Wörter einzeln suchen

Neue Freie Presse
Morgenblatt
Nr. 2085. Wien, Sonntag, den 19. Juni 1870

[1]

Hofoperntheater.


0002Ed. H. Die Gewohnheit ist nicht immer die verrufene
0003einschläfernde Hexe, sie wirkt mitunter auch als wohlthätige
0004Fee und übt allmälig erziehenden Einfluß. Das neue Opern-
0005haus ist ein Beweis dafür. Unsere Voraussage, daß Sänger
0006und Zuhörer sich an die weiten Räume dieses Theaters (die
0007uns selbst anfangs verwirrten) gewöhnen und damit befreun-
0008den würden, bestätigt sich jetzt schon in bemerkenswerthem
0009Grade. Man konnte dies am deutlichsten wahrnehmen in der
0010Oper: „Joseph und seine Brüder“. Wenn auch dieses biblische
0011Idyll in einem kleineren Theater unmittelbarer, traulicher an-
0012spricht, es wurde doch im neuen Opernhause mit größerem
0013Effect gegeben, mit lebhafterem Antheil gehört, als man vor
0014einem Jahre noch gedacht hätte. Die Prosa derjenigen Sän-
0015ger, welche überhaupt deutlich sprechen, war vollkommen ver-
0016nehmlich, und rein lyrische Gesänge — insbesondere die sanf-
0017ten, breit aushallenden Chöre — klangen ungemein schön. Mit
0018wenigen Worten haben wir bereits dieser Vorstellung die schul-
0019dige Anerkennung gezollt. Herr Beck bewies als Darsteller
0020des Simeon, daß es für einen großen Künstler keine kleinen
0021Rollen gibt. Der reuige Simeon, welcher außer seiner Arie
0022so gut wie nichts zu singen hat, wuchs unter Beck’s Hän-
0023den zu einer Hauptfigur, ja zu der bedeutendsten der Oper
0024empor. Die (nach Es-moll transponirte) Verzweiflungs-Arie
0025sang er mit ergreifender Wahrheit, das Aufgebot von Fleiß
0026und Studium, welches er auf die schauspielerische Aufgabe ver-
0027wendet hatte, verdient allen Opernsängern als Beispiel vor-
0028gehalten zu werden. Herr Walter sang den Joseph mit
0029stylvollen, warm empfundenem Vortrag: daß sein Spiel die
0030Erinnerung an Niemann’s Leistung nicht aushielt, wollen
0031wir dem geschätzten Künstler nicht nachtragen, weil eben Nie-
0032mand über gewisse Grenzen seiner Begabung hinauskann. Eine
0033Gewohnheit jedoch, welche Herrn Walter’s Helden regelmäßig
0034beeinträchtigt, ließe sich vielleicht ablegen: das fast ununter-
0035brochene Lächeln, das auch seinem Joseph eine allzu kindliche
0036Nuance von Freundlichkeit verlieh. Vortrefflich gibt Herr
0037Schmid den Jacob, Fräulein Gindele den Benjamin.
0038Unter den Brüdern Joseph’s trat Herr Hablawetz vor-
0039theilhaft hervor; Herrn Campe’s Sprechweise wirkt immer
0040komisch, was sich in der komischen Oper doch noch besser
0041macht, als in der ernsten. Da Mehul’s „Joseph“ im neuen 
0042Opernhause sehr sorgfältig ausgestattet und vom Hofcapell-
0043meister Herbeck musterhaft einstudirt ist, so erzielt er eine un-
0044getrübte Wirkung und eine so kräftige, als er bei seiner Weich-
0045heit und Monotonie heutzutage überhaupt erreichen kann.


