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Neue Freie Presse
Morgenblatt
Nr. 2182. Wien, Samstag, den 24. September 1870

[1]

Musik.

(Das Beethoven-Fest. — Theater an der Wien. — Hofoperntheater.)


0003Ed. H. Das Comité für die Beethoven-Feier in Wien 
0004hat soeben zwei bemerkenswerthe Abänderungen seines ursprüng-
0005lichen Festprogrammes bekanntgegeben. Es hat fürs erste be-
0006schlossen, daß das Jubiläum vom 20. October auf den 16. De-
0007cember, als den Geburtstag Beethoven’s, verlegt und daß
0008dabei der projectirte große Fackelzug zu unterbleiben habe.
0009Diesen Abänderungen zollen wir unbedingten Beifall, denn sie
0010geben dem Festprogramme wenigstens nachträglich jenen Cha-
0011rakter, welchen es unseres Erachtens von allem Anfang hätte
0012haben sollen. Der Respect vor dem richtigen Datum ist die
0013erste Pflicht und Signatur einer wahrhaften Erinnerungsfeier.
0014Für Wien mindestens schickt es sich nicht, an einem belie-
0015bigen Tage eines beliebigen Monats Musik und dabei sich
0016weiszumachen, man feiere den Tag, der uns vor hundert
0017Jahren Beethoven schenkte. Wenn kleinere Städte, wie Bonn,
0018Aachen, Weimar, dieses Jubiläum schon im Sommer begingen,
0019so haben sie dafür die triftigste Entschuldigung in der Unmög-
0020lichkeit, zur Winterszeit eine hinreichend große Anzahl aus-
0021übender Musiker herbeiziehen zu können. Die großen Instru-
0022mental- und Chormassen, die auserlesenen Virtuosen und Ge-
0023sangskünstler, deren ein solches Jubiläums-Concert bedarf,
0024stehen ihnen nicht zur Verfügung; kommen doch die gewöhn-
0025lichen rheinischen Musikfeste nur durch die Mitwirkung des
0026ganzen Rheinlandes zu Stande. Wäre man aber selbst der
0027Künstler gewiß, so würden doch viele Zuhörer fehlen bei einem
0028December-Concert am Rhein. Will eine Stadt wie Bonn bei
0029solchem Anlaß auf die Theilnahme von ganz Deutschland 
0030zählen, so muß sie neben den Kunstproductionen den Zauber
0031ihrer Landschaft, Reiselust und Ferienstimmung ins Treffen
0032führen. Wenn die Rebenhügel zu grünen beginnen, die laue 
0033Sommernacht zu Gartenfesten und Rheinfahrten lockt, dann
0034entfalten diese Städte ihren eigenthümlichen Reiz, die Bewohner
0035ihre sprichwörtliche Fröhlichkeit und Gastfreundschaft. Wien 
0036hingegen besitzt eine mehr als hinreichende Armee von Spie-
0037lern und Sängern, um zur Ehre Beethoven’s auf eigene Faust
0038zu kämpfen und zu siegen; sein musikalisches Publicum ist
0039ferner stark genug, um das Ausbleiben von Fremden ver-
0040schmerzen zu lassen. Wo aber diese beiden Bedingungen ein-
0041treffen, da gibt es gar keine Entschuldigung für das willkür-
0042liche Escomptiren von Beethoven’s Geburtstag. Und gerade
0043der Umstand, daß bisher keine Stadt ein großes Beethoven-
0044Fest auf den 16. December angesetzt hat, verpflichtet Wien 
0045doppelt, den wirklichen und nicht einen fingirten Geburtstag
0046seines größten Bürgers zu feiern.


