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Neue Freie Presse
Morgenblatt
Nr. 8398. Wien, Donnerstag, den 12. Januar 1888

[1]

Briefwechsel zwischen Wagner und Liszt. II.

(Schlußartikel.)


0003Ed. H. War die Existenz Wagner’s in Zürich wirk-
0004lich so kümmerlich, so elend, wie er sie durch volle fünfzehn
0005Jahre in seinen Briefen an Liszt schildert? Es hat sich uns
0006neuestens über die Züricher Periode eine außerordentlich
0007werthvolle Quelle eröffnet, aus der wir Wahrheit schöpfen
0008können: die „Fünfzehn Briefe von R. Wagner“, welche Frau
0009Elise Wille in Rodenberg’s „Deutscher Rundschau“ (5. und
00106. Heft von 1887) veröffentlicht und mit ihrer eigenen Er-
0011zählung vervollständigt hat. Wagner war in der Familie
0012Wille wie zu Hause, besuchte sie oft für ganze Tage und hat
0013auch längere Zeit als Gast vollständig in deren Landhaus zu
0014Marienfeld am Züricher See gewohnt. Frau Wille, jetzt eine
0015hochbejahrte Matrone, besaß das volle Vertrauen Wagner’s
0016und die genaueste Kenntniß seiner Verhältnisse. Sie schreibt:
0017„Ich habe es nicht recht gefunden, wenn ich hie und da ge-
0018lesen und gehört, Wagner habe in Zürich schwere Leiden
0019des Exils gekannt. Der Verbannte, den Alle hochhielten,
0020den Viele verehrten, lebte in der Sicherheit des eigenen
0021Herdes und hatte Freunde, die für ihn eintraten. Einer 
0022war darunter, der wol selten seinesgleichen findet. Jeder
0023fühlte sich geehrt, dem Wagner ein freundliches Wort sagte.
0024Die Lage politisch Exilirter in ihrer langen und herben Qual,
0025mit ihrem hoffnungslosen Suchen nach Theilnahme, ihrem
0026Anklopfen, das vielfach abgewiesen wurde, hat er in Zürich 
0027nicht gekannt ... Wagner wohnte mit seiner Frau in einem
0028angenehmen Landhause außerhalb Zürichs. Es war eine Zeit
0029fast verklärten Daseins für Alle, die in der schönen Villa
0030auf dem grünen Hügel, auf dem auch Wagner’s Wohnung
0031stand, zusammenkamen. Reichthum, Geschmack und Eleganz
0032verschönerten dort das Leben. Der Hausherr (Wesendonk)
0033war ungehindert im Geben und Fördern dessen, was ihn
0034interessirte, voll Bewunderung für den außerordentlichen
0035Mann, den das Schicksal ihm nahegebracht. Die Haus-
0036frau, zart und jung, voll idealer Anlagen ... Die Ein-
0037richtung des Hauses, der Reichthum des Besitzers machten
0038eine Geselligkeit möglich, an welche Jeder, der sie ge-
0039nossen hat, gerne zurückdenken wird.“ Wenn Richard Wagner 
0040an Liszt schreibt, man möge ihm nur „wie einem
0041mittelmäßigen Handwerker
zu leben geben“ —
0042so nehme man das ja nicht für bare Münze. Man über-
0043schlage nur ungefähr die (im Briefwechsel gewiß nicht voll-
0044ständig aufgezählten) Summen, die Liszt ihm schickte,
0045wozu noch eine von Wagner mehrmals erwähnte fixe Sub-
0046vention von einer „Frau R. in Dresden“ kam; man er-
0047innere sich, daß Wagner, abgesehen von seinen in geschäft-
0048lichem Interesse unternommenen Reisen nach Paris und
0049London, häufige Ausflüge in Italien und der Schweiz 
0050machte, einen längeren Aufenthalt in Venedig nahm, sich zur
0051Erholung bald in St. Moriz, in Selisberg, in Mornex am
0052Genfersee u. s. w. niederließ, und dann urtheile man, was
0053sich Wagner unter dem Einkommen eines „mittelmäßigen
0054Handwerkers“ gedacht haben mag. „Ich komme um,“ schreibt
