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Neue Freie Presse
Morgenblatt
Nr. 2202. Wien, Freitag, den 14. October 1870

[1]

Musik.

(„Gesellschaft der Musikfreunde.“ — Philharmonische Concerte.)

Wien, 13. October.


0004Ed. H. „Nie sollst du mich befragen, noch Wissens
0005Sorge tragen!“ so antworten die Graalsritter unserer „Gesell-
0006schaft der Musikfreunde“ seit Wochen auf jede Interpellation,
0007wann, wie und von wem die „Gesellschafts-Concerte“ dirigirt
0008sein werden. In der That wußte man noch gestern nicht,
0009weiß vielleicht auch morgen nicht, wem die Leitung dieser
0010größten Concert-Productionen Wiens anvertraut sei. Einen
0011geeigneten Ersatz für Herbeck zu finden, war gleich nach
0012dessen Austritt unstreitig die allererste Pflicht, die dringendste
0013Aufgabe der Direction. Statt dessen wurde seit April diese
0014Lebensfrage vertagt, umgangen und „beschlafen“, bis man sich
0015auf den Sand eines kläglichen Interregnums aufgefahren sah.
0016Das ganze Capitel von der Nachfolge Herbeck’s enthält so
0017wenig Rühmliches für die Direction der „Gesellschaft“, so
0018wenig Einladendes für öffentliche Besprechung, daß wir letztere
0019von Tag zu Tag verschoben. Die leeren Straßenecken aber,
0020welche sonst um Mitte October längst mit den riesigen
0021Annoncen der Gesellschafts-Concerte prunkten, reden uns
0022schließlich zu laut ins Gewissen.


0023Unter den zahlreichen Künstlern, welche man als Nach-
0024folger Herbeck’s nannte, waren die weitaus hervorragendsten
0025Brahms und Dessoff. Nachdem Letzterer seine gesicherte,
0026lohnende Stellung am Hofoperntheater hätte aufgeben und
0027dafür entschädigt werden müssen, Ersterer hingegen vollständig
0028Herr seiner Zeit ist, so blieb Brahms der einzige ernsthaft
0029in Frage kommende Candidat. Es bedarf gewiß keiner Can-
0030didaten-Rede für Brahms. Gegenwärtig das bedeutendste und
0031vornehmste Talent auf dem Gebiet der Orchester- und Kam-
0032mermusik, ist Brahms zugleich seit Jahren geübt und erprobt
0033als Dirigent. Nicht blos technische Meisterschaft, auch eine
0034seltene allgemeine Bildung und unerschütterlicher künstlerischer 
0035Ernst heben ihn hoch über die Mehrzahl seiner Collegen und
0036Rivalen. Sein künstlerischer Charakter bürgt dafür, daß ein
0037festes musikalisches Princip, eine durchaus ernste Kunstauffas-
0038sung, ein von aller persönlichen Eitelkeit oder Gewinnsucht
0039freier Geist das Concertwesen der „Gesellschaft“ durchdrungen
0040hätte. Möglich, daß auch Brahms nicht in allem und jedem
0041Stücke den Wünschen der Sänger, Spieler und Zuhörer ent-
0042sprochen hätte, allein sein Name hob die Direction über jede
0043Besorgniß hinaus. Er war der Mann, für die übernommene
0044Aufgabe einzustehen und volle Verantwortung zu tragen.
0045Brahms, dessen jugendliche Manneskraft einem größeren, prak-
0046tischen Wirkungskreis zustrebt, war bereit, die Stelle anzuneh-
0047men. Die Fragen, welche er vorläufig an die Direction
0048stellte und deren zögernde und ungenügende Beantwortung ein
0049übles Vorzeichen war, betrafen nur künstlerische Anliegen, keine
0050persönlichen oder materiellen. Die Schwierigkeit, nach einem
0051unvergeßlichen Dirigenten wie Herbeck aufzutreten, verhehlte
0052sich Brahms keinen Augenblick; ungetheilt wollte er deßhalb
0053seine ganze Kraft dem Werke widmen. Ungetheilt mußte man
0054ihm aber auch den ganzen Wirkungskreis Herbeck’s anver-
0055trauen. Die ergiebigere Hälfte dieses Feldes ist bekanntlich
0056der Singverein, jener treffliche gemischte Chor, dem die
0057Gesellschafts-Concerte ihre schönsten Erfolge, ja ihren specifi-
0058schen Charakter verdanken.