0047Mit der Verlegung des Beethoven-Festes auf den Decem-
0048ber, wohin es gehört, fiel natürlich auch der beabsichtigte
0049Monstre-Fackelzug durch die Straßen von Wien. Dank
0050der braven Decemberkälte, daß sie einen Beschluß beseitigt
0051hat, welchen zu beseitigen wol Sache der richtigen Einsicht
0052gewesen wäre. Wir können nämlich den Namen Beethoven 
0053nicht in Einklang bringen mit einer volksfestartigen, durch
0054Fackeln, Processionen und Reden aufgeputzten Feier. Dem
0055Beethoven-Comité schwebten offenbar die unvergeßlichen Tage
0056der Schiller-Feier (November 1859) vor, wo endloser Jubel
0057die Stadt durchdrang, die Begeisterung der Führer im ganzen
0058Volke widerhallte und Männer jedes Alters, jedes Standes
0059sich dazu drängten, den unabsehbaren Fackelzug zu Ehren
0060Schiller’s zu vergrößern. Man beabsichtigte ohne Zweifel das
0061Beethoven-Fest zu einer zweiten Auflage jenes Schiller-Jubi-
0062läums zu machen. Es dünkt uns aber ein großer Irrthum,
0063für Beethoven denselben tausendstimmigen Anklang im Volke
0064vorauszusetzen, und ein Fehler, auf diese Voraussetzung hin
0065eine Huldigung zu organisiren, welche ohne jene begeisterte
0066allgemeine Theilnahme keine mehr ist. Als Gegenstand einer
0067solchen Nationalfeier hat Schiller in dem ganzen Gebiete der
0068Künste keinen Rivalen. Kein Tonsetzer vermag die unermeß-
0069liche und dabei edle Popularität eines Dichters zu erreichen,
0070der wie Schiller vom ganzen Volke als Priester der Freiheit
0071und Aufklärung, als Lehrer der Cultur und Sittlichkeit ver-
0072ehrt wird. In diesem Sinne kann der größte Tondichter
0073nicht Priester und Lehrer seines Volkes sein, da er, auf den
0074Ton beschränkt, Gedanken und Ueberzeugungen nicht auszu-
0075sprechen vermag.


0076Durch Schiller ist die ganze Bildung unserer Nation
0077hindurchgegangen und nimmt bei jedem Einzelnen diesen Weg
0078noch immer; an seine Worte knüpft das Volk seine höchsten
0079sittlichen Ideen. Kein Städtchen gibt es, in welchem man
0080nicht Schiller’s Dramen spielte, keine Dachkammer, die nicht
0081einen Band Schiller beherbergt, kein deutsches Schulkind,
0082das nicht die „Glocke“ oder den „Taucher“ gelernt hätte.
0083Eine solche Volksthümlichkeit besitzt Beethoven nicht entfernt
0084und wird sie nie besitzen. Auf hundert Studenten, auf tau-
0085send Handwerker, welche ihren Schiller kennen und verehren,
0086kommt vielleicht Einer, der eine Beethoven’sche Symphonie
0087gehört hat. Gegen den Schiller-Cultus gehalten, ist jener
0088Beethoven’s ein exclusiver, aristokratischer. Eine sehr große
0089und immer noch anwachsende Hörerschaft schaart sich begeistert
0090um Beethoven, allein sie ist nicht das Volk, sondern eine
0091Gemeinde — eine musikalisch geschulte oder doch vorgebildete
0092Gemeinde. Ein Tondichter, welcher, fern von den populären
0093Weisen des Liedes und der Tanzmusik, in den höchsten, com-
0094plicirtesten Kunstformen schafft, ist eigentlich gar nicht dazu
0095gemacht, volksthümlich zu werden. Die verhältnißmäßig größte
0096Popularität erringt der Tondichter durch die Oper, weil er
0097da, im unmittelbarsten Contact mit einem großen gemischten
0098Publicum, nicht blos zum Ohre, sondern zu allen Sin-
0099nen desselben spricht. Beethoven’s einzige Oper „Fidelio“
0100hat niemals auf die Massen gewirkt, immer nur auf ein exclu-
0101sives musikalisches Publicum. Mozart ist der ungleich volks-
0102thümlichere Componist, durch die „Zauberflöte“ und „Don
0103Juan“ in Fleisch und Blut der Nation übergegangen, und
0104trotzdem, wer erinnert sich nicht, wie auffallend das Mozart-[2]
0105Fest in Salzburg (1856) mit seinem Fackelzug um die Statue,
0106der volksthümlichen Resonanz, des Echos in der Bevölkerung
0107entbehrte! Selbst ein Jubiläum Weber’s würde im eigent-
0108lichen Volk von Deutschland auf einen allgemeineren, enthu-
0109siastischeren Anklang zählen dürfen, denn sein „Freischütz“ hat
0110Herz und Sinn der Nation mit einem Zauber getroffen, wie
0111keine Beethoven’sche Composition. Vom König bis zum gemei-
0112nen Soldaten herab sang Alles die Melodien aus dem „Frei-
0113schütz“, die Neger in Brasilien, die Holzknechte am Ohio sin-
0114gen sie. Wer hat einen Mann aus dem Volke Beethoven’sche
0115Melodien singen gehört? Die begeisterte, verständnißfrohe
0116Stimmung, welche beim Schiller-Feste die ganze Bevölkerung
0117durchdrang, läßt sich nicht willkürlich anordnen, nicht auf einen
0118anderen, sei es noch so großen Künstler übertragen. Wollte
0119man Schiller und Beethoven lediglich als Meister in ihrer
0120Kunst gegen einander wägen, Beethoven würde wahrlich nicht als
0121der Leichtere befunden. Aber die künstlerische Vollendung
0122Schiller’s ist es nicht allein, was sein Jubiläum zu einem
0123Nationalfeste ohnegleichen gestaltete; die nationale und po-
0124litische Gewalt seines Namens mußte hinzutreten. In Oester-
0125reich namentlich war an jenem Feste der große Dichter zugleich
0126unser politischer Fürsprecher. Durch ihn und an ihn wurden
0127unsere polizeilich überwachten politischen Wünsche laut aus-
0128gesprochen.


