Neue Freie Presse
Morgenblatt
Nr. 2039. Wien, Dienstag, den 3. Mai 1870
[1]Memoiren von Hector Berlioz.
II.
0003Ed. H. Berlioz hatte sein Choristenjoch glücklich abge-
0004schüttelt und widmete sich nun mit ganzer Kraft dem Studium
0005zunächst der dramatischen Musik. Der Mann seiner größten,
0006ja schrankenlosen Bewunderung ist Gluck; sein leidenschaftlich-
0007ster Haß gehört Rossini und den Rossinisten. Bei Vorstellun-
0008gen Gluck’scher Opern fungirte Berlioz im Parterre geradezu
0009als Chef einer Handvoll Gluck-Enthusiasten und solcher, die
0010er dazu machen wollte. In den Zwischenacten erklärte er
0011ihnen die Schönheiten des Textbuches und der Partitur, und
0012wehe dem Sänger oder Orchester-Dirigenten, der sich die ge-
0013ringste Aenderung erlaubte. „Wo bleiben die Posaunen? Hier
0014stehen keine Becken! Wer untersteht sich, Gluck zu corrigiren?“
0015so schrie der junge Enthusiast ganz laut während dieser Vor-
0016stellung und erlebte meistens die Satisfaction, daß der Diri-
0017gent, aus Furcht vor der Wiederholung solcher Scandale, die
0018gerügten Unrichtigkeiten verbesserte. Neue, ungeahnte Ideale
0019schlossen sich nun in rascher Auseinanderfolge dem jungen
0020Berlioz: er stieß zum erstenmale auf K. M. v. Weber,
0021Beethoven und Shakspeare. „Der Freischütz“, ent-
0022zückte ihn trotz der bekannten Verstümmelung, welche Castil-
0023Blaze, „dieser musikalische Thierarzt“, sich damit erlaubte.
0024„Sei verflucht! Verzweifle und stirb!“ ruft Berlioz jedem
0025„Verbesserer“ eines Meisterwerkes zu. Gegen Mozart fühlt
0026Berlioz zeitlebens eine gewisse Voreingenommenheit, welche er
0027hauptsächlich darauf zurückführt, daß er „Don Juan“ und
0028„Figaro“ in Paris nur in der ihm verhaßten Italienischen
0029Oper von Italienern aufführen sah. Außerdem kann er sei-
0030nen Abscheu vor der Coloraturstelle im Allegro der „Brief-
0031Arie“ Donna Anna’s niemals verwinden; für diesen aller-
0032dings beklagenswerthen Fleck in der „Don Juan“-Partitur
0033findet Berlioz das Epitheton „schändlich“ noch zu milde.
0034Eine englische Schauspielertruppe, welche im Odéon-
0035Theater gastirt, führt nun eine der bewegtesten und folgen-
0036reichsten Perioden in Berlioz’ Leben herbei. Er sieht zum
0037erstenmale ein Shakspeare’sches Trauerspiel („Hamlet“) mit
0038Miß Smithson als Ophelia. Gleichzeitig mit dem über-
0039wältigenden Eindrucke des Shakspeare’schen Dramas trifft ihn
0040blitzartig eine rasende Leidenschaft für die schöne Schauspielerin.
0041Wer diese Capitel nicht bei Berlioz selbst nachließt, kann sich
0042kaum eine Vorstellung machen von der unbändigen, vulcanischen
0043Natur seines Gemüthes. Ruhige Leser dürften wol darin über-
0044einstimmen, daß sich Berlioz wie ein Narr benommen hat.