0055er im Juli 1856, „und werde unfähig, ferner noch zu arbeiten,
0056wenn ich nicht eine Wohnung finde, wie sie mir nöthig ist,
0057d. h. ein kleines Haus für mich allein, dazu ein Garten,
0058und beides entfernt von allem Geräusch. Seit vier Jahren
0059suche ich vergebens, diesen Wunsch mir zu erfüllen, und nur
0060der Ankauf eines Terrains und der eigene Bau eines
0061Hauses
kann mir das Ersehnte verschaffen.“ Daß Wagner 
0062schon über „Noth“ klagte, wenn nicht alle seine feinen Be-
0063dürfnisse befriedigt waren, ergibt sich sogar aus seinen eige-
0064nen Andeutungen gegen Liszt: „All dieser müßige Tand, den
0065ich in letzter Zeit (in Verzweiflung) wie zu phantastischer Zerstreu-
0066ung wieder um mich zu sammeln mich verleitet fühlte!... Aus mir
0067wird doch nichts mehr, als ein phantastischer Lump!“ Weiter
0068betont er auch, seine Bedürfnisse seien „etwas empfindliche
0069und nicht ganz ordinäre Bedürfnisse“. Das wissen wir am
0070besten aus Wagner’s eigenen Briefen an die Putzmacherin
0071Fräulein Bertha, welche Spitzer 1877 in der „Neuen Freien
0072Presse“ veröffentlicht hat und welche — nebst ihren kostbaren
0073Beilagen von Sammt- und Atlasmustern zu Schlafröcken,
0074Négligéhosen und Bettdecken — auch dem Schreiber dieser
0075Zeilen vorgelegen sind. Unter der Controle dieser eigenen
0076Briefe Wagner’s an Fräulein Bertha wollen seine Nothrufe 
0077gelesen sein. Wagner schreibt im Mai 1864 an Frau
0078Wille: „Im Anfang März dieses Jahres (1864)“
0079— man beachte wohl das Datum — „ward mir das Miß-
0080lingen jedes Versuches, meiner zerrütteten Lage aufzuhelfen,
0081klar.“ Aber am 22. März 1864 schreibt er aus Penzing an
0082die Putzmacherin einen um Geduld bittenden Brief, welchem
0083wir entnehmen, daß seine Bestellungen und Ankäufe bei ihr
0084schon von längerer Zeit datiren. Wagner beschafft also
0085luxuriöse Putzartikel, die in der Männerwelt sondergleichen
0086dastehen, ohne daran zu denken, wie er diese „Bedürfnisse“
0087werde bezahlen können. Erst nach der ganz unverhofften Be-
0088rufung zu dem freigebigen König von Bayern schickt er ihr
0089aus München — um weitere Geduld bittend — eine vor-
0090läufige
Abschlagszahlung von fünfhundert Gulden!
0091Ebenso wenig schien es ihn zu kümmern, wer die Einrichtung
0092seiner Villa in Penzing, von deren „großer Kostspieligkeit“
0093er am 14. März 1864 der Frau Wille berichtet, bezahlen
0094werde. Er verläßt eines Tages in heimlicher Eile Penzing 
0095und erscheint plötzlich wieder in Zürich, wo er sich bei
0096Wille’s vollständig einquartiert. Das sind Thatsachen, die
0097Wagner’s künstlerisches Genie nicht beeinträchtigen, gar sehr
0098aber die Glaubwürdigkeit seiner unausgesetzt bejammerten und
0099verfluchten „Nothlage“.


0100Wir verlassen dieses unerfreuliche Capitel und wenden
0101uns zu der musikalischen Ausbeute unseres Brief-
0102wechsels. Sie bleibt insofern unter unseren Erwartungen, als
0103— abgesehen von einigen sympathischen Worten Liszt’s über
0104Berlioz und J. Raff — darin nur von den Com-
0105positionen der beiden Freunde die Rede ist. Von den Wag-
0106ner
’schen natürlich ganz überwiegend. Auch qualitativ
0107zeigt sich darin ein bemerkenswerther Unterschied: Liszt’s 
0108Bewunderung für Wagner’s Werke hat stets den vollen,
0109freien Brustton der Ueberzeugung und vertieft sich häufig in
0110Einzelheiten. Er kennt und liebt jeden Tact, jede Note.