0059„Director der Gesellschafts-Concerte“ ist man offenbar
0060nur, wenn man auch den Singverein leitet und über densel-
0061ben verfügen kann. Was thut aber die Direction der „Musik-
0062freunde“? Sie trennt die bisher vereinigte Leitung des in-
0063strumentalen und des vocalen Theiles, betraut mit letzterem
0064einen jungen, gänzlich unbekannten Musiker, benachrichtigt
0065Brahms mit reizender Naivetät von diesem Fait accompli
0066und von dem Beschlusse, daß er sich auf die Leitung des Or-
0067chesters zu beschränken habe. Es liegt auf der Hand, daß
0068eine solche Theilung des musikalischen Stoffes künstlerisch un-
0069motivirt und ohne persönliche Reibungen undurchführbar ist.
0070Nur Einem Director gebührt mit der ganzen Verantwortlich-
0071keit auch die ganze Leitung der Concerte; ein zweiter ist nur 
0072denkbar, als abhängiger Hilfsarbeiter des ersten. Trachtete
0073man daher einen Künstler von der Bedeutung und Reputa-
0074tion Brahms’ ernstlich zu gewinnen, so mußte man ihm
0075die Concert-Direction ungetheilt antragen und dann allen-
0076falls ein jüngeres Protectionskind als Assistenten und
0077Supplenten bei den Chorübungen anempfehlen. Man that das
0078Gegentheil; zuerst wurde mit auffallender Dringlichkeit der
0079Adjutant gewählt, hinterher, fast wie eine Nebensache, der
0080General. Daß Letzterer, nämlich Brahms, keine Lust
0081empfand, sich mit der Hälfte der Truppen zu begnügen, kann
0082Niemand tadeln und konnte Jeder voraussehen. Die Verhand-
0083lungen, über welchen die kostbarste Zeit verloren ging, blie-
0084ben somit resultatlos und die „Musikfreunde“ ohne Concert-
0085Director.


0086In dieser Noth galt es, rasch ein anständiges Provisorium
0087zu schaffen für die nächste Concertsaison. Es wäre von Seite der
0088Direction das Natürlichste gewesen, den neuen Dirigenten des
0089Singvereins, Herrn Ernst Franck, provisorisch auch mit
0090der Orchesterleitung zu betrauen. Wir sprechen vollkommen
0091ernsthaft. Wenn die Direction den Muth hatte, einen jungen
0092Mann, der nicht die kleinste öffentliche Probe seiner Tüchtig-
0093keit abgelegt, an Herbeck’s Platz im Singverein zu stellen,
0094warum nicht zugleich an Herbeck’s Platz im Orchester? Wir
0095sind weit entfernt von jedem Mißtrauen gegen Herrn Franck,
0096in welchem embryonisch vielleicht der größte Dirigent der Zu-
0097kunft schlummert. Nicht seine Fähigkeiten, die ja noch Nie-
0098mand kennt, greifen wir an; nur den Uebelstand, daß sie
0099noch Niemand kennt. Sollte Herr Franck, der Anfänger, sich
0100wirklich sofort als zweiter Herbeck entpuppen, so werden wir
0101es gewiß mit aufrichtiger Freude anerkennen. Aber für ein
0102Kunst-Institut von dem alten Adel der „Gesellschaft der
0103Musikfreunde“ scheint uns ein solches Experiment nicht ziem-
0104lich. Wer zur Leitung der größten Concert-Unternehmung in
0105der Monarchie berufen wird, der sollte bereits irgend welche
0106zweifellose Leistung aufzuweisen haben. Die Ernennung
0107Brahms’ hätte in den Augen der gesammten Musikwelt
0108die künstlerische Autorität der „Gesellschaft“ kräftig gehoben, [2]
0109dieselbe Autorität, welche jetzt in rapidem Sinken begriffen
0110ist. Jetzt steht man dicht vor der Eröffnung der Gesellschafts-
0111Concerte und hat noch keinen Dirigenten.


