Neue Freie Presse
Morgenblatt
Nr. 2091. Wien, Samstag, den 25. Juni 1870
[1]Hofoperntheater.
(„Tannhäuser.“ — Richard Wagner über das Dirigiren. — Beethoven-Fest.)
0003Ed. H. Wagner’s „Tannhäuser“ hielt seinen Einzug
0004ins neue Opernhaus unter lebhafter Zustimmung des Publi-
0005kums. Die Vorstellung war ungemein sorgfältig vorbereitet
0006und klappte vollständig. Die Ausstattung entfaltete großen
0007Luxus, bei allerdings zweifelhaftem Geschmack; Buntes und
0008Grelles drängte sich allzusehr vor in Costümen und Decora-
0009tionen. Die Malereien des Herrn Jachimowicz vermag das
0010mildeste Urtheil nicht mehr in Schutz zu nehmen; nach dem
0011Schlechten in „Norma“, „Maskenball“, „Troubadour“ gibt
0012uns dieser Decorations-Maler im „Tannhäuser“ sein Schlech-
0013testes. Was die Besetzung betrifft, so war Herr Labatt
0014neu in der Titelrolle. Es kam ihm zu statten, daß man
0015seiner Leistung mit geringen Erwartungen entgegenkam. Herr
0016Labatt hat sie ohne Frage übertroffen. Daß er in den ruhi-
0017geren, heroischen Stellen entsprechen werde, war zu ver-
0018muthen, hingegen fürchtete man für die leidenschaftlich
0019bewegten, dabei überwiegend declamatorischen Scenen
0020im Sängerkrieg und vollends im dritten Acte. Gerade hier
0021bewies Herr Labatt rühmlichsten Fleiß und augenfällige Fort-
0022schritte in Spiel und Declamation. Daß die Rolle noch weit
0023feinere Schattirungen und tiefere psychologische Motivirung
0024wünschen läßt, mehr Geist und weniger Materie, ist
0025freilich nicht zu leugnen; trotzdem halten wir Herrn
0026Labatt für die beste Wahl, welche im Hofopern-
0027theater für den Tannhäuser getroffen werden konnte.
0028Die Elisabeth der Frau Wilt ist bekannt als eine durch Kraft
0029und Schönheit des Tones, wie durch musikalisch tüchtigen Vor-
0030trag wirksame Leistung. Daß sie nicht dramatisch ist, fühlt
0031der Zuschauer sofort. Der fernerstehende Leser kann es aus
0032dem einzigen Beispiele entnehmen, daß Frau Wilt das ganze
0033Adagio im zweiten Finale: „Ich fleh’ für ihn“, dicht vor
0034den Fußlampen stehend, an die Zuhörer adressirt (die ja dem
0035Tannhäuser gar nichts zu Leide thun wollen), ohne auch nur
0036einmal einen Blick auf die „anzuflehenden“ Widersacher zu
0037werfen. Die kleine, wichtige Partie der Venus war in den
0038kräftigen, nur allzu gewaltsam zugreifenden Händen Frau Ma-
0039terna’s. Dieselbe brachte viel Hingebung und eine vortheil-
0040hafte Erscheinung für die Rolle mit, aber eine ganz unge-
0041nügende Kunst der Declamation. Herr Schmid, allezeit
0042ein preiswürdiger „Landgraf“, war diesmal auch im Vollbe-
0043sitze seiner schönen Stimme und fand in den ihn umgebenden
0044Jagdgenossen (Pirk, Kraus, Brandstöttner, Campe)
0045treffliche Unterstützung. Als die vorzüglichste Leistung dieses
0046Abends darf man Bignio’s edlen und seelenvollen Wolfram
0047v. Eschenbach rühmen. An dem balletmäßigen Costüme und
0048der goldgelben Perrücke dieses schwermüthigen Lyrikers ist Herr
0049v. Bignio hoffentlich unschuldig; desgleichen auch die übrigen
0050Minnesänger schwerlich selbst verlangt haben, wie polnische
0051Juden auszusehen. Das gehört wol in die Rubrik: „Neue-
0052rungen um jeden Preis“, genau wie das unglücklich abgeänderte
0053Arrangement des Festzuges im zweiten Acte. Während sich
0054nämlich im alten Opernhause die Wartburggäste aus dem
0055Hintergrunde der Bühne nach vorne bewegten, daher dem Zu-
0056schauer vollständig en face sichtbar wurden, ziehen sie jetzt
0057aus einer Seitencoulisse von links nach rechts über die Bühne.