0111Wagner begnügt sich hingegen mit einigen ziemlich vagen Be-
0112geisterungs-Explosionen für seinen „wunderbaren, hohen
0113Freund“, ohne näher auf dessen einzelne Werke einzugehen.
0114Den Chor an die Künstler und den Kreuzritterchor nennt
0115er mit einer gewissen burschikosen Verlegenheit „famos“ —
0116ein Wort, das er sonst kein einzigesmal gebraucht. Sein [2]
0117Lob bricht meistens kurzathmig mit den Worten ab „Willst
0118du mit Sicherheit einmal etwas Vernünftiges von mir er-
0119fahren, so — komm’ zu mir und spiele mir einmal alle
0120deine Sachen vor!“ Oder: „Heute erhielt ich die zweite
0121Sendung deiner symphonischen Dichtungen; sie machen mich
0122plötzlich so reich, daß ich mich noch gar nicht fassen kann.
0123Leider kann ich nur mit großer Schwierigkeit mir zu einem
0124deutlichen Begriffe davon verhelfen: dies müßte mit Blitzes-
0125schnelle gehen, wenn du sie mir vorspielen könntest.“
0126Mitunter behilft er sich auch mit dem Enthusiasmus An-
0127derer: „Freund Uhlig, dem ich ein ausgezeichnetes Urtheil
0128zutraue, läßt mir sagen, daß diese einzige Ouvertüre 
0129(Liszt’s „Prometheus“) ihm mehr werth sei, als der
0130ganze Mendelssohn!“ (Und von solchen Leuten
0131waren die Beiden umgeben!) Von Brendel wiederholt ge-
0132drängt, hat Wagner bekanntlich auch einen „Brief“ über die
0133symphonischen Dichtungen im Jahre 1859 drucken lassen, über
0134welchen verschiedene, selbst Liszt nahestehende Leute urtheilten:
0135„ich drückte mich darin doch eigentlich ausweichend aus und be-
0136mühte mich, nichts Rechtes, Bestimmtes eigentlich über dich zu
0137sagen.“ Wagner schimpft, heftig protestirend, über die „unglaub-
0138liche Stumpfheit, Oberflächlichkeit und Trivialität der Menschen,
0139welchen es möglich gewesen, die Bedeutung dieses Briefes zu
0140verkennen“. Aber etwas Wahres ist doch daran, und man
0141kann es Wagner kaum ernstlich verübeln. Daß er Liszt’s
0142Compositionen keineswegs hochhielt, das wissen Wagner’s
0143nähere Freunde recht gut. Wagner war ein ungleich inten-
0144siveres, originelleres und ernsthafteres Talent, ein weit
0145größerer Componist als Liszt. Konnte er ihm, seinem
0146Freunde und Wohlthäter, die ganze bittere Wahrheit sagen?