0046Méhul’s „Joseph“ ist mit Rücksicht auf seine Verwen-
0047dung gesprochenen Dialoges keine „große Oper“ in der fran-
0048zösischen Bedeutung; der durchgängige Ernst der Handlung
0049und das Pathos des Styles nähern ihn jedoch unserer (sich
0050mehr an den Stoff haltenden) deutschen Vorstellung von „gro-
0051ßer Oper“. Für ähnliche Stücke (der „Wasserträger“ gehört
0052dazu) ist gewiß das neue Opernhaus eine mögliche, wenn auch
0053nicht specifisch günstige Stätte. Viel weniger steht dies von
0054der eigentlich komischen Oper zu hoffen, welche ein weit feine-
0055res Mienenspiel und raschere, pointirte Behandlung des
0056Dialoges erfordert. Diese Gattung dürfte nach einigen An-
0057läufen sich fast von selbst von dieser Bühne zurückziehen.
0058Darum bedauern wir auch die definitive „Auflassung“ des
0059alten Kärntnerthor-Theaters, welches man ursprünglich als
0060ein Asyl für die kleinere, heitere Oper beizubehalten dachte.
0061Wir zweifeln aber nicht daran, daß über kurz oder lang in
0062Wien eine eigene Unternehmung für die komische Oper ent-
0063stehen werde. In dem Maße, als Wien — das über Nacht
0064zur Weltstadt aufgeblüht — sich nach allen Dimensionen noch
0065vergrößert, wird ein zweites, kleineres Opernhaus Bedürfniß
0066werden. Wenn Paris drei große lyrische Bühnen hat (abge-
0067sehen von der Italienischen Oper und 4 bis 5 Vaudeville-
0068Theatern, welche Offenbach spielen), so kann man Wien den
0069baldigen Zuwachs einer zweiten wol prophezeien. Sie macht
0070vielleicht die Carrière des Théâtre Lyrique, welches sehr
0071bescheiden anfing, bald durch liebenswürdige Talente und ein
0072gutes Repertoire Anziehungskraft übte, eine Staatssubvention
0073erhielt und endlich zu dem Range eines kaiserlichen Theaters
0074erhoben wurde. Eine solche selbstständige Opéra comique
0075würde vor Allem darauf hinarbeiten müssen, den versiegten
0076Quell heiterer Composition wieder in Fluß zu bringen; der
0077Mangel an guten Novitäten im komischen Fache ist er-
0078schreckend. Verlassen wir jedoch diese unpraktischen Sorgen
0079für eine komische Bühne in partibus und wenden wir uns zu dem
0080Repertoire unserer großen Oper. Inmitten der zahlreichen
0081„Uebersiedlungen“ (deren verhältnißmäßig rasche Folge wir
0082gerne anerkennen) wird die Direction doch auch auf neue
0083Opern bedacht sein müssen. Jetzt vorzüglich, wo die Saison
0084zu Ende geht und man für Wintervorräthe sorgen muß. So
0085viel uns bekannt ist, wurde die Direction nur zu Gunsten 
0086einer einzigen Novität schlüssig: der Oper „Judith“ von
0087Franz Doppler. Wir wollen von diesem noch gänzlich un-
0088bekannten Werke das Beste vermuthen; falls es sich aber nicht
0089sehr hoch über die früheren Schöpfungen des geschätzten
0090Flötenvirtuosen erhebt, so dürfte die Direction dem Vorwurfe
0091localpatriotischer Protection kaum entgehen. Eine große Aus-
0092wahl an deutschen Novitäten gibt es jetzt allerdings nicht.
0093Die berühmteste und bedeutendste davon, Wagner’s „Meister-
0094singer“ hat die Wiener Oper gebracht — mit enormen An-
0095strengungen, aber mit unbestreitbarem Rechte. Die „Meister-
0096singer“, dürfen mehr als irgend eine andere Oper neuesten
0097Datums den Anspruch erheben, auf den Hauptbühnen Deutsch-
0098lands zu erscheinen, mögen sie nun einen größeren oder klei-
0099neren Kassenertrag liefern, mehr oder minder kritische Anfech-
0100tung erfahren. Aber für die nächste Zukunft dürfte das
0101wagnerfreundliche Wien mit diesem Tafelstück ausreichen; das
0102Verlangen nach schleuniger Zubereitung von „Rheingold“
0103oder „Tristan“ ist ein Zeichen krankhaften, falschen Appetits.
0104Mehr Erfolg verspräche jedenfalls Wagner’s „Rienzi“, eine
0105Prunk-Oper im Meyerbeer-Verdi’schen Style, auf welche zwar
0106der Autor jetzt mit walkyrenhafter Geringschätzung herabsieht,
0107die aber in ihrer Handgreiflichkeit immer noch musikalischer
0108ist, als die gestaltlose graue Rauchwolke „Rheingold“. Neben
0109Wagner steht gegenwärtig in Deutschland Niemand, der als
0110specifischer Operncomponist gleiche Eigenthümlichkeit und
0111Geisteskraft aufweist und dessen Opern allgemeine Aufmerk-
0112samkeit zu erzwingen vermöchten. Bruch’sLoreley“,
0113Reinecke’sKönig Manfred“, Arbeiten tüchtiger und fein-
0114gebildeter Musiker, bewährten auf der Bühne eine sehr schwache
0115Lebenskraft; Abert’sAstorga“ erscheint demnächst (mit
0116Sontheim in der Titelrolle) im Carltheater. Am auf-
0117richtigsten kann man von deutschen Novitäten noch den „Haide-
0118schacht“ von Hostein empfehlen, eine wohlgeartete echt deutsche
0119Oper, welche zwar der Größe und Genialität entbehrt, nicht
0120aber der Anmuth und Frische. Sie hat sich bereits auf ver-
0121schiedenen Bühnen versucht, und jedesmal mit Glück; Fran-
0122zosen und Italiener sind zur Stunde im Fache der großen
0123Oper noch ärmer als wir. „Don Carlos“ von Verdi und
0124Hamlet“ von Ambroise Thomas sind ihre einzigen halb-
0125wegs nennenswerthen Novitäten seit 1867. „Don Carlos“
0126scheint die kurze und ruhmlose Laufbahn bereits beendet zu
0127haben, die ich seinerzeit in meinen Pariser Berichten ihm
0128prophezeite. „Hamlet“ ist trotz einzelner gelungener und in-
0129teressanter Partien ein schwaches Product, mit „Mignon“ [2]
0130nicht zu vergleichen, überdies nur dort möglich, wo man für
0131die Ophelia eine glänzende Specialität wie die Nielsson 
0132zur Verfügung hat.