0045Er verliert vollständig „den Schlaf, die Lebhaftigkeit des
0046Geistes, jedes Interesse für seine Lieblingsstudien, jede Mög-
0047lichkeit zu arbeiten“. Erschöpft von tagelangem ziellosen Um-
0048herirren in den Straßen und Umgebungen von Paris, schläft
0049er einmal im Schnee, am Ufer der gefrorenen Seine, ein
0050zweitesmal auf freiem Felde, ein drittesmal auf einem Tische
0051in einem Boulevard-Kaffeehause. Nach jener „Hamlet“-Vor-
0052stellung hatte sich Berlioz fest vorgenommen, sich niemals wie-
0053der einer ähnlichen Erschütterung auszusetzen. Doch kann er
0054der Anzeige von „Romeo und Julie“ nicht widerstehen. Die
0055Wirkung ist furchtbar. Vom dritten Acte an vermag er —
0056der übrigens kein Wort Englisch versteht — kaum mehr zu
0057athmen, eine eiserne Faust preßt sein Herz zusammen, er sagt
0058sich aus innerster Ueberzeugung: „Jetzt bin ich verloren.“
0059Von den Shakspeare-Vorstellungen hält er sich mit einer Art
0060Todesangst fern, doch grübelt er unablässig, wie er die Auf-
0061merksamkeit Miß Smithson’s erregen könnte, welcher er doch
0062niemals in die Nähe zu kommen wagt. Es gelingt ihm, mit
0063einer Concert-Aufführung mehrerer seiner Compositionen Auf-
0064sehen zu erregen — nur sie allein hat nie davon reden ge-
0065hört. Er schreibt wiederholt an sie, ohne jemals eine Zeile
0066von ihr zu erhalten; endlich verbietet sie ihrer Kammer-
0067frau, Briefe von diesem schrecklichen Menschen anzunehmen.
0068Unter dem Eindrucke dieser verzehrenden Leidenschaft componirt
0069Berlioz seine „Symphonie fantastique“, die (in späterer
0070radicaler Umarbeitung) zuerst den Ruhm des originellen Ton-
0071dichters begründete und über die Grenzen seines Vaterlandes
0072trug. Endlich gelingt es ihm, den zweiten und bald darauf
0073den ersten Preis in dem musikalischen Concurse des „Insti-
0074tutes“ zu erringen. Mit diesem ersten Preise ist ein fünfjähri-
0075ges Staatsstipendium von jährlich 3000 Francs verbunden
0076und die Verpflichtung, zwei Jahre in Rom zuzubringen. Ber-
0077lioz begibt sich nach Rom, wo er in Horace Vernet, dem
0078damaligen Director der französischen Akademie (in der Villa
0079Medici), einen wohlwollenden Vorgesetzten und väterlichen
0080Freund findet. Berlioz’ Mittheilungen über seinen römischen
0081Aufenthalt verrathen wenig Zufriedenheit, obgleich die franzö-
0082sischen Laureaten dort eine fast unbegrenzte Freiheit genießen,
0083nach Belieben größere Reisen in ganz Italien machen dürfen,
0084in der Akademie mit allem Nöthigen versorgt und mit jeder
0085Controle ihrer Studien verschont sind. Aber Berlioz hat
0086wenig Sympathie für das Land und dessen Bewohner, die
0087italienische Musik ist ihm ein Gräuel, für Gemälde und Sta-
0088tuen interessirt er sich nicht. Den Ruhm der päpstlichen Ca-
0089pelle nennt er einen ganz unverdienten, den Kirchen-Composi-
0090tionen Palestrina’s gesteht er zwar „Geschmack und Gelehrsam-
0091keit“ zu, findet es aber komisch (une plaisanterie), von dem
0092„Genie“ dieses Meisters zu sprechen. In Rom verkehrt Ber-
0093lioz häufig mit Mendelssohn-Bartholdy, von dem er
0094jedoch in auffallend kühlem, fast gereiztem Tone spricht. Men-
0095delssohn war seiner ganzen künstlerischen Individualität nach
0096nicht der Mann, an Berlioz’ extravaganter Musik Gefallen
0097zu finden, und machte auch kein Hehl daraus. Jugendlicher
0098Uebermuth mag ihm auch manches ironisch witzige Wort ein-