0147Liszt hatte diese freilich verlangt. „Sage mir unumwun-
0148den
deine Meinung über diese Composition (den Künstler-
0149chor). Findest du sie schlecht, bombastisch, verfehlt, so sage
0150mir’s ohne Glimpflichkeit.“ Die Bescheidenheit, mit welcher
0151er selbst von seinen Compositionen spricht, ist wieder muster-
0152haft. „Ich habe darüber schon so viel hören und lesen müssen,“
0153schreibt Liszt, „daß ich eigentlich gar keine Meinung beibe-
0154halte und nur aus untilgbarer innerer Ueberzeugungskraft
0155weiter fortarbeite, ohne irgend welchen Anspruch zu erheben 
0156auf Anerkennung oder Zustimmung. Mehrere meiner näheren
0157Freunde, Joachim zum Beispiel und früher Schumann und
0158Andere, haben sich meinen musikalischen Gestaltungen gegen-
0159über fremd, scheu und ungewogen gestellt. Ich verüble ihnen
0160dies keineswegs und kann es nicht entgelten, da ich stets ein auf-
0161richtiges und eingehendes Interesse an ihren Werken mitempfinde.“
0162Liszt sendet seine Compositionen an Wagner immer nur auf
0163dessen ausdrückliche Bitte, ganz lakonisch, und meistens mit
0164der bescheidenen Wendung: „sie werden dir vielleicht Spaß
0165machen.“ Dann geht er sofort ausführlich auf die Angelegen-
0166heiten Wagner’s über. Liszt’s Vorhaben, eine „Divina
0167Commedia“ nach Dante zu componiren, veranlaßt Wagner 
0168zu folgender geistreicher Bemerkung: „Daß die Hölle und
0169das Fegefeuer gelingen wird, bezweifle ich keinen Augen-
0170blick; gegen das Paradies aber habe ich Bedenken, und
0171du bestätigst mir sie schon dadurch, daß du dafür in deinem
0172Plane Chöre aufgenommen hast. Für die Neunte Sym-
0173phonie (als Kunstwerk) ist der letzte Satz mit den Chören
0174entschieden der schwächste Theil; er ist blos kunst-
0175geschichtlich wichtig, weil er uns auf sehr naive Weise die
0176Verlegenheit eines wirklichen Tondichters aufdeckt, der nicht
0177weiß, wie er endlich (nach Hölle und Fegefeuer) das Paradies
0178darstellen soll. Und mit diesem „Paradiese“, liebster Franz,
0179hat es in Wahrheit einen bedenklichen Haken, und wenn uns
0180dies noch Jemand bestätigen soll, so ist dies, auffallend
0181genug, Dante selbst, der Sänger des Paradieses, welches
0182in seiner göttlichen Comödie entschieden ebenfalls der schwächste
0183Theil ist.“


0184Ueberblicken wir, was der Briefwechsel Neues und In-
0185teressantes enthalte über Wagner’s Schöpfungen, so
0186müssen wir hier natürlich mit einer spärlichen Auswahl aus
0187dem reichhaltigen Material uns begnügen. Am 28. August
01881850 bringt Liszt den Lohengrin auf die Weimar’sche
0189Bühne: es war dies überhaupt die erste Aufführung dieser
0190für die damalige Zeit unerhört schwierigen Oper. „Wir
0191schwimmen ganz im Aether deines Lohengrin!“ schreibt
0192Liszt. „Dein Lohengrin ist von Anfang bis Ende ein er-
0193habenes Werk ... ein einziges untheilbares Wunder!“
0194Wagner möchte der Aufführung in Weimar „incognito“ bei-
0195wohnen; er will, „die Großherzogin möge der Polizei
0196des einigen Deutschland ein Schnippchen schlagen“ und ihm
0197ein sicheres Geleit aus der Schweiz nach Weimar verschaf-
0198fen! Liszt macht ihm die schmerzliche Mittheilung, dies sei
0199eine vollständige Unmöglichkeit. „Alles,“ setzt
0200er bei, „was mir zu thun möglich sein wird, sei es im
0201Interesse deines Rufes und deines Ruhmes, sei es im In-
0202teresse deiner Person, ich werde es bei keiner Gelegenheit zu
0203thun versäumen. Allein einem Freund wie du ist nicht immer
0204leicht zu dienen; denn für diejenigen, denen es gegönnt ist,
0205dich zu verstehen, handelt es sich vor Allem darum,
0206dir mit Verstand und Würde zu dienen.“
0207Wagner erschrickt über die Mittheilung, daß die Oper von
02086 bis 11 Uhr Nachts gespielt habe; nach seiner Berechnung
0209hätte sie höchstens bis 3/4 auf 10 Uhr zu dauern. Er ver-
0210muthet, daß die Schuld an den Sängern liege, welche die
0211Recitative nach Belieben zerren und dehnen. „Wenn in
0212der Oper das Recitativ anfängt, so heißt das für sie so viel