0058Wie die Profilstellung den einzelnen Figuren, so schadet die
0059schiefe Schwenkung dem Total-Eindruck des ganzen Zuges.
0060Ein ganz neues Schaustück, das die Zugkraft des „Tann-
0061häuser“ gewaltig erhöhen dürfte, sind sechs stattliche Schimmel
0062und zwei schlanke Doggen, welche in der Schlußscene des
0063ersten Actes sich leibhaftig auf der Bühne tummeln. Aller-
0064dings duftet diese neue Errungenschaft etwas nach dem Circus,
0065aber sie macht die Scene lebendig, außerordentlich lebendig.
0066Die Ouvertüre, dieses glänzende Virtuosenstück unseres
0067berühmten Orchesters, erregte einen Sturm von Beifall, wel-
0068cher sich erst legte, als Capellmeister Dessoff sich ein halb-
0069dutzendmal umgedreht und verbeugt hatte. In der That diri-
0070girte Dessoff die ganze Oper vortrefflich und hätte Anspruch
0071auf den besonderen Dank des Componisten, wenn nicht eben
0072Wagner und Dankbarkeit zwei sich ausschließende Begriffe
0073wären. In seiner neuesten Bannbulle „Ueber das Diri-
0074giren“ hat Richard Wagner weder Dessoff noch Herbeck
0075ausgenommen von dem Fluche, den er gegen die Gesammtheit
0076unserer deutschen Capellmeister schleudert. Diese Flugschrift:
0077„Ueber das Dirigiren“ ist in den Journalen auffallend wenig
0078besprochen worden und bietet doch des Merkwürdigen nicht
0079wenig. Sie bildet eine Art Seitenstück zu Wagner’s berühm-
0080ter Juden-Broschüre. Während dort das Thema lautete: Was
0081in der Kunst schlecht ist, kommt von den Juden her, herrscht
0082hier der Grundgedanke, daß in ganz Deutschland kein Mensch
0083außer Wagner eine Ahnung vom Dirigiren habe. Ferdinand
0084Hiller’s feine, anmuthige Feder wird förmlich zum
0085Schlachtschwert in der Kölnischen Zeitung bei der Analyse
0086dieser neuen Broschüre. Er nennt sie „ein Pamphlet,
0087strotzend von Unrichtigkeiten und Ungerechtigkeiten“, und
0088fügt treffend bei: „Dumme Jungens, welchen Jeder imponirt,
0089der mit einigem Geist viel Impertinenz verbindet, werden es
0090anstaunen. Gescheitere werden sagen, daß auch einiges Wahre
0091darin enthalten sei. Aber wenn man Alles schlechtmacht,
0092wird man auf dieser unvollkommenen Erde immer zuweilen
0093Recht haben.“ Wirklich ist es ohne Beispiel, daß ein produ-
0094cirender Künstler öffentlich so wegwerfend und hochmüthig
0095über seine Collegen urtheilt, wie hier Wagner über die deut-
0096schen Capellmeister und Componisten. „Ueber das Dirigiren
0097unserer Capellmeister in der Oper,“ schreibt Wagner, „ist für
0098mich nicht zu streiten. Vom höheren Standpunkte einer wirk-
0099lich künstlerischen Leistung aus ist dieses Dirigiren gar nicht in
0100Betracht zu nehmen. Und hierüber ein Wort zu sprechen,
0101kommt mir, und zwar mir allein unter allen jetzt leben-
0102den Deutschen zu.“ „Ich kenne nicht Einen,“ fährt er später
0103fort, „dem ich mit Sicherheit ein einziges Tempo meiner
0104Opern anvertrauen zu dürfen glaubte!“ Mehrere der hervor-
0105ragendsten Dirigenten werden in höhnischem Tone abgethan,
0106andere, z. B. Herbeck (der den „Meistersingern“ beinahe
0107seine Gesundheit opferte und jetzt auf seiner so und sovielten
0108Wagner-Reise begriffen ist), mit keiner Sylbe erwähnt. Dank
0109vom Hause Wagner!