0112Das Synedrium der „Musikfreunde“ verfiel auf Herrn
0113Hellmesberger, dem sicherlich Niemand den Ruhm
0114eines sehr guten Musikers und vorzüglichen Virtuosen streitig
0115machen kann. Gegen eine definitive Anstellung Hellmes-
0116berger’s als Director der Gesellschafts-Concerte standen jedoch
0117zwei wichtige Bedenken: einmal die nicht günstige Erinnerung
0118an seine Leitung der Gesellschafts-Concerte in den Fünfziger-
0119Jahren, sodann seine Ueberbürdung mit zahlreichen anderen
0120Amtspflichten. Wie viel Zeit und Mühe kostet nicht Herrn
0121Hellmesberger die Leitung des Conservatoriums oder sollte 
0122sie ihm wenigstens kosten? Notorisch wie die Wichtigkeit
0123dieser Aufgabe ist auch die Thatsache, daß Herr Hellmesberger 
0124ihr nicht das erforderliche Maß von Sorgfalt und Arbeit
0125widmet. Hieße es nicht das Conservatorium vollends preis-
0126geben, wenn man Herrn Hellmesberger, den Director, Violin-
0127Professor, Concertmeister am Operntheater, Solospieler in der
0128Hofcapelle, Unternehmer von Quartett-Soiréen etc. etc., noch
0129mit einer neuen gewichtigen Anstellung belastete?


0130An und für sich sind diese Aufgaben keineswegs unver-
0131einbar, ja es war stets ein Lieblingsgedanke von uns, sie ein-
0132mal in Einer starken Künstlerhand vereinigt zu sehen. Hiller 
0133in Köln, Reinecke in Leipzig dirigiren das Conservatorium
0134und die Abonnements-Concerte, wie es seinerzeit auch Men-
0135delssohn
gethan, der Schöpfer des Leipziger Conservato-
0136riums. Ein Mann genügt, aber es muß ein echter und
0137ganzer sein. Findet sich ein solcher, der mit echtem Talent
0138zugleich eine feste moralische Autorität über Zöglinge und
0139Orchester-Mitglieder vereinigt, so wird die Verbindung der
0140Concert-Direction und der Conservatoriums-Leitung in seiner
0141Hand die besten Früchte tragen. Nebst der größeren artisti-
0142schen Einheit erwächst daraus auch der praktische Vortheil,
0143durch die verdoppelte Besoldung eine Notabilität ersten Ran-
0144ges gewinnen zu können. Man hat in Wien seinerzeit die
0145Stelle eines „artistischen Directors der Gesellschaft“ zumeist 
0146aus persönlichen Rücksichten in zwei Theile getrennt, gerade
0147wie man jetzt aus persönlichen Rücksichten sie in drei Anstel-
0148lungen zerstückt. Die lieben persönlichen Rücksichten, sie spielen
0149in der „Gesellschaft der Musikfreunde“ gerne die erste Violine,
0150oft sogar Solo! Man hat aus Delicatesse gegen empfind-
0151liche Künstler und zum Nachtheile für die gute Sache es vor-
0152dem unterlassen, Herbeck mit der Concertleitung auch zu-
0153gleich das Conservatorium zu übertragen und Hellmesber-
0154ger
auf die Aufgabe zu beschränken, welcher er vollständig
0155gewachsen und zugeneigt ist: auf die Professur der Violine
0156und des Quartettspieles. In solcher Stellung wäre wahr-
0157scheinlich Herbeck heute noch der „Gesellschaft“ erhalten und
0158Hellmesberger’s empfindlichem Gemüth blieben die neuesten
0159Aufregungen erspart. Diese Aufregungen bestehen darin, daß
0160die Direction Herrn Hellmesberger um die provisorische 
0161Leitung der Concerte für die nächste Saison ersuchte, natür-
0162lich unter schmeichelhaftester Betonung sowol seiner großen
0163Geschäftslast, wie seiner bewährten Gefälligkeit. An Hellmes-
0164berger’s Stelle hätten wir eine moralische Verpflichtung ge-
0165fühlt, durch unumwundene Erfüllung dieses Ansuchens das
0166Institut aus großer Verlegenheit zu reißen. Hellmesberger 
0167ist das älteste Directions-Mitglied, der Doyen des Hauses,
0168seit seinen Knabenjahren von der „Gesellschaft“ gefördert, bevor-
0169zugt, gehätschelt, also ihr natürlicher nächster Helfer in der
0170Noth. Herr Hellmesberger hat auch wirklich angenommen,
0171aber nach seiner Art: er sagte am Montag Ja, am Dienstag
0172Nein, am Mittwoch wieder Ja, am Donnerstag doch wieder
0173Nein. Heute ist Donnerstag. Die Gesellschaft hat keinen
0174Dirigenten.