0213als: Gott sei Dank, nun hört doch das verfluchte Tempo
0214auf, das uns ab und zu noch zu einem gewissen vernünftigen
0215Vortrag nöthigt; nun können wir der Länge und Breite
0216nach schwimmen u. s. w.“ Er schließt mit der Bemerkung,
0217„daß jeder schlechte italienische Sänger in der schlechtesten ita-
0218lienischen Oper gesunder und ausdrucksvoller declamirt, als
0219den besten Deutschen es möglich ist“. Liszt hat für Wagner,
0220wie dieser dankbar anerkennt, „aus dem kleinen Weimar 
0221einen Feuerherd des Ruhmes gemacht“. „Alle Minen läßt er
0222springen.“ Liszt selbst schreibt eine Kritik für das Journal
0223des Débats, die er Wagner zur Uebersetzung und Vervoll-
0224ständigung zuschickt; seine Freunde Raff, Uhlig, Dingelstedt 
0225liefern günstige Berichte in deutsche Zeitungen. Mit Dingel-
0226stedt’s Kritik in der Augsburger Allgemeinen Zeitung 
0227ist Wagner höchlich unzufrieden und ersucht Liszt,
0228„eine nochmalige und geeignetere Besprechung des
0229Lohengrin in der Augsburger Allgemeinen Zeitung zu
0230veranlassen“. „In Dingelstedt’s Bericht,“ sagt Wagner,
0231„erkenne ich Zweies: die wohlwollende Disposition für
0232mich, die ihm durch dich beigebracht worden ist, und die
0233absoluteste Unfähigkeit bei aller Schöngeisterei, auch nur eine [3]
0234Ahnung von dem zu erfassen, was hier zu erfassen war.“
0235Da Wagner zwei Zeilen früher als „den eigentlichen Kern
0236der Sache das Drama“ bezeichnet hat, scheint uns seine
0237Behauptung von Dingelstedt’s absoluter Unfähigkeit, es (das
0238Drama) zu verstehen, etwas stark. In der so übermäßig
0239langen ersten Aufführung waren einige kleine Striche noth-
0240wendig befunden worden. Wagner ist außer sich darüber
0241„Kann mein Lohengrin,“ schreibt er, „nur dadurch aufrecht
0242erhalten werden, daß der Trägheit der Darsteller wegen ge-
0243strichen
werden muß — so gebe ich auch die ganze Oper
0244auf ... und ich habe meine letzte Oper geschrieben!“
0245Liszt beruhigt ihn sofort, daß bei der zweiten Aufführung
0246„nicht die kleinste Sylbe entfernt wurde“.


0247Im November 1851 theilt Wagner dem Freunde den
0248Plan seiner Nibelungen-Trilogie mit, welche nebst
0249einem Vorspiel: „Der Raub des Rheingoldes“, drei Dramen
0250umfassen soll: 1. Die Walküre. 2. Der junge Siegfried.
02513. Siegfried’s Tod. Nicht nur der Plan des großen Werkes,
0252sondern auch die Art und Weise einer künftigen Aufführung
0253— wie sie volle fünfundzwanzig Jahre später in Bayreuth 
0254sich verwirklichte — ist ihm vollständig klar, und der aus-
0255führliche Brief, den er darüber an Liszt schreibt, bleibt ein
0256merkwürdiges erstes Actenstück zur Entstehungsgeschichte des
0257Bayreuther Unternehmens. Im December 1853 arbeitet
0258Wagner an der Composition des Rheingold: „Ich spinne
0259mich ein wie ein Seidenwurm. Fünf Jahre habe ich keine
0260Musik geschrieben. Jetzt bin ich in Nibelheim. Im Juli
02611856 sind die Partituren von „Rheingold“ und „Walküre“
0262fertig; im Juli 1859Tristan und Isolde“. Auf „Parsifal“
0263scheint schon folgende Briefstelle (12. Juli 1856) voraus-
0264zudeuten: „Ich habe wieder zwei wundervolle Stoffe, die ich
0265noch einmal ausführen muß: Tristan und Isolde (das weißt
0266du!), dann aber — der Sieg — das Heiligste, die voll-
0267ständigste Erlösung: das kann ich dir aber nicht mittheilen.“


0268Liszt hatte mit der Lohengrin-Aufführung in Weimar 
0269einen mächtigen Anstoß gegeben, der auch auf die Verbrei-
0270tung von Wagner’s früheren Opern sehr günstig zurück-
0271wirkte. Immer häufiger kann Liszt von Aufführungen des
0272Tannhäuser, Holländer, Rienzi berichten; endlich dringt auch 
0273der Lohengrin auf andere deutsche Bühnen. Auf Wagner 
0274ist die Wirkung dieser Berichte eine sehr zwiespaltige: in
0275Einem Athem verwünscht er die Theater-Aufführungen, die ja
0276unmöglich ganz in seinem Geiste ausgefallen sein konnten —
0277und sucht sie doch auch wieder, des finanziellen Ertrages wegen.