0099gegeben haben, so daß er dem empfindlichen Berlioz vorkam
0100wie ein „stacheliger Igel“. Berlioz geräth in eine kaum
0101begreifliche Wonne, als Vernet ihm erlaubt, seine
0102„zweijährige italienische Verbannung“ um sechs Mo-
0103nate abzukürzen und (im Sommer 1832) nach Paris
0104zurückzukehren. Hier folgt er gleich einem unwiderstehlichen
0105Triebe, indem er sich gerade gegenüber der ehemaligen Woh-
0106nung von Miß Smithson einquartiert. Die alte Leidenschaft
0107erwacht sofort, als er von der Anwesenheit der für ihn seit
0108zwei Jahren Verschollenen hört. Berlioz arrangirt so schnell
0109als möglich ein großes Concert mit der „Phantastischen
0110Symphonie“ an der Spitze und bringt es durch Vermittlung
0111von Freunden dahin, daß seine angebetete Henriette der Pro-
0112duction beiwohnt. Sie erräth rasch den Zusammenhang und
0113erlaubt ihm am folgenden Tage, sie zu besuchen. Um seine
0114Ruhe war es nun wieder für lange Zeit geschehen. Sowol
0115Berlioz’ Eltern, als die Familie der Smithson erklärten sich
0116auf das entschiedenste gegen eine Verbindung zwischen den
0117Beiden. Ein Jahr lang dauerte dieser Kampf, diese Qualen,
0118denen Berlioz zu unterliegen fürchtete. Was seinen Wünschen
0119hilfreich entgegenkam, war leider eine Reihe von Unglücks-
0120fällen, welche seine Geliebte trafen. Miß Smithson hatte als
0121Directrice der Theater-Unternehmung ihr Vermögen eingebüßt
0122und war von Gläubigern belagert; am Abend ihrer Benefice-
0123Vorstellung springt sie rasch aus dem Wagen und bricht den
0124Fuß. Die Heilung ging sehr langsam vorwärts. Endlich, im
0125Sommer 1833, heiratete Berlioz seine Henriette Smithson.
0126„Sie hatte,“ so erzählt er, „an unserem Hochzeitstage nichts
0127mehr auf der Welt als Schulden und die Aussicht, nur noch
0128hinkend die Bühne betreten zu können; ich selbst besaß Alles
0129in Allem dreihundert Francs, die ein Freund mir geliehen,
0130und war von neuem entzweit mit meinen Eltern. Allein sie
0131war jetzt mein Eigen, ich trotzte allem Ungemach.“
[2]
0132Für Berlioz beginnt nun eine Zeit der Arbeit und Ent-
0133behrung, zugleich aber auch gekräftigter künstlerischer Zuver-
0134sicht. Ein Concert, dass er unter Mitwirkung Franz Liszt’s
0135gibt, trägt 7000 Francs ein, welche sofort den Gläubigern
0136seiner Frau in die Hände fallen. Erst mehrere Jahre später
0137und unter empfindlichen Entbehrungen gelang es Berlioz, diese
0138Schuld gänzlich zu tilgen. Auf Anregung Paganini’s, der für
0139seine Productionen ein Concertstück von Berlioz’ Compositionen
0140wünschte, schrieb dieser die Harold-Symphonie. Bekanntlich
0141durchzieht diese ganze Symphonie, gleichsam deren Helden
0142repräsentirend, eine Solo-Viola; Paganini fand die Partie
0143für seine Zwecke nicht concertant genug. Als aber Paganini
0144ein Jahr später die Harold-Symphonie und die „Fantastique“
0145in Paris unter Berlioz’ Leitung hörte, war er so entzückt
0146davon, daß er dem Componisten am anderen Morgen
014720,000 Francs nebst einem enthusiastischen Schreiben zu-
0148schickte. Berlioz, der krank zu Bette lag, rief, seiner Sinne
0149kaum mächtig, Frau und Kind herbei, welche an seinem Bette
0150auf die Knie fielen und mit Freudenthränen Gott für die
0151unerwartete Hilfe dankten. Paganini’s Großherzigkeit setzte
0152Berlioz in den Stand, sich durch längere Zeit ausschließlich und