0110Der Gedankengang der Wagner’schen Broschüre ist un-
0111gefähr folgender: Das Dirigiren blieb bisher „für die Aus[2]-
0112führung der Routine, für die Beurtheilung der Kenntnißlosig-
0113keit überlassen“. Die früheren Capellmeister waren „sicher,
0114streng und namentlich grob, aber angesehen“. Allein sie wa-
0115ren für die Bildung des Orchesters „der complicirteren
0116neueren Orchestermusik ungeeignet“. „Die neueren Dirigenten
0117gelangten zu ihren „guten Posten“ (?) meistens durch ein ein-
0118faches Aufwärtsrücken, schubweise, zuweilen auch durch die
0119Protection der Kammerfrau einer Prinzessin u. s. w.“
0120„Gänzlich verdienstlos“, konnten sie sich nur halten durch „un-
0121würdige Servilität gegen ihren kenntnißlosen Chef und ihre
0122trägen Musiker, schwangen sich aber gerade dadurch zu allge-
0123meiner Beliebtheit auf“. Endlich haben wir „unsere heutigen
0124Musik-Bankiers, wie sie aus der Schule Mendelssohn’s
0125hervorgegangen oder durch dessen Protection der Welt empfoh-
0126len wurden“. Diese haben für den „eleganten Vortrag“
0127Einiges gethan, entbehren aber der Energie. „Denn leider ist
0128hier Alles, Ruf, Talent, Bildung, ja Glaube, Liebe und Hoff-
0129nung künstlich.“ Sie sind die „Schattenbilder“ von Meyer-
0130beer und Mendelssohn, welche Letztgenannten auch ihre
0131Kraft verließ, „weil sie eben keine Kraft hatten“.
0132„Das Schleppen,“ meint Wagner weiter, „sei nicht die
0133Eigenschaft des eleganten Dirigenten, wol aber das
0134Herunter- oder Vorüberjagen.“ Das soll wieder einmal
0135von dem Einflusse Mendelssohn’s herkommen, welcher
0136Herrn Wagner bekanntlich ein Dorn im Auge ist. Wir
0137wundern uns deßhalb gar nicht über seine Ausfälle auf
0138Mendelssohn’s perfid-zartsinnigen Ehrgeiz“ und dergleichen,
0139aber staunen darf man füglich über folgende Mendelssohn-
0140Geschichte: „Persönlich äußerte er mir einigemale in Betreff
0141des Dirigirens,“ erzählt Wagner, „daß das zu langsame
0142Tempo am meisten schade und er dagegen immer empfehle,
0143etwas lieber zu schnell zu nehmen; ein wahrhaft guter Vor-
0144trag sei doch zu jeder Zeit etwas Seltenes; man könne aber
0145darüber täuschen, wenn man nur mache, daß nicht viel da-
0146von bemerkt werde, und dies geschehe am besten dadurch, daß
0147man sich nicht lange dabei aufhalte, sondern rasch darüber
0148hinwegginge.“
0149Wenn Mendelssohn, diese personificirte künstlerische
0150Sorgfalt und Gewissenhaftigkeit, wirklich so gesprochen hat,
0151so that er es offenbar im Scherze, mit lächelnder Miene.
0152Vielleicht war er auch etwas ungeduldig und maliciös gemacht
0153durch den unermüdlich belehrenden Redefluß Wagner’s, welcher
0154dann Mendelssohn gegenüber „in einen wahren Abgrund
0155von Oberflächlichkeit, in eine vollständige Leere zu blicken glaubte“.
0156Trotz aller „Ignoranz und Geistlosigkeit der Musiker,
0157welchen das Schicksal der deutschen Musikzustände, die gänz-
0158liche Achtlosigkeit der deutschen Kunstbehörden nun einmal die
0159Führung der höheren deutschen Musikgeschäfte in die Hände
0160gespielt hat und die sich nun in Amt und Würden sicher
0161fühlen“, gibt es darunter jetzt „wirklich besungene Märtyrer
0162der reinen classischen Musik“. Diesen will Wagner nun ein-
0163mal etwas näher auf die Finger sehen. Er findet bei den
0164Einen „mit Unbeholfenheit verbundene Scheelsucht“, bei An-
0165deren „ehrliche Bornirtheit, die nur aus Aerger unehrlich
0166wird“. Im neueren Lager „ist Vieles zu verbergen, Vieles
0167nicht merken zu lassen“. Man findet in demselben „Gebildet-
0168heit“, aber ja „keine Bildung“, mithin den Mangel der
0169„wahren Geistesfreiheit“, welcher sogar Mendelssohn, „für
0170den ernsten Betrachter, außerhalb unseres deutschen Kunst-
0171wesens erhielt“. (!)
0172Es klingt fast komisch, wenn Wagner nach diesem Ge-
0173metzel angstvoll ausruft: „Wo nun bleibt aber unter der
0174Macht dieser musikalischen Eunuchen unsere große, unsäglich
0175herrliche deutsche Musik?“ Die Antwort lautet (herausgeschält
0176aus allen bombastischen Hülsen) ganz einfach: „Die Dirigen-
0177ten können so etwas nicht umbringen.“ Bei den Aufführungen
0178seiner „Meistersinger“ kam ihm dieselbe „sonderbar tröst-
0179liche Erkenntniß zu Hilfe, daß trotz des unverständigsten Be-
0180fassens mit diesem Werke die wirkende Kraft desselben
0181doch nicht zu brechen ist“.
