Neue Freie Presse
Morgenblatt
Nr. 2068. Wien, Mittwoch, den 1. Juni 1870
[1]Hofoperntheater.
(Das vierte Abonnements-Concert. — Fräulein Minnie Hauck als Zerline und Julia.)
0003Ed. H. Am 23. Mai hörten wir das vierte und letzte
0004der von Herbeck geleiteten Abonnements-Concerte im neuen
0005Opernhause. Der warme Frühlingsabend machte ihm starke
0006Concurrenz. Wir wissen Fliederduft und junges Grün auch
0007zu schätzen, ganz besonders an Abenden, wo eine gastirende
0008Lucia oder ein neu engagirter Prophet uns im halbleeren
0009Theater festhält. Die Kritik, als Gesammtperson, befindet sich
0010an solchen Gastspiel-Sommerabenden meistens in einer Art
0011Einzelhaft. Allein am verflossenen Samstag quälte uns keinen
0012Augenblick die Sehnsucht nach dem Schwarzenberg- oder Liech-
0013tensteingarten; denn nicht blos der Poet (wie Hebbel gern
0014versicherte), auch der Musiker lebt nicht von Maikäfern allein.
0015Das Concert, welches uns am Samstag Abends zahlreiche Mai-
0016käfer sammt den dazugehörenden Kastanienbäumen ersetzte,
0017bestand nur aus zwei Tondichtungen: der „Manfred“-Musik
0018von Schumann und Schubert’s „Häuslichem Krieg“.
0019Für meine Empfindung ist der Eindruck des „Manfred“ jeder-
0020zeit ein so tiefer und gewaltiger, daß ich unmittelbar darauf
0021für keine andere Musik empfänglich bin, und so erschien mir
0022denn Schubert’s (sonst hochwillkommene) Operette wie ein
0023Kinderspielzeug. Unberechtigt kann man deßhalb die entgegen-
0024gesetzte Empfindung nicht nennen, welche den tragischen Schauer
0025gern in heitere Melodien aufgelöst sehen und aus dem be-
0026rückenden Nebel Manfred’s an das Sonnenlicht verliebter
0027Scherze sich retten will. In „Manfred“ bewundern wir stets
0028von neuem eine der eigenthümlichsten und höchsten Inspira-
0029tionen Schumann’s. Kein zweitesmal stieß seine Individualität
0030auf einen so wahlverwandten Stoff, kein zweitesmal hat er
0031so ganz sein Innerstes ausgesprochen. Hier gibt uns der
0032Künstler sein Herzblut, und zwar in goldener Schale. Neben
0033„Manfred“ und der ebenbürtigen „Verklärung Faust’s“ verblaßt
0034die Blüthenpracht der „Peri“ und ihrer geringeren Schwestern.
0035„Manfred“ und die dritte Abtheilung der „Faust“-Musik
0036stehen überdies in Schumann’s dritter Periode einzig unbe-
0037rührt da von der auffallenden Ermattung, welche seine Schö-
0038pferkraft bald nach dem Jahre 1848 (etwa gegen Op. 100
0039zu) lähmte. Die Erklärung liegt wol in dem weit früheren
0040Zeitpunkte ihrer ersten Conception. Die Aufführung der
0041„Manfred“-Musik war eine vollkommene. Das von Herbeck
0042trefflich geleitete Orchester und Meister Lewinsky, welcher
0043das Gedicht sprach, wirkten wie zwei große Virtuosen zusam-
0044men. Lewinsky’s Vortrag, vor Allem die Beschwörung der
0045Astarte, gehört zu dem Ergreifendsten, was wir auf diesem
0046Kunstgebiete erlebt. Selbst der große Raum des Opernhauses
0047vermochte die Wirkung nicht zu beeinträchtigen, welche Le-
0048winsky mit seinem bescheidenen Organ hervorbrachte. Die
0049Lunge allein macht eben den Declamator so wenig aus, wie
0050den Sänger.
0051Schubert’s mitunter etwas bequeme, allein durchwegs
0052anmuthige und erfindungsreiche Musik zum „Häuslichen
0053Krieg“ war seit vielen Jahren hier nicht gehört. Gerade
0054deßhalb hätten wir gerne ihre Auferstehung gleich in Lebens-
0055größe, d. h. in vollständig scenischer Darstellung gesehen. Die
0056Aufführungen des „Häuslichen Krieg“ im Kärntnerthor-Thea-
0057ter sind uns Allen in lebhafter Erinnerung, und diese Erin-
0058nerung an ein farbenglühendes Bild scheint uns durch eine
0059Bleistiftzeichnung eher abgeschwächt als aufgefrischt zu werden.