0133Bei solcher Dürftigkeit der Lebenden wird jede künstlerisch
0134geleitete Opernbühne sich doppelt eifrig um den Succurs der
0135großen Verstorbenen bemühen. Ich gehöre nicht zu jenen
0136Rathgebern, welche stets von den „unerschöpflichen Reich-
0137thümern“ der älteren Opern-Literatur schwärmen und sofort
0138einige Dutzend ehedem beliebter Opern zur Aufführung vor-
0139schlagen, die sie entweder gar nie oder doch wenigstens nicht
0140neuerdings auf ihre Lebensfähigkeit hin angesehen haben. Im
0141Gegentheile scheint mir die Ausbeute viel geringer, als die
0142Enthusiasten für wirklich und angeblich Classisches vorgeben.
0143Wie viel Staub und Rost hat sich über die Lieblingsopern
0144unserer Großeltern gelagert! Man braucht diese ältere Opern-
0145Literatur nur unbefangen, frei von Schulpietät und mit ein-
0146gestandenen modernen Ansprüchen aufmerksam durchzulesen, um mit
0147Schrecken wahrzunehmen, wie wenig davon Herz und Sinne
0148unserer Zeitgenossen noch zu bewegen geeignet ist. Von allen
0149größeren Musikgattungen veraltet am schnellsten die Oper,
0150weil sie die allergemischteste und vom Zeitgeschmacke abhängigste
0151ist. Wie bestimmend wirkt der Einfluß des Textbuches, des
0152ganzen scenischen Zuschnitts, der Formen, der Gesangvirtuo-
0153sität, der Instrumentirung! Vor Kurzem hat ein namhafter
0154Schriftsteller allen Ernstes die Wiederaufführung Händel’scher
0155Opern für möglich und heilsam erklärt. Welch ein
0156Traum! Hinter Gluck zurückzugehen, ist für unsere Zeit
0157unmöglich. Von Gluck darf man wol außer den drei hier
0158einstudirten Opern noch „Alceste“ und „Orfeo“ wün-
0159schen, von Mozart den „Idomeneo“, der trotz sehr ver-
0160alteter Einzelheiten in seiner Totalität frischer und eigenthüm-
0161licher wirkt als „Titus“. Allerdings gehört für jede Theater-
0162Direction eine Art edler Resignation dazu, an solche, nur
0163seltene Reprisen versprechende Opern Mühe und Kosten zu
0164wenden. Aber ohne ein Stück Idealismus ist nun einmal der
0165Kunst nicht zu dienen. Eine lebendigere Wirkung verspricht
0166hingegen Cherubini’sMedea“, welche vor zwei Jahren
0167in London und kürzlich in mehreren deutschen Städten (mit
0168Recitativen von Franz Lachner statt der Prosa) aufgeführt
0169wurde und vollständig durchgriff. Noch näher steht uns
0170Spontini’sVestalin“ — eine Musik, in welcher glühende
0171Leidenschaft und vornehme Haltung sich wunderbar vermälen.
0172Wie die „Vestalin“ gewissermaßen die Mutter der „Norma“,
0173so ist „Ferdinand Cortez“ der musikalische Vater der „Afri-
0174kanerin“; beide Opern, „Vestalin“ und „Cortez“, gehören in
0175das Repertoire jeder „großen Oper“ und noch keineswegs in
0176den Staub des Archivs. Von den deutschen Nachfolgern
0177Mozart’s (Zumsteg, Weigel, Winter, Gyrowetz etc.) kann im
0178Ernste nicht mehr die Rede sein; allenfalls könnte eine dem
0179heiteren Singspiel gewidmete kleine Bühne ein oder das
0180andere Stück von Dittersdorf brauchen. Die deutsche
0181Oper hat von der „Zauberflöte“ bis zum „Freischütz“ (also
0182von 1791 bis 1821) ein einziges Werk von echtem und blei-
0183bendem Werthe hervorgebracht: Beethoven’s „Fidelio“.
0184Dafür erschlossen sich in der folgenden Periode die reizendsten
0185Blüthen deutscher Romantik, deren sträfliche Vernachlässigung
0186auch unserem Hofoperntheater zum Vorwurf gemacht werden
0187kann. Neben Weber’s Opern sollten Spohr’sJessonda“
0188und „Faust“, Marschner’sHeiling“ und „Templer“, ja
0189auch Kreutzer’sNachtlager in Granada“ in keinem deut-
0190schen Opern-Repertoire fehlen.