0182Womit begründet aber Wagner den Ausspruch, daß alle
0183unsere Dirigenten nicht „wirkliche Musiker“ sind, „gar kein
0184musikalisches Gefühl zeigen“? Worauf stützt sich denn, allen
0185diesen Irrenden gegenüber, gerade seine Unfehlbarkeit in der
0186Auffassung und dem Tempo einer Beethoven’schen oder Mo-
0187zart’schen Symphonie? In Robert Schumann’s „Gesam-
0188melten Schriften“ (IV. p. 292) findet sich eine Tagebuchnotiz
0189aus Dresden, welche wörtlich lautet: „Fidelio“ von Beethoven.
0190Schlechte Aufführung und unbegreifliche Temponahme
0191von Richard Wagner.“ Wenn nun ein Mann wie Schu-
0192mann, der doch auch etwas von Musik verstand — und von
0193Beethoven’scher insbesondere — Wagner’s Tempi im „Fidelio“
0194einfach „unbegreiflich“ nannte, so wird es wol erlaubt sein,
0195auch an Wagner’s Unfehlbarkeit in diesem Punkte zu zweifeln.
0196Ueber die Tempi in Beethoven’s Symphonien bringt Wagner
0197einige richtige und feine Bemerkungen, welche aber jedesmal,
0198wie das rauschende „Tutti“ nach einem Concertsolo, eine stür-
0199mische Eruption des Wagner’schen Selbstbewußtseins folgt. Er
0200erklärt, daß er „nach der Art, wie wir ihn durch öffentliche
0201Aufführungen bisher kennen gelernt haben, den eigentlichen
0202Beethoven bei uns noch für eine reine Chimäre halte“.
0203„Vielleicht,“ ruft Wagner aus, „bin ich der einzige
0204Dirigent, welcher es sich getraute, das Adagio des dritten
0205Satzes der neunten Symphonie seinem reinen Charakter ge-
0206mäß auch für das Zeitmaß aufzufassen.“
0207Diese That der musikalischen Welt wirklich vorzuführen,
0208bot sich dem „einzigen Dirigenten“ jetzt eine treffliche Gele-
0209genheit; er wurde von dem Beethoven-Comité der Gesellschaft
0210der Musikfreunde ersucht, die neunte Symphonie bei dem
0211Jubiläums-Concerte in Wien zu dirigiren. In Folge einer
0212Zeitungsnotiz, daß er angeblich diese Einladung „unter dank-
0213barer Anerkennung des ehrenden Auftrages“ abgelehnt habe,
0214veröffentlicht nun Herr Wagner eine Erklärung, worin er
0215„diesen wunderlichen Euphemismus für sein Benehmen“ dahin
0216berichtigt, daß er auf jene Aufforderung des Beethoven-
0217Comités „gar nicht geantwortet habe“. Er war also mit
0218Absicht unartig und brüstet sich öffentlich mit dieser Unart.
0219Wie wir hören, hat Herr Wagner der Direction der „Musik-
0220freunde“ seine Ablehnung durch einen Freund mündlich ent-
0221bieten lassen und damit motivirt, daß ihm zwei oder drei
0222von den Comité-Mitgliedern nicht angenehm seien. Zwei [3]
0223oder drei Mitglieder! Und wenn es zehn oder zwanzig
0224wären — was haben derlei Personalien mit der großen
0225und schönen Sache zu thun, um die es sich hier
0226handelt? Wien, die Stadt, in welcher Beethoven lebte,
0227schuf und starb, schickt sich an, die Säcularfeier von Beetho-
0228ven’s Geburt festlich zu begehen; die Gesellschaft der öster-
0229reichischen Musikfreunde, deren Ehrenmitglied Beethoven ge-
0230wesen und die wol selbst als ein Ehrenmitglied in der großen
0231idealen Genossenschaft der Kunst gekannt und anerkannt ist,
0232bildet das Comité zur Vorbereitung dieser Feier. Welcher
0233Künstler, dessen Enthusiasmus für Beethoven und „unsere
0234unsäglich herrliche deutsche Musik“ mehr als heuchlerisches
0235Phrasengeklingel ist, wird die ihm zugedachte Ehre, dieses zu
0236dirigiren, ohne triftigen Grund ablehnen? Welcher halbwegs
0237wohlerzogene Mensch wird vollends diese Einladung nicht ein-
0238mal einer Antwort würdigen? In solchem Benehmen ist Herr
0239Wagner einzig, das muß man ihm zugestehen. Das Beleidi-
0240gende dieses Benehmens ist nicht zu bemänteln, nicht zu ent-
0241schuldigen. Und dennoch, dennoch können wir uns einer Art
0242Schadenfreude nicht erwehren, daß die Direction der Musikfreunde
0243sich bei Herrn Wagner einen Korb geholt. Wer hieß sie, den
0244„Rheingold“-Componisten zum Leiter des Beethoven-Festes vor-
0245schlagen? Was hat Herr Wagner mit Beethoven zu schaffen?
