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Neue Freie Presse
Morgenblatt
Nr. 8431. Wien, Dienstag, den 14. Februar 1888

[1]

Hofoperntheater.

(„Belisar“, Oper in drei Acten von Donizetti. — Repertoire Fragen.)


0003Ed. H. Donizetti’s „Belisar“ — neu einstudirt am
000411. Februar 1888? In der That, wir haben richtig gelesen,
0005wenn auch nicht völlig verstanden. Welch geheimnißvolle
0006Macht bewirkte wol die Ausgrabung dieses byzantinischen
0007Feldmarschalls, der seit vielen Jahren so schön und verläßlich
0008todt gelegen? Er war niemals ein unterhaltender Herr ge-
0009wesen; in seinen letzten Jahren vollends mochte Niemand
0010mehr seine Klagelieder anhören. In Venedig hatte er 1836 
0011zuerst das Lampenlicht erblickt, und noch im selben Jahre
0012huldigte ihm Wien, damals die italienischeste Stadt des deut-
0013schen Bundes. Die doppelte Vergoldung, in welcher Belisar 
0014ehedem durch Neuheit seiner Melodien und den Zauber italieni-
0015scher Stimmen erglänzte, sie hat sich durch halbhundertjährigen
0016Gebrauch gründlich abgerieben. Der Gesangstyl des „Belisar“ ist
0017unseren, nach ganz anderer Richtung ausgebildeten Sängern
0018wildfremd geworden; sie finden sich ebenso schwer darein, wie
0019die Zuhörer. Nach wenigen Scenen glauben wir in dieser
0020Honigfluth von Terzen- und Sextengängen zu ertrinken, in
0021der Stickluft dieses Triolen-Accompagnements zu verschmach-
0022ten. Wie Tannhäuser im Venusberg lechzen wir „nach Bitter-
0023nissen“, nach einigen contrapunktischen Gifttropfen, nach
0024rhythmischen Nadelstichen und instrumentirten Brennesseln.
0025Das charakteristische Element fehlt allerdings nicht ganz und
0026gar. Weder Gibbon, noch Ranke oder Mommsen vermögen
0027den tiefen Verfall des römischen Reiches so überzeugend zu
0028schildern, wie es die unglaublichen Unisono-Chöre der
0029Patres conscripti und die frivole Militärbanda in der Oper
0030Belisar“ thun. Diese zählte niemals zu dem Besten, was
0031Donizetti’s fruchtbares und glänzendes Talent hervorgebracht
0032hat. Von seinen liebenswürdigen, in Einem Guß hinströmen-
0033den komischen Opern sehen wir ganz ab; das Kleeblatt:
0034Don Pasquale“, „Liebestrank“, „Regimentstochter“ ist mehr
0035werth, als sein ganzer tragischer Cypressenwald. Aber selbst
0036unter Donizetti’s lyrischen Tragödien steht „Belisar“ nur in
0037zweiter Reihe hinter „Lucia“, „Lucrezia“ und „La Favorita“,
0038die ihn an musikalischer Erfindung wie an dramatischer
0039Energie übertreffen.