0060Warum geben dieselben Sänger, die jetzt im Frack vor uns
0061stehen, diese Oper nicht lieber wirklich als Oper, Schwert
0062und Fahne in der Hand, anstatt des Notenheftes? die Frage
0063schwebte auf Aller Lippen. Und eine günstige Gelegenheit,
0064wenn es deren bedürfte, gab es eben jetzt, wo man das für
0065einen Theater-Abend ganz unzureichende Ballet „Gisela“ neu
0066einstudirte. Derlei Vorstellungen, die mit Hilfe unbarmher-
0067ziger Zwischenacte mühsam bis zur neunten Stunde hinge-
0068fristet werden, sind kleinstädtisch. Nicht nur hinter Groß-
0069Paris, auch hinter „Klein-Paris“ stehen wir zurück, wo Laube
0070nach dem „Barbier von Sevilla“ und ähnlichen Opern ein selbst-
0071ständiges einactiges Ballet gibt. Im Wiener Operntheater, das in
0072der Regel sehr langwährende Vorstellungen spielt, sollte eine
0073gewisse Einheit auch in der Dauer der Theater-Abende herr-
0074schen. Dafür eignet sich am besten die Zugabe eines einacti-
0075gen Singspieles zu Balletten wie „Gisela“ oder eines klei-
0076nen Balletes zu Opern von dem Taschenformate „Fra Dia-
0077volo’s“, „Martha’s“, des „Postillons“. Mit dem „Häuslichen
0078Krieg“ als Beigabe hätte die larmoyante „Gisela“ wahr-
0079scheinlich einige volle Häuser gemacht, während jetzt ihre mond-
0080beschienenen Pirouetten nur von wenigen Sterblichen betrachtet
0081werden. Ein ganzes brachliegendes Feld kleiner Opernmusik
0082würde wieder fruchtbringend durch solche Methode, von Per-
0083golese’s reizender „Serva padrona“ an bis zu Horn-
0084stein’s neuester, in München so enthusiastisch begrüßter Ope-
0085rette: „Adam und Eva“. Das Alles sagen wir heute nicht
0086zum erstenmale, aber gewiß ebenso erfolglos. An dem „Häus-
0087lichen Krieg“ betheiligten sich in den Hauptrollen mit Aus-
0088zeichnung die Sängerinnen Bosse und Materna, die Her-
0089ren Walter und Mayerhofer. Das Verdienst des Diri-
0090genten um die feurige und fein detaillirte Ausführung müssen
0091wir neuerdings rühmen, obendrein mit dem Beisatze, Hof-
0092capellmeister Herbeck habe diesmal ruhiger als sonst tactirt.
0093In dieses Lob kleidet sich allerdings der Vorwurf, daß Her-
0094beck in der Regel allzu heftig agire — ein Vorwurf, den wir nur
0095aussprechen, weil wir die Thätigkeit dieses ausgezeichneten
0096Musikdirectors gerne von ihrer einzigen äußerlichen Schlacke be-
0097freit sehen möchten. Bei großen Concerten kann man sich
0098über die al fresco-Bewegungen eines Dirigenten leichter hin-
0099wegsetzen, sie stören da wenigstens keine dramatische Illusion.
0100Etwas Anderes ist’s bei Opernvorstellungen, wo ein gewaltsames
0101Tactiren mit hoch erhobenen Händen das scenische Bild
0102im buchstäblichen Sinne durchkreuzt. Im neuen Opern-
0103hause ist das Niveau des Orchesters schon auffallend hoch,
0104und in diesem wieder das Podium des Capellmeisters. Indem
0105Herbeck nicht wie seine Collegen sitzend, sondern stehend diri-
0106girt, erscheint seine Gestalt noch höher und seine Haltung
0107viel bewegter. Feurig wie er ist, tactirt Herbeck fast immer
0108mit beiden, über die Kopfhöhe ausgestreckten Armen, so daß,
0109vom Parquet aus gesehen, sein Tactstab den Sängern bis
0110an die Brust reicht. Der auf die Bühne gerichtete Blick des
0111Zuschauers wird dadurch unausgesetzt ins Mitleid gezogen.
0112Dreht sich obendrein der Dirigent bei offener Scene um und
0113dirigirt (wie Herbeck häufig thut) gegen das Publicum ge[2]-
0114wendet, so erblickt in ihm der Zuschauer fast mehr einen
0115Theil der Bühne als des Orchesters. Ausnahmsweise in
0116großen Szenen wird wol jeder Dirigent zu gewaltsameren
0117Zeichen greifen, zumal bei neuen, schwierigen Werken, wie die
0118„Meistersinger“. Bedient er sich aber derselben fast unausge-
0119setzt, auch in den einfachsten Musikstücken bekannter, vom
0120Orchester halb auswendig gespielter Opern, wie „Freischütz“
0121und „Don Juan“, dann entfällt wol die Einwendung der
0122musikalischen Nothwendigkeit. Ueberdies bedarf das Hofopern-
0123Orchester, als ein stetig zusammenwirkender, trefflich geschul-
0124ter Körper, keines so heroischen Commandos, wie der nur
0125periodisch einberufene, durch zahlreiche Dilettanten verstärkte
0126Musiker- und Sängerchor der „Gesellschafts-Concerte“. Tem-
0127perament, Jugendkraft, dabei außerordentlicher, der Tondich-
0128tung sich ganz hingebender Eifer erklären bei Herbeck die
0129weitausgreifenden, heftigen Bewegungen; daß letztere noth-
0130wendig seien für eine präcise Aufführung, darf man mit
0131Berufung auf die berühmtesten Dirigenten bestreiten. Der
0132unbändigste Dirigent war wol Beethoven, und gewiß
0133kein guter. Einen der musterhaftesten besaß Deutschland in
0134Felix Mendelssohn, der niemals die linke Hand beim
0135Dirigiren erhoben hat. Berlioz benahm sich in den Pro-
0136ben wie ein Wütherich, bei der Aufführung wie ein Weiser.