0246Wann hat er sich jemals begeistert oder bemüht für andere
0247Compositionen, als für seine eigenen? Ein wahres Interesse
0248fühlt Herr Wagner nur für sein liebes Ich. Er hat sich
0249ebensowenig jemals angestrengt, einem jungen Talente die Wege
0250zu ebnen, als die Verbreitung unserer Classiker zu fördern.
0251Hierin ist Herr Wagner das abschreckende Gegentheil seines
0252Freundes und Protectors Liszt. Uns hat die Ablehnung
0253nicht im mindesten überrascht. Man kann darüber streiten,
0254ob Herr Wagner das größte Musikgenie ist — aber daß
0255er, als Künstler wie als Mensch, der größte lebende Egoist,
0256darüber kann unmöglich mehr eine Meinungsverschie-
0257denheit herrschen. Die von der Majorität des Fest-
0258comités Herrn Wagner dargebrachte Huldigung hat je-
0259doch bereits ihre bitteren Früchte getragen. Franz
0260Lachner, der zur Theilnahme an der Direction eingeladen
0261war, hat abgelehnt — sehr begreiflich, denn welcher in Ehren
0262ergraute Capellmeister wird sich mit dem Verfasser des
0263Pamphlets: „Vom Dirigiren“ in die Arbeit theilen wollen?
0264Joachim, der große, liebenswürdige Künstler, hat abgelehnt,
0265mit unverblümter Hinweisung auf Wagner, dessen Oberlei-
0266tung ihm mit dem Charakter einer echten Beethoven-Feier
0267nicht vereinbar schien. Dies wenigstens ist der Sinn von
0268Joachim’s Schreiben, dessen Wortlaut uns nicht zur Verfügung
0269steht. Wohl vertraut mit dem Gebahren der Zukunftsmusiker,
0270mochte Joachim fürchten, daß bei der maßlosen Spectakel-
0271sucht der Wagnerianer das Wiener Beethoven-Jubiläum un-
0272versehens in eine Wagner-Feier umschlagen könnte. Ist doch
0273das jüngste Beethoven-Fest in Weimar durch die Mitwirkung
0274Liszt’s ebenfalls zur Liszt-Feier verdreht worden, so unge-
0275nirt, daß bei dem Festbankette die Büste Liszt’s unter
0276Blumen aufgestellt war.
0277Ein Verlust für das Wiener Fest ist Wagner’s Weg-
0278bleiben in keiner Weise. Beethoven’s Schöpfungen werden
0279mindestens ebenso schön klingen unter der Direction von Her-
0280beck, Dessoff und Esser. Letzteren, jetzt fern von Wien
0281weilenden Meister hätte das Comité, unseres Erachtens, zur
0282Mitdirection einladen sollen, ehe es an Herrn Wagner auch
0283nur dachte. In seiner neuesten Broschüre spottet der Com-
0284ponist der „Meistersinger“ über „die ganze Musik-Bürger-
0285schaft Deutschlands“, welche sich ein großes Musikfest, z. B.
0286das Beethoven-Jubiläum, gar nicht vorstellen könne, ohne daß
0287„Herr Hiller, Herr Rietz oder Herr Lachner den Tact
0288dazu schlage“. Nun, die Wiener Direction der „Musikfreunde“
0289wollte Herrn Wagner durch die schmeichelhafteste That wider-
0290legen und trug ihm schriftlich die Direction des Beethoven-
0291Festes an. Eine gedruckte Grobheit war die Antwort. Es ist
0292ein wahres Glück, daß die Majorität des Festcomités nicht
0293einige Deputirte persönlich mit dem Tactirstab nach Luzern
0294absendete, der musikalische Nebukadnezar hätte sie wahrschein-
0295lich festnehmen und ohneweiters köpfen lassen.