0191In der neueren deutschen Opern-Literatur gibt es merk-
0192würdigerweise noch eine Novität zu heben, die so gut wie unbe-
0193kannte einzige Oper eines unserer bedeutendsten und gefeiert-
0194sten Tondichter: „Genovefa“ von Robert Schumann.
0195Es gehört einiger Muth dazu, für die Aufführung dieses
0196Werkes zu plaidiren, insbesondere wenn man selbst sich keiner
0197besonderen Begeisterung dafür rühmen kann. „Genovefa“ ist
0198die Schöpfung eines theatralisch unpraktischen, effectunkundigen
0199und effectverschmähenden musikalischen Denkers, einer hochbe-
0200gabten, edlen, exclusiven Natur, die ihre eigentliche Heimat
0201allerdings fern vom Theater hatte. Das Textbuch („nach Tieck 
0202und Hebbel“) leidet an großen Mängeln, die Musik, im
0203Einzelnen von außerordentlicher Schönheit, ist als Ganzes
0204nicht freizusprechen von drückender Schwüle und Monotonie.
0205Einen allgemein durchgreifenden Erfolg hat „Genovefa“ kaum
0206irgendwo zu hoffen, und deßhalb würden wir Anstand nehmen,
0207eine Privat-Direction zu diesem gefährlichen Experimente auf-
0208zumuntern. Ein unabhängiges, reich dotirtes Hofoperntheater
0209hingegen, welches auf ein Werk wie die „Meister-
0210singer“ so enorme Anstrengungen und Kosten verwendet,
0211könnte und sollte, so glaube ich, auch für die ein-
0212zige Oper Schumann’s einmal ein Uebriges thun. „Ge-
0213novefa“ wurde zuerst 1850 (unter der Leitung des Componisten) in
0214Leipzig aufgeführt, später (unter Liszt) in Weimar und neue-
0215stens in Karlsruhe. Nach längerer oder kürzerer Zeit ver-
0216schwand sie wieder, ohne Repertoirestück zu werden, nicht aber
0217ohne dem gebildeten Theile der Hörerschaft tiefe und bedeu-
0218tende Anregung gewährt zu haben. Heute, wo Schumann’s
0219Musik in jedem Hause gekannt und geliebt ist, ja sein bloßer
0220Name mit dem Gewichte einer unbestrittenen Autorität in die
0221Wagschale fällt, heute stehen die Chancen für die Aufnahme
0222seiner „Genovefa“ unstreitig günstiger als vor zwanzig Jah-
0223ren. Dies hat sich schon bei der neuesten Aufführung in Karls-
0224ruhe bewährt, wo Capellmeister Lewy im Einvernehmen mit
0225Clara Schumann mehrere zweckmäßige Kürzungen und
0226Aenderungen vorgenommen und einige treffliche scenische Hilfs-
0227mittel angewendet hat. Man wird nicht sagen können, daß ich
0228mit blinder Zärtlichkeit gerade von diesem Werke eines Künst-
0229lers spreche, welcher mir von allen neueren Componisten am
0230meisten ans Herz gewachsen ist. Im Gegentheile, ich hege
0231schwere Bedenken gegen den Styl dieser Oper und geringe
0232Hoffnungen für ihren Erfolg. Trotz alledem würde ich unsere
0233Hofopern-Direction zu dem Entschlusse einer Aufführung der
0234Genovefa“ aufrichtig beglückwünschen.


0235Diese Aufführung wäre ein auszeichnendes Compliment
0236für das Wiener Publicum, ein unschätzbares Erlebniß für den
0237Musiker, eine schuldige Ehrenbezeigung vor dem Namen und
0238dem Genius Robert Schumann’s.