0278So schreibt er im Januar 1854 nach dem Bericht Liszt’s
0279über die Leipziger Lohengrin-Vorstellung, er büße den
0280Frevel, den er an seinem innern Wesen begangen, als er
0281vor zwei Jahren in die Aufführungen seiner Opern willigte!
0282Er müsse nun „die Wollust genießen, das edelste Werk
0283seines bisherigen Lebens der vorausgewußten Stümper-
0284haftigkeit unseres Theatergesindels und dem Hohn des Phi-
0285listers preisgegeben zu sehen“! Aber wenige Zeilen weiter
0286interpellirt er Liszt: „Hast du nicht wieder an Berlin ge-
0287dacht? Dort muß jetzt etwas zu Stande kommen.“ Liszt 
0288wendet sich auch sofort in ausführlichen Briefen an Hülsen 
0289wegen Aufführung des Tannhäuser und Lohengrin in Berlin;
0290Verhandlungen, die sich lange hinschleppten, da Wagner dar-
0291auf bestand, Liszt müßte diese Opern einstudiren und diri-
0292giren, was der Intendant den Berliner Hofcapellmeistern
0293doch nicht glaubte anthun zu dürfen. Endlich muß Wagner 
0294doch nachgeben: „Tannhäuser und Lohengrin müssen zu den
0295Juden gehen!“


0296Im Herbst 1854 meldet Wagner, es sei ihm „ein
0297Himmelsgeschenk in seine Einsamkeit gekommen: Arthur
0298Schopenhauer, der größte Philosoph seit Kant! Sein
0299Hauptgedanke, die endliche Verneinung des Willens zum Leben,
0300ist von furchtbarem Ernste, aber einzig erlösend. Mir kam
0301er natürlich nicht neu, und Niemand kann ihn überhaupt
0302denken, in dem er nicht bereits lebte. — So werde ich immer
0303reifer: nur zum Zeitvertreib spiele ich noch mit der Kunst.“
0304Einige Wochen später hält Wagner dem Freunde eine lange
0305Vorlesung oder Predigt über Schopenhauer’s Lehre, in die
0306er sich völlig vernistet hat. Liszt, dessen Geschmack der Pessi-
0307mismus und Buddhismus widerstrebte, antwortet mit keiner
0308Sylbe darauf. Bezeichnend ist, wie gegen die Mitte der
0309Fünfziger-Jahre das religiöse Element in Liszt immer ent-
0310schiedener hervortritt. Auf eine der exaltirtesten Verzweiflungs-
0311Episteln Wagner’s antwortet Liszt: „Laß zum Glauben dich 
0312bekehren, es gibt ein Glück ... und dies ist das Einzige, das Wahre,
0313das Ewige! Magst du dieses Gefühl noch so bitter verhöhnen;
0314ich kann nicht ablassen, darin das einzige Heil zu ersehen
0315und zu ersehnen. Durch Christus, durch das in Gott resignirte
0316Leiden wird uns Rettung und Erlösung!“ Und einige Jahre
0317später aus ähnlichem Anlasse: „Nur Entbehren und Ent-
0318sagen hält uns aufrecht auf diesem Erdenboden. Lass’ uns
0319unser Kreuz zusammen tragen in Christo — dem Gott,
0320dem man sich ohne Stolz nähert und ohne Verzweiflung
0321beugt!“ Das war nun wiederum gar nicht nach Wagner’s 
0322Geschmack.