0153sorgenfrei jenem großen Werke zu widmen, in das er seine
0154beste Kraft legen wollte, um es Paganini zuzueignen: die
0155dramatische Symphonie „Romeo und Julia“. Leider erlebte
0156Paganini nicht mehr die Vollendung dieser Compo-
0157sition, er starb im Mai 1840 in Nizza. „Nun
0158brauche ich kein Feuilleton mehr zu schreiben!“ ist
0159der erste Ausruf, mit welchem Berlioz das unerwartete Ge-
0160schenk Paganini’s jubelnd begrüßt. Durch das ganze Buch von
0161Berlioz zieht sich dieser Gedanke durch, in bitteren Klagen
0162über die ihm entsetzliche Thätigkeit als Kritiker, in lebhaften
0163Schilderungen der peinlichen Mühe und Anstrengung, mit
0164welcher er ein Feuilleton für das Journal des Debats fertig
0165bringt. Einmal erzählt er sogar, wie er sich durch drei Tage
0166in sein Zimmer eingeschlossen hatte, um über eine ihm ganz
0167uninteressante komische Oper ein Feuilleton zu schreiben. Die
0168Qual, durchaus keinen Anfang finden zu können, brachte ihn
0169in solche Verzweiflung, daß er sich die Haare ausriß, wie ein
0170Kind weinte, endlich, eine Pistole herablangend, dem Selbst-
0171morde nahe war! Und doch verdankte Berlioz seinen Ruhm
0172und Einfluß zum großen Theile seinen vortrefflichen Journal-
0173kritiken, die ihm auch, wie er selbst hervorhebt, glänzend hono-
0174rirt wurden! Seine wiederholte bittere Klage, gänzlich unbe-
0175deutende Kunsterscheinungen ernsthaft besprechen und mittel-
0176mäßige Componisten loben zu müssen, gibt jedenfalls die beste
0177Aufklärung über seinen so krankhaft übertriebenen Widerwil-
0178len gegen ein von ihm so glänzend vertretenes Fach. Bei dem
0179herrschenden Lob- und Complimentir-System der französischen
0180Tageskritik (wenigstens einheimischen Künstlern gegenüber)
0181war es ihm, dem selbstproducirenden Tonkünstler, doppelt
0182schwer gemacht, seine abfällige Meinung unverblümt auszu-
0183sprechen. Ganz irrthümlicherweise hielt man in Deutsch-
0184land Hector Berlioz für einen besonders strengen Kritiker.
0185Man braucht nur einen beliebigen Jahrgang des Journal
0186des Debats aufzuschlagen, um sich gar sehr vom Gegentheil
0187zu überzeugen. Compositionen französischer Collegen, welche er
0188in seinem Herzen verachtete und verlachte und die er im ver-
0189trauten Gespräche gnadenlos mit einigen zweischneidigen Worten
0190hinrichtete, hat er in seinem Journal in der Regel erstaunlich
0191milde, sogar freundlich behandelt. Allerdings gewahrt der
0192Kundige zwischen den Zeilen die Anstrengung dieses kritischen
0193Eiertanzes. Man vergleiche Berlioz’ zahlreiche apologetische
0194Kritiken über den „großen Meister Meyerbeer“ im Journal
0195des Debats mit den wegwerfenden Worten, welche er ihm in
0196den Memoiren widmet. Vollkommen freien Lauf hat der
0197Feuilletonist Berlioz seiner künstlerischen Entrüstung vielleicht
0198nur in zwei Fällen gegönnt: gegen die Verstümmler Gluck’scher,
0199Weber’scher, Beethoven’scher Partituren und gegen Richard
0200Wagner, dessen Erfolge ihm das Herz abfraßen. Im Uebrigen
0201vermochte er sich nicht aus den zahllosen Fäden und Fädchen
0202loszumachen, welche den Pariser Feuilletonisten umwinden und
0203sein Urtheil, wenn auch nicht verkehren, so doch unwiderstehlich
0204nach rechts oder links biegen. Und diesen Zwang mußte gerade
0205ein Musiker von so strenger, ja unduldsamer Exclusivität des
0206Geschmackes wie Berlioz als Folterqual empfinden.