0040Und dennoch florirte oder vegetirte „Belisar“ auffallend
0041lange gerade in Deutschland, während er in Paris, schwerer
0042Langweiligkeit angeklagt, bald für immer verbannt ward.
0043Sogar in dem Liszt-Wagner’schen Briefwechsel sahen wir
0044Belisar auftauchen; mitten in seinem Rheingold-Enthu-
0045siasmus meldet Liszt seinem Freunde die Aufführung der
0046Donizetti’schen Oper (1855) in Weimar. Er erhebt sie sogar
0047zu unserer Verwundernung über Auber’s „abgeschmackten
0048Maurer und Schlosser“; was doch wol nur begreifen kann,
0049wer eine schlechte Tragödie für werthvoller hält, als ein
0050gutes Lustspiel. Die Gestalt des Belisar besaß von jeher
0051die besondere Sympathie des deutschen Publicums. In den
0052Vierziger-Jahren gastirten Heldenspieler mit Vorliebe in
0053Schenk’s „Belisar“, einem Trauerspiel von schwachem dra-
0054matischen Kern, aber mächtig aufgeblähtem Wortschwall. Da-
0055neben glänzten die bedeutendsten Sänger, allen zuvor Pischek,
0056in der Titelrolle von Donizetti’s Oper. Das Große, Helden-
0057mäßige fehlt gänzlich in dieser Musik; sie findet hingegen für
0058das Elegische in manchem entscheidenden Moment einen rüh-
0059renden Ausdruck. Und dies ist offenbar diejenige Seite
0060Belisar’s, welche dem Publicum werthvoll geblieben ist und
0061auf die es immer wieder eingeht. Ein Held, der, von glühen-
0062der Vaterlandsliebe erfüllt, dennoch schmählich angeklagt und
0063hinausgestoßen wird, der noch im Elend der Verbannung mit
0064allen Gedanken am Vaterlande hängt und dessen Rettung
0065mit seinem letzten Blute erkauft — kann es eine sympathi-
0066schere Gestalt, eine dankbarere Rolle geben? Wie viele Thrä-
0067nen sind schon dem geblendeten Belisar geflossen! Daß ihm
0068auf Befehl seines undankbaren Herrn die Augen ausgestochen
0069wurden und der blinde Greis in den Straßen Konstan-
0070tinopels sein Brot erbetteln mußte, glauben heute noch von
0071hundert Menschen neunundneunzig. Es ist eine Fabel,
0072die ihre ungeheure Verbreitung zumeist Marmon-
0073tel’s
sentimentalem Roman „Bélisaire“ verdankt, einer
0074jener angeblich „classischen“ Biographien, mit welchen man
0075der Jugend das Französischlernen zu verleiden pflegt. Diesem
0076legendarischen Belisar gibt Donizetti lauter erschütternde oder
0077rührende Situationen; dazu eine sangbare, praktisch auf den
0078Effect berechnete Musik, die, an sich farblos, dem Sänger
0079Gelegenheit bietet, den pathetischen Inhalt ganz nach eigenem
0080Ermessen zu ordnen und zu gliedern. Besitzt der Sänger
0081nebst allen Vorzügen der Stimme und Gesangskunst 
0082das schauspielerische Talent, in flüchtig gezeichnete Umrisse
0083eine ganze und persönliche Gestalt zu zeichnen, so ist ihm
0084ein bedeutender Erfolg auch heute noch sicher. Herrn Som-
0085mer’s
 Belisar gebrach es an geistiger Ueberlegenheit und
0086Würde; die Rolle ging ihm ganz in das Allgemeine des
0087Bühnenmäßigen verloren. Seinem Recitativ — er singt es
0088fast durchwegs mit voller, gleichmäßig ausströmender
0089Stimme — fehlt die freie Bewegung und decla-
0090matorische Bestimmtheit. In einigen elegischen Stellen,
0091wo er wenigstens den Versuch einer feineren Tonschattirung
0092machte, fand Herr Sommer verdienten Beifall. Auch Herr
0093Winkelmann dürfte den Alamir schwerlich zu seinen
0094Glanzrollen zählen, so verschwenderisch er auch das ganze
0095Aufgebot seiner Stimmkraft daransetzte. Fräulein Schläger 
0096bewies als Irene abermals erfreuliche Fortschritte, sowol im
0097dramatischen Ausdruck, als in der maßvolleren Behandlung
0098ihrer Stimme. Ihre zarten Mezzavoce-Stellen in dem Duett
0099mit Belisar machten mehr Wirkung, als alle übertriebenen
0100Kraftproben, und entfesselten mitten in der Scene den Bei-
0101fall des Publicums. Fräulein Lehmann, als Gesangs-
0102künstlerin ihren Partnern im Belisar entschieden überlegen,
0103bewältigt mühelos die musikalischen Schwierigkeiten ihrer
0104Partie; für ihre Stimme, ja für ihre ganze Individualität
0105hat die Antonina zu viel tragisches Gewicht. Die Gestalt
0106war richtig gezeichnet, aber sie hob sich nicht zu der Höhe,
0107die sie erreichen soll und auf welcher wir sie zu sehen ge-
0108wohnt sind. Herr Director Jahn dirigirte die Oper, die
0109ihn unmöglich sehr interessiren kann, persönlich, um ihr auch
0110seinerseits jede mögliche Hilfe zu leisten. Schwerlich wird
0111Belisar ihm lange dafür dankbar bleiben. Mit einer blos
0112sorgfältigen, anständigen, ordentlichen Aufführung ist eine so
0113gänzlich verwitterte Oper nicht mehr zu retten. Es bedarf
0114dazu außerordentlicher Sänger und Darsteller, die sich mit
0115Wonne in diese abgestandenen Melodien stürzen. Und
0116selbst dann, glaube ich, würde man heute nur diesen
0117Gesangskünstlern, nicht aber der Donizetti’schen Musik
0118Dank wissen.