0137Liszt endlich, der allerdings in seiner ironischen Noblesse
0138mitunter so weit ging, ganze Stellen eines größeren Werkes
0139gar nicht zu tactiren, ist der Urheber des geflügelten Wor-
0140tes: „Der Dirigent soll Steuermann sein, aber nicht Ruder-
0141knecht.“ Ohne Frage liegt die Hauptarbeit des Capellmeisters
0142in den Proben; bei der Aufführung selbst wünschen wir alles
0143Materielle so viel als möglich abgestreift und schätzen den
0144Dirigenten nur desto höher, wenn es ihm gelingt, das Ohr
0145zu befriedigen, ohne zugleich dem Auge wehezuthun. Wir
0146äußern diese Bemerkungen unbeschadet unserer Hochachtung
0147für Herbeck, zu dessen seltenen Vorzügen es ja gehört, die
0148Winke einer wohlmeinenden Kritik nicht zu mißachten. Kein
0149Zweifel, daß es ihm gelingen wird, die geistige Kraft seiner
0150Orchesterleitung mit einem ruhigeren Tactschlag zu vereinigen
0151und damit seinen ausgezeichneten Leistungen auch äußerlich die
0152letzte Feile zu geben.
0153Im Hofoperntheater sahen wir Fräulein Minnie Hauck
0154in zwei neuen Rollen: Zerline in „Don Juan“ und Julie
0155in Gounod’s „Romeo“. Wie wir bereits in Kürze gemeldet,
0156zählt die Zerline Fräulein Hauck’s zu den liebenswürdigsten
0157Erscheinungen auf theatralischem Gebiete. Der Charakter war
0158mit einleuchtender Wahrheit und Natürlichkeit dargestellt, in
0159Gesang und Spiel bis in die feinsten Details geschmackvoll
0160ausgearbeitet. Die ganze Individualität Fräulein Hauck’s
0161assimilirte sich vollständig mit dieser heiteren naiven Gestalt, —
0162so vollständig, daß wir für ihre Julie beinahe zu fürchten
0163begannen. In der That stand letztere Rolle trotz zahlreicher
0164Einzelschönheiten nicht auf gleicher Höhe: es fehlte die über-
0165zeugende Kraft der Leidenschaft, die starke Beredsamkeit des
0166Herzens. Angelegt war auch dieser Charakter durchwegs
0167richtig, und was sich mit Anmuth, musikalischer Schulung
0168und geläutertem Schönheitssinn erreichen läßt, das erreichte
0169Fräulein Hauck als Julie volländig. Für die eigentlichen
0170Höhepunkte der Tragödie vermochte jedoch weder die Kraft
0171der Stimme, noch die Wärme des Ausdrucks vollkommen aus-
0172zureichen. In dem überaus zierlichen, leichten Vortrag der
0173Walzer-Arie übertraf Fräulein Hauck weitaus unsere Ehnn,
0174hinter welcher sie aber (einzelne treffliche Momente in der
0175Balconscene ausgenommen) im Uebrigen zurückstand. Ein ab-
0176schließendes Urtheil über diese Leistung, ja über die ganze
0177Leistungsfähigkeit Fräulein Hauck’s darf man indessen kaum
0178noch wagen. Die junge Sängerin steht dem Leben noch so
0179ungeprüft, mit so kindlicher Unbefangenheit gegenüber, daß
0180eine Fortentwicklung ihres echten Talentes nach der Tiefe und
0181Breite hin mit Zuversicht erwartet werden kann. Ihre phy-
0182sische Kraft wie ihre künstlerische haben ihren Culminations-
0183punkt noch vor sich. Wenn es richtig ist, daß die Direction
0184zwischen einem Engagement der Benza oder der Hauck
0185schwankt, so möchten wir vom künstlerischen Standpunkt die
0186Letztere entschieden vorziehen. Ihr feiner musikalischer Ge-
0187schmack kann nur günstig auf die Umgebung wirken, während
0188das Beispiel Fräulein Benza’s einen verderblichen Einfluß
0189fürchten läßt. Ueberdies sind die künstlerischen Vorzüge Fräu-
0190lein Hauck’s ganz dazu gemacht, ein Publicum allmälig
0191immer mehr und dauernder zu gewinnen, im Gegensatz zu
0192den blendenden, aber unkünstlerisch verwendeten Eigenschaften
0193einer Benza, für welche die Empfänglichkeit der Hörer sich
0194wahrscheinlich in kurzer Zeit abstumpft.