0323Im März 1855 folgt Wagner einer Einladung der
0324Londoner Philharmonischen Gesellschaft, eine Reihe von Con-
0325certen zu dirigiren. Er ist dort in „gräßlicher Laune“, stets
0326von „gräßlicher Trivialität umgeben“, und fällt schließlich
0327über London das Verdict: „Hier ist die Lumpenhaftigkeit,
0328Verstocktheit und heilig gepflegte Dummheit mit ehernen
0329Mauern gehütet und gepflegt: nur ein Lump und Jude kann
0330hier reussiren.“ Trotzdem hat er selbst doch reussirt in
0331diesem Lande des „lächerlichen Mendelssohn-Cultus“, wie
0332sein eigener Bericht über die ihm bereiteten Abschieds-
0333Ovationen darthut. Kaum nach Zürich zurückgekehrt, erhält
0334Wagner einen Antrag aus Newyork, dort während des
0335nächsten Winters Concerte zu dirigiren, lehnt aber die Ein-
0336ladung, die ihn „keinerlei ernstlicher Versuchung aussetzt“,
0337einfach ab. Mehr lockt ihn eine Aufforderung des Kaisers
0338von Brasilien, Wagner möchte zu ihm nach Rio-Janeiro 
0339kommen und „dort Alles in Hülle und Fülle haben“! Wirk-
0340lich faßt Wagner die abenteuerliche Idee, „Tristan und
0341Isolde“ ins Italienische übersetzen zu lassen und dem
0342Theater in Rio „als italienisches Opus zur ersten
0343Repräsentation anzubieten“. Seltsamerweise hält er den
0344Tristan für „ein durchaus praktikables Opus, das ihm
0345bald und schnell gute Revenüen abwerfen werde“.
0346Wagner geht vernünftigerweise weder nach Newyork noch nach
0347Brasilien, verläßt aber, von einer lebhaften Reiselust und
0348Unruhe getrieben, jetzt sehr häufig Zürich. Wir finden ihn
0349im Anfang 1858 plötzlich in Paris, wo der Director des
0350Théâtre Lyrique geneigt scheint, den Rienzi aufzuführen. [4]
0351Aber schon im Frühling ist Wagner wieder in Zürich, im
0352August in Genf, bald darauf in Venedig, das er sich zu
0353längerem Aufenthalt auserwählt, weil es „die geräuschloseste
0354Stadt der Welt ist“. Das Leben in Venedig — er wohnt
0355im Palazzo Giustiniani — sagt ihm fortwährend vortrefflich
0356zu. Aber er „braucht Geld, viel Geld“ und hat trotz seines
0357kurz zuvor über die Theater verhängten Bannfluches den
0358Lohengrin nach Kassel angeboten und ersucht Liszt, in Coburg 
0359(wo man ihn so auffallend vernachlässige) den Verkauf des
0360Lohengrin und des Holländer zu vermitteln. Die folgenden
0361Briefe (bis in den März 1859 sämmtlich aus Venedig)
0362behandeln überwiegend Geschäftsangelegenheiten und neuer-
0363dings die „mit entscheidender Bestimmtheit“ an Liszt gestellte
0364Frage, ob dieser die Initiative ergreifen wolle, von den
0365deutschen Fürsten für Wagner eine Pension zu erwirken.
0366„Ich kann und werde nie eine Anstellung, oder was dem
0367irgend gleichkäme, annehmen. Was ich dagegen beanspruche,
0368ist die Fixirung einer ehrenvollen und reichlichen Pension.“
0369Liszt, kurz zuvor durch einen Brief verletzt, worin Wagner 
0370seine (Liszt’s) officiellen Verpflichtungen als „Trivialitäten“
0371bezeichnet, scheint ihm nun ausnahmsweise eine unerwünschte
0372Antwort gegeben zu haben; in dem Briefwechsel fehlen diese
0373von Wagner sehr bitter aufgenommenen „unerhörten Zeilen“.