0119Seine jüngste Wieder-Erweckung verdankt „Belisar“
0120offenbar nur dem Mangel an guten Novitäten. Diese Noth
0121herrscht auf allen Opernbühnen, und nicht erst seit gestern.
0122Wenn die Pariser Opéra comique jetzt auf Auber’s seit
012322 Jahren nicht gegebene „Sirène“ und auf Semet’s [2]
0124Petite Fadette“ zurückgreift; wenn die Große Oper nach
0125ihrem neuesten Fiasco („La Dame de Monsoreau“) in
0126fassungsloser Verlegenheit dasteht, so kann man überzeugt
0127sein, daß Frankreich musikalisch brach liegt. Nur die Bekannt-
0128schaft mit Delibes’Lakmé“ und den „Perlenfischern“
0129von Bizet würde sich allenfalls lohnen. In Italien ist
0130Verdi’sOtello“ (den wir ja nächstens hören werden)
0131das einzige neue Werk, das in Deutschland auf Erfolg zählen
0132kann. Im deutschen Reich kommen zwar massenhaft neue
0133Opern zur Aufführung — meist von Capellmeistern für
0134Capellmeister — aber so Rühmliches stets von ihrer Pre-
0135mière berichtet wird, nach sechs bis acht Wochen spricht
0136die Weltgeschichte ihr „Schwamm drüber!“ So wird man
0137denn in Wien vorläufig mehr daran denken müssen, ältere
0138deutsche und französische Opern durch vortreffliche Auf-
0139führungen neu zu beleben. Auf Donizetti möge man
0140nicht wieder verfallen, überhaupt nicht auf das ältere
0141italienische Repertoire — die einzige „Norma“ aus-
0142genommen, wenn wir einmal eine Norma haben. Ver-
0143gleichen wir die günstige Wirkung des kürzlich wiederauf-
0144genommenen „Zampa“ mit dem flauen Erfolg des Belisar,
0145so ersehen wir schon daraus die größere Lebenskraft einer
0146französischen Oper aus den Dreißiger-Jahren vor den
0147gleichzeitigen italienischen. Von Auber’s Opern dürfte der
0148Verlorene Sohn“, vielleicht auch „Haydée“ eine Wieder-
0149aufführung lohnen; aus dem deutschen Repertoire Schu-
0150mann’s
Genovefa“, falls Director Jahn sich ihrer so
0151warm annimmt, wie jüngst des „Manfred“. Manche ganz
0152geglückte Versuche aus jüngster Zeit hat die Direction mit
0153unbegreiflicher Plötzlichkeit selbst wieder fallen lassen, wie
0154einen zu heiß angefaßten Teller: Alceste, Jessonda, Czar und
0155Zimmermann. Warum mußten diese aus jahrelangem Schlum-
0156mer endlich erweckten Opern nach Einer Reprise verschwinden?
0157Mit unserm trefflichen Spieltenor Herrn Schrödter könnte
0158manche ältere Oper von anspruchsloser Heiterkeit neu aufblühen.
0159Freilich begegnen wir hier wieder dem alten Einwurf von
0160der Unzweckmäßigkeit des großen Opernhauses für die
0161Spieloper. So viel Wahres daran ist — über die Noth-
0162wendigkeit, sie trotz alledem hier zu pflegen, reichlich und
0163sorgsam zu pflegen, ist nicht hinwegzukommen. Unsere, mit
0164aller Bescheidenheit oben angeführten Vorschläge sind durch-
0165aus nur relativer Natur und von keineswegs enthusiastischer
0166Zuversicht. Eine Novität, von der man sich den Erfolg der 
0167Hugenotten“ oder des „Tannhäuser“ versprechen könnte, ist
0168uns derzeit nicht bekannt.