0175Zu dieser Rathlosigkeit und Zerfahrenheit, unter welcher
0176die curulischen Stühle im neuen Musikvereinssaale wackeln,
0177bildet der solide Organismus der Philharmonischen
0178Concerte
ein tröstliches Gegenstück. Es geschieht auch nicht
0179unter günstigen Verhältnissen, daß die Philharmoniker ihre
0180diesjährigen Concerte ankündigen. Man hat ihnen vielmehr
0181die wesentlichste Förderung entzogen, deren sie bisher sich un-
0182beirrt erfreuten: die Benützung des Hofoperntheaters. 
0183Unternehmer der Philharmonischen Concerte ist bekanntlich
0184das Orchester des Hofoperntheaters. Dieses, sollte man glau-
0185ben, habe gegründeten Anspruch, seine mit Recht hochgeschätzten
0186Productionen an theaterfreien Tagen im eigenen Hause ab-
0187halten zu dürfen, zumal auch die (Herbeck’schen) Abonnements-
0188Concerte im Opernhause dieses Jahr wegfallen. Warum im
0189neuen Opernhause plötzlich unstatthaft sein soll, was im alten
0190zehn Jahre lang willkommen war, das geht freilich über
0191unseren beschränkten Unterthanenverstand. Gleichviel; die Phil-
0192harmoniker, plötzlich aus dem Theater vertrieben, haben sich
0193dadurch nicht entmuthigen lassen. Sie sind unter der Fahne
0194ihres erprobten Führers Dessoff treu zusammen geblieben
0195und eröffnen uns die erfreuliche Aussicht auf acht Philhar-
0196monie-Concerte im großen Musikvereinssaale. Die
0197Theater-Localität bot den Besuchern allerdings manche beson-
0198dere Bequemlichkeit, die architektonische und akustische Schön-
0199heit des neuen Musikvereines wird sie dafür entschädigen. Der
0200Saal ist groß genug, um unbeschadet des Vorkaufsrechtes der
0201Gründer und Stifter allen bisherigen Abonnenten hinreichen-
0202den Raum zu bieten, wie denn auch durch mannichfaltige Ab-
0203stufung der Preise und Einführung „ungesperrter Sitze“ die
0204Philharmonie-Concerte jeder Classe des musikliebenden Publi-
0205cums zugänglich gemacht wurden.


0206Was den musikalischen Inhalt dieser acht Concerte be-
0207trifft, so dürfen wir manchen auserlesenen Genuß hoffen. Das
0208classische Repertoire (Mozart, Haydn, Beethoven, Mendels-
0209sohn, Schumann) ist durchflochten mit Novitäten von Rubin-
0210stein
, Gade, Brahms, Volkmann, Raff, Bargiel,
0211Rudorff, Gernsheim und Goldmark. Namhafte Vir-
0212tuosen, wie Sophie Menter, Epstein, Brahms, Gerns-
0213heim
, Popper, Wieniawsky und August Wil-
0214helmi
, haben ihre Mitwirkung zugesagt. So ist denn nicht
0215zu fürchten, daß die nunmehr auf eigene Füße gestellte Concert-
0216Unternehmung der Philharmoniker minder fest stehen werde, als
0217bisher. Sie ist der wohlerworbenen Sympathien des Publi-
0218cums gewiß.