0374Doch schnell ist das alte freundschaftliche Verhältniß wieder
0375hergestellt. Wagner gesteht sogar, es sei ihm jener „er-
0376schreckende Neujahrsgruß“ Liszt’s heilsam gewesen. „Ich weiß,
0377daß ich mich zu viel gehen lasse und auf die Geduld Anderer
0378unerlaubt viel zähle.“ Den Sommer 1859 verlebt Wagner 
0379in Luzern; im October finden wir ihn bereits wieder in
0380Paris, wo er seine Compositionen in Concerten dirigirt und
0381Verhandlungen mit dem Director der Großen Oper wegen
0382Aufführung des Tannhäuser anknüpft. Von Paris sind auch
0383alle noch folgenden Briefe Wagner’s datirt; der letzte vom
038415. Juni 1861. Wagner spricht darin weniger von seinen Pariser
0385Erlebnissen, als von seinem Wunsche, „Tristan“ in Deutschland 
0386aufzuführen. „Ich habe Wien im Auge, als dasjenige
0387Theater, das noch immer die besten Sänger besitzt und —
0388als einziges Phänomen dieser Art — von einem sachver-
0389ständigen Musiker dirigirt wird, mit dem man sich ver-
0390ständigen kann.“ Wagner’s Urtheil war immer unberechenbar; 
0391kurz zuvor hatte er Liszt vor dessen Abreise zum Wiener
0392Mozart-Fest zugerufen: „Ich gratulire zum Wiener 
0393Schmutz!“ (In einem älteren Briefe an Kittl heißt es
0394in Bezug auf Wien: „Mir graut vor dieser asiatischen
0395Stadt.“)


0396Liszt hatte seinerseits keinen Augenblick aufgehört, für
0397Wagner zu sorgen. Seit mehreren Jahren, klagt er 1861,
0398seien alle seine Schritte und Bemühungen vergeblich gewesen,
0399Tristan und die Nibelungen in Weimar zur ersten Auf-
0400führung zu bringen. „Ich verschone dich mit dem Detail
0401dieser Angelegenheit, deren Fehlschlagen mich hauptsächlich
0402dazu bewog, meine hiesige Thätigkeit beim Theater gänzlich
0403aufzugeben.“ „Von mir“ — so schließt sein letzter
0404Brief vom 7. Juli 1861 — „weiß ich nichts anderes
0405Bestimmtes, als mein Fortgehen von Weimar.
0406Bis Anfangs August werde ich über meinen nächsten
0407Aufenthaltsort entscheiden. Kurz gesagt, bezeichnet dieses
0408Dilemma meine ganze Lage: Entweder meine Vermälung
0409findet statt, und zwar bald oder nicht. Im ersten Falle ist
0410für mich späterhin Deutschland und speciell Weimar noch
0411möglich; anders, nein.“ Liszt’s gehoffte Vermälung mit
0412der Fürstin Wittgenstein fand nicht statt, und er ging für
0413einige Jahre nach Rom. Sein Scheiden von Weimar fällt
0414ungefähr zusammen mit der Rückkehr Wagner’s nach Deutsch-
0415land. So bildet das Jahr 1861 einen natürlichen Abschluß
0416des vorliegenden Briefwechsels. Daß ihm eine Fortsetzung
0417folge: die Briefe von 1861 bis 1883, ist lebhaft zu wünschen,
0418aber kaum zu hoffen. Zu viel Persönliches dürfte darin aus-
0419getauscht sein, was die Hinterbliebenen Wagner’s kaum vor
0420die Oeffentlichkeit zu bringen wünschen. Bekanntlich ist eine
0421längere Entfremdung zwischen den beiden Freunden einge-
0422treten, als deren hauptsächlichster Grund angenommen wird,
0423daß Liszt’s Gefühle als Vater und als katholischer Geist-
0424licher sich entschieden gegen eine Heirat seiner an Bülow ver-
0425mälten Tochter Cosima mit R. Wagner gesträubt haben.
0426Liszt ist weder bei der ersten Aufführung von „Tristan und
0427Isolde“ in München (1865), noch bei der Grundsteinlegung
0428des Wagner-Theaters in Bayreuth (1872) erschienen. Erst
0429später erfolgte eine Aussöhnung mit Wagner, die bis zu
0430dessen Tode Stand hielt.