0129Wie viel stiller, aristokratischer, fast unberührt von der
0130Theilnahme des Volkes verlief nicht Goethe’s Säcularfeier
0131(1849) in Wien, ja in ganz Deutschland! Und vollends
0132Beethoven, der tiefsinnige, allem Profanen abgewendete,
0133große Magier! Kann man seine geistige Nachkommenschaft,
0134kann man seine lebendige Wirkung auf die Nation jener
0135Goethe’s gleichstellen? Die Persönlichkeit Beethoven’s war
0136allerdings demokratischer als Goethe’s, aber sein Kunstgebiet,
0137die reine Instrumental-Musik auf ihrer sublimsten Höhe, ist
0138exclusiv und aristokratisch. „Faust“, „Egmont“, „Götz von
0139Berliching“ — jedes dieser Stücke ist für sich populärer in
0140Deutschland, als alle Symphonien und Quartette Beethoven’s 
0141zusammengenommen. Darum wiederholen wir: Kein Volksfest,
0142kein Monstre-Fackelzug, keine Appellation an die Massen zu
0143Ehren dieses auf einsamer Höhe wandelnden Riesengeistes!
0144Man versammle die Gemeinde Beethoven’s im Tempel, nicht
0145auf dem Forum. Man feiere seinen Genius in seiner eigenen
0146Sprache, durch seine eigenen Werke und nicht anders. Wir
0147freuen uns, daß das Wiener Comité diesen für unsere Empfin-
0148dung einzig richtigen Standpunkt durch seine neuesten Be-
0149schlüsse eingenommen hat. In der Kirche, auf der Bühne, vor
0150Allem im Concertsaal wird Beethoven’s Schaffen in seiner
0151ganzen reichen Blüthenfülle entfaltet und in möglichster Voll-
0152endung dargestellt sein; das trefflichste Orchester, die größten
0153Chormassen, die bedeutendsten Virtuosen reichen sich die Hände
0154zu dieser echten Beethoven-Feier.*)