0169Wie wir hören, ist von Leuten, denen bei dem bloßen
0170Wort „Musikdrama“ schon das Herz hüpft, auch die Auf-
0171führung des von Herrn H. Zöllner componirten Goethe’-
0172schen Faust beantragt worden. Director Jahn hatte jedoch zu
0173viel künstlerisches und nationales Schicklichkeitsgefühl, um die-
0174ses häßliche Attentat auf Goethe unter seinen Schutz zu neh-
0175men. Was gab das in Deutschland für eine Entrüstung, als
0176ein Franzose, Gounod, sich aus Scenen des „Faust“
0177ein Opern-Libretto in seiner Sprache für seine Landsleute
0178anfertigen ließ! Und jetzt verhält man sich duldsam
0179oder gar lobend, wenn ein Deutscher die ganze Goethe’sche
0180Tragödie selbst componirt, sie vollständig Zeile für Zeile mit
0181dem kläglichen Gespinnst seiner unendlichen Melodie über-
0182zieht. Für Herrn Zöllner ist Goethe’s Faust offenbar ein
0183Drama, dem etwas Wesentliches fehlt: die Musik; er be-
0184handelt dasselbe als ein Halbfabricat, das erst durch musika-
0185lische Appretur etwas (nach Wagner’scher Theorie) Vollkom-
0186menes und Höchstes werden kann, nämlich ein „Musik-
0187drama
“. Wem die Empfindung für das Entwürdigende dieses
0188Vorganges fehlt, dem werden wir es mit Worten nicht deutlich
0189machen. Uns erfaßt ein Gefühl zorniger Beschämung, wenn
0190wir sehen, wie der nächstbeste Liedertafel-Dirigent mit dem
0191edelsten Schatz des deutschen Volkes hantiert und die heiligen
0192Worte, welche Musik nicht dulden oder nicht brauchen, in
0193declamatorischen Singsang umsetzt. Die Beschaffenheit der
0194Zöllner’schen Musik kümmert uns hier nicht, sondern lediglich
0195die Thatsache, daß ein deutscher Componist den traurigen
0196Muth hat, den ganzen Faust von Goethe zum „Musik-
0197drama“ zu degradiren, oder, wie er meint, zu erheben. Hätte
0198Zöllner’s Faust-Fabricat einen bedeutenden Bühnenerfolg
0199gehabt — der trotz aller Kameradschaft doch ausblieb —
0200so würden wir wahrscheinlich Goethe’s „Tasso“, Schiller’s
0201Maria Stuart“, Grillparzer’s „Sappho“ bald in der
0202Maskerade von Musikdramen begegnen. Gute Text-
0203bücher sind ja heute schwer zu erlangen, und so kostspielig!
0204Hoffentlich wird das Hofoperntheater sich ebensowenig zum
0205Schauplatz für Zöllner’sche Musikdramen hergeben, wie das
0206Burgtheater für die dramaturgischen Krämpfe des Herrn
0207Hans Pöhnl. Nein, zu hell und mächtig lodert noch in Wien 
0208das Gefühl für unsere großen Dichter, um modernen Bilder-
0209stürmern mit und ohne Musik den Eingang zu gewähren.