0207Es folgen die bereits seit Jahren bekannten „Musikali-
0208schen Reisebriefe“ Berlioz’ aus Deutschland, Oesterreich und
0209Rußland. Auf das Publicum, die Künstlerschaft und die Kri-
0210tik in Wien und Prag ist Berlioz sehr gut zu sprechen. Die
0211Aufnahme, die er in diesen Städten gefunden, zählte er stets
0212zu den Glanzpunkten seines Lebens. Manche irrthümliche An-
0213gabe oder Auffassung wird man einem des Deutschen gänzlich
0214unkundigen Reisenden leicht nachsehen. Nur Eines berührte
0215mich peinlich: Berlioz’ kindische Behauptung, Beethoven’s
0216A-dur-Symphonie sei noch im Jahre 1820 in Wien mit der
0217äußersten Geringschätzung (avec le plus mortel dédain) be-
0218handelt worden, während man sich gleichzeitig zu den Opern
0219von Salieri drängte! Bei der oberflächlichsten Nachfor-
0220schung hätte Berlioz erfahren müssen, daß im Jahre 1820
0221längst kein Mensch mehr von den Opern Salieri’s sprach,
0222sondern Rossini, Weigl, Cherubini, Boieldieu, Catel und
0223Méhul das Theater beherrschten. Und daß gerade die
0224A-dur-Syphonie von Beethoven gleich bei ihrer ersten
0225Aufführung in Wien (1813) einen unerhörten Triumph feierte
0226und denselben fortan bei jeder Wiederholung behauptete, weiß
0227in Deutschland der letzte Orchestergeiger. Aber ein Franzose,
0228sei er selbst Componist und Musikschriftsteller von dem Range
0229eines Berlioz, läßt sich seine alten Kindermärchen nicht neh-
0230men. Unter diese von Berlioz geglaubten und neu aufgetisch-
0231ten Kindermärchen gehört es auch, daß C. M. v. Weber in
0232London aus Kränkung über den Mißerfolg seines „Oberon“
0233gestorben sei. Das Wahre daran ist, daß Weber bereits sehr
0234leidend, den Todeskeim in der Brust, nach London gereist war,
0235von wo er selbst den glänzenden, alle seine Erwartungen über-
0236treffenden Erfolg des „Oberon“ in mehr als Einem Brief ge-
0237schildert hat.
0238Je weiter gegen das Ende, desto trüber und verbitterter
0239wird Berlioz’ Selbstbiographie. Obwol er selbst zahlreiche
0240ihm zu Theil gewordene Auszeichnungen und künstlerische (auch
0241pecuniär glänzende) Erfolge erzählt, wie die Aufführung der
0242„Troyens“ in Paris, der kleinen komischen Oper: „Beatrice
0243und Benedict“ (von Benazet in Baden-Baden mit 8000 Francs
0244honorirt), mehrere Concerte im Saale Herz etc., vergräbt er
0245sich doch immer tiefer in die Ueberzeugung, von
0246lauter Feinden und Intriganten umgeben zu sein.
0247Seine Bannflüche gegen Künstler, Kritiker, Thea-
0248ter-Directoren, Concertleiter, vollends gegen die „bar-
0249barische Nation“ der Franzosen werden immer häufiger
0250und heftiger. In seinem 61. Jahre ergreift ihn nochmals
0251die jugendliche Leidenschaft für seine um sechs Jahre ältere
0252Estella, die er als Witwe und Mutter erwachsener Söhne
0253nach langen Nachforschungen in Lyon wiederfindet. An diese
0254würdige alte Frau, der er beinahe fremd ist, schreibt Berlioz
0255zärtliche Briefe von kindischer Leidenschaftlichkeit und melan-
0256cholischer Gefühleschwelgerei. Diese Briefe druckt er nebst den
0257Antworten in seinen Memoiren vollständig ab. Die Schluß-
0258worte dieses edlen, in Verbitterung zusammenbrechenden Geistes
0259sind von erschütternder Traurigkeit. Sie lauten: „Ich
0260schreibe nichts mehr, ich componire nichts mehr. Die musi-
0261kalische Welt von Paris und anderwärts, die Art und Weise,
0262wie die Künste gepflegt, die Künstler geschätzt werden, das
0263Alles erregt mir Brechreiz oder Wuthanfälle. Aber denken
0264wir nicht mehr an die Kunst. Stella! Stella! Ich kann jetzt
0265ohne Zorn und Bitterkeit sterben.“