0162Auf theatralischem Gebiete begegneten uns in den letzten
0163Tagen zwei Novitäten: eine Operette „Der schöne Rit-
0164ter Dunois
“, von Charles Lecocq, im Theater an der
0165Wien, und die erste Aufführung von Meyerbeer’s „Robert
0166im neuen Opernhause. Die Operette von Lecocq ist buchstäb-
0167lich unter aller Kritik; sie verdient keine Kritik, sondern nur
0168einen entschiedenen Protest, den wir hiemit an die Adresse der
0169Direction richten. Uns wenigstens bleibt es unerklärlich, daß
0170eine so intelligente Künstlerin, wie Marie Geistinger, ihre
0171Bühne so ganz talentlosen, künstlerisch wie sittlich gleich un-
0172anständigen Machwerken eröffnen mag. Wer sich dieses sau-
0173beren „Ritter Dunois“ annimmt und für Herrn Lecocq 
0174gleiches Recht mit Offenbach anspricht, der verräth nur,
0175daß ihm (in Bezug auf Musik) die erste Grundbedingung zum
0176Kritiker fehlt: zu entscheiden, wo Talent steckt und wo keines.


0177Mit außerordentlichem Pomp und ungetheiltem Beifalle
0178ist „Robert der Teufel“ in das neue Opernhaus eingezogen.
0179Robert“ ist eine der bestscenirten und prunkvollsten Vorstel-
0180lungen dieser Bühne. Ein luxuriöseres Bild als die Fest-
0181halle der Prinzessin beim Einzuge der Ritter wird man kaum
0182auf irgend einer anderen Bühne antreffen. Daß auch bei die-
0183ser Vorstellung die Pracht manchmal zur Ueberladung neigt,
0184ist nicht zu leugnen. Von Brioschi’s neuen Decorationen
0185ist wol das Lager im ersten Acte die schönste und künstlerisch
0186werthvollste. Sein Klosterfriedhof (mit dem Dome von Pa-
0187lermo als Hintergrund) hat schöne Einzelheiten, erreicht aber
0188nicht die poetische, einheitliche Wirkung der früheren (in den
0189meisten Operntheatern eingebürgerten) Decoration, welche als
0190Hauptmotiv den Kreuzgang des verfallenen Karthäuser-
0191klosters in Villeneuve bei Avignon benützt. Sehr effectvoll ist
0192das Arrangement der Nonnen-Auferstehung, sowie die Ver-
0193wendung des elektrischen Lichtes bei dem Solotanze der He-
0194lena. Die Aufführung, unter Herrn Dessoff’s Leitung,
0195zeichnete sich durch große Präcision aus und war in manchen
0196Punkten, z. B. dem Höllenchor im dritten Acte, musikalisch wirk-
0197sam retouchirt. Die Hauptrollen haben ihre bekannten und be-
0198währten Repräsentanten beibehalten: die Damen Wilt und
0199Rabatinsky, die Herren Müller und Schmid, welche
0200sämmtlich im Gesange Vorzügliches leisten. In dramatischer
0201Hinsicht blieben sie Alle uns Mancherlei schuldig. Die Con-
0202touren der Hauptpersonen sind freilich vom Dichter und Com-
0203ponisten so stark gezeichnet, daß ein Vergreifen der Charaktere
0204nicht möglich ist; aber die reichliche Gelegenheit, die sie dem
0205denkenden, talentvollen Schauspieler zu psychologischer Moti-
0206virung und feinerem Detail bieten, bleibt fast gänzlich
0207unbenützt. Die genannten Künstler, desgleichen Fräulein Sal-
0208vioni
und Herr Brioschi wurden durch reichlichen Bei-
0209fall und Hervorruf ausgezeichnet; ihre Leistungen werden dem
0210Robert“ gewiß für lange Zeit seine neugewonnene Zugkraft
0211sichern.

Fußnoten
  • *)Unter den mitwirkenden fremden Künstlern nennt das Pro-
    gramm bekanntlich auch Clara Schumann. Auf ausdrücklichen
    Wunsch der verehrten Künstlerin muß ich die von Herrn E. Schelle 
    in der alten „Presse“ gethane Aeußerung, Frau Schumann habe das
    Wiener Beethoven-Comité „keiner Antwort gewürdigt“, für einen Irr-
    thum erklären, welcher nur durch den wahrscheinlichen Verlust eines
    entscheidenden Briefes entstanden sein kann.