester im kleinen Musikvereinssaale, der von
0169Besuchern förmlich vollgepfropft war. Der Concertgeber besorgte
0170mit unverwüstlicher Ausdauer ganz allein das Programm und
0171mischte unter künstlerisch vollendete Leistungen auch einige Kraft-
0172proben geschmacklos derber Tastenstürmerei, wie z. B. in seiner
0173Mazurka. Am folgenden Tag unterstützte Rubinstein das Concert
0174von Fräulein Helene Magnus, deren Liedervorträge wie ge-
0175wöhnlich ein nicht nur sehr zahlreiches, sondern enthusiastisch
0176dankbares Publicum vorfanden. Unter den von Fräulein Magnus ge-
0177sungenen Novitäten hatte insbesondere ein „Neugriechisches Lied“
0178von Rubinstein großen Erfolg. Einen betrübenden Gegensatz zu
0179diesen beiden gedrängt vollen Productionen bildete bezüglich der
0180Einnahme das Abend-Concert für den Pensionsfonds der
0181Conservatoriums-Professoren
am 2. März. Und
0182doch lockte das Programm mit mancher anziehenden Nummer.
0183Man begann mit dem ersten Satz und dem Finale von Mozart’s
0184B-dur-Serenade für Blasinstrumente, worin sich der neu en-
0185gagirte, treffliche Fagottist Krankenhagen bemerkbar machte.
0186Bei diesem, durch seine Klangfarbe leicht ermüdenden Werk läßt
0187sich das Loslösen von zwei Sätzen allenfalls entschuldigen, aber
0188von Schubert’s herrlichem Streichquintett in C-dur hätte man
0189uns nicht blos ein Bruchstück geben sollen; waren doch obendrein
0190diese zwei Compositionen die einzigen größeren Nummern des
0191Programms. Fräulein Bosse zierte das Concert durch den Vortrag
0192mehrerer Lieder von Schubert, Brahms und Grimm,
0193Herr Krastel sprach ein Gedicht von Robert Hamerling:
0194Der geblendete Stieglitz“, dessen eigenthümliche, poetische Grund-
0195idee frappirte. Herr Walter stand mit drei Liedervorträgen
0196auf dem Programm; man ist es in solchem Falle schon gewöhnt,
0197sein wirkliches Erscheinen wie einen unverhofften Treffer zu be-
0198grüßen. Dieser Glücksfall trat leider an dem Abende nicht ein,
0199und das auf Herrn Walter sich freuende Publicum sah sich wie-
0200der einmal getäuscht, ohne auch nur einer Entschuldigung gewür-
0201digt zu werden. Eine neue Erscheinung waren die beiden Piani-
0202sten Wilhelm und Louis Thern, Söhne des verdienst-
0203vollen Professors Thern am Pester Conservatorium. Wie schwer
0204jeder der Brüder einzeln in der Kunst wiegt, können wir nicht
0205bestimmen, aber beide zusammen sind ein brillanter Virtuose.
0206Ihre Virtuosität besteht in einem so präcisen Zusammenspiel auf
0207zwei Clavieren, daß man einen einzigen Pianisten zu hören
0208glaubt. Am frappantesten wirkt diese Uebereinstimmung in dem
0209Unisono-Vortrag der bekannten F-moll-Etude Nr. 2 von Chopin 
0210auf zwei Clavieren; das schärfste Ohr vermochte auch nicht die
0211allergeringste Abweichung des einen Spielers von dem andern
0212wahrzunehmen. Eine tiefere künstlerische Bedeutung ist diesen
0213Productionen kaum zuzusprechen, aber als eine neue, glänzend
0214ausgebildete Specialität des Clavier-Virtuosenthums müssen wir
0215die Brüder Thern anerkennen, deren Erfolg auch ein ganz
0216entschiedener war.