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Neue Freie Presse
Morgenblatt
Nr. 8446. Wien, Mittwoch, den 29. Februar 1888

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Concerte.


0002Ed H. Wenn einem Sänger plötzlich die Stimme ver-
0003sagt, dem Pianisten eine Taste stecken bleibt oder dem Violin-
0004Virtuosen eine Saite springt — so geschieht dies bekanntlich
0005fast immer in dem wichtigsten Tact, an der allerfatalsten
0006Stelle. Genau so pflegt es uns auch im Leben zu gehen mit
0007allerhand Mißgeschicken, die uns zumeist dadurch ärgern, daß
0008sie zu ihrem Besuche sich den allerunpassendsten Moment aus-
0009wählen. Ein achttägiges Unwohlsein hätte ich zu anderer Zeit
0010mit christlicher Ergebung getragen, wo es mich etwa von acht
0011jugendlichen Clavier-Productionen absperren konnte; leider
0012besuchte mich der Unhold gerade, als im Gesellschaftsconcert
0013Stücke aus Schubert’sFierrabras“ — eine Schwärmerei
0014von mir — und ein neues großes Werk von Dvořak,
0015sein „Stabat mater“, zur ersten Aufführung gelangten. Das
0016traf doppelt schmerzlich. Der Genuß des Zuhörens läßt sich
0017leider nicht übertragen, zur Noth aber die Pflicht des Bericht-
0018erstattens. Daß unser Blatt sich nicht in Schweigen zu hüllen
0019braucht über das erwähnte Mittagsconcert, verdanken wir
0020der Gefälligkeit des Herrn Eusebius Mandyczewski, der uns
0021mit nachstehendem Berichte hilfreich beigesprungen ist.


0022Im letzten Gesellschaftsconcerte haben einzelne Theile
0023aus der Oper „Fierrabras“ von Franz Schubert einen
0024sehr günstigen Eindruck gemacht und viel Beifall gefunden.
0025Diese Oper ist erst vor kurzer Zeit gedruckt worden und bei
0026Breitkopf & Härtel in der neuen Gesammt-Ausgabe der
0027Werke von Schubert erschienen. Die wenigen zur Aufführung
0028gelangten Nummern — die Ouvertüre, eine lyrische und eine
0029dramatische Arie und der Einzugsmarsch mit Chor — ließen
0030den Wunsch rege werden, auch größeren Theilen Schubert’-
0031scher Opern im Concertsaale zu begegnen, zumal denselben
0032die Bühnen doch versperrt bleiben. Die Partitur des
0033Fierrabras“ liefert allein schon eine reiche Ausbeute. Ur-
0034sprünglich standen auch noch ein leidenschaftlich bewegtes Terzett
0035mit doppeltem Männerchor und ein Chor der Ritter auf dem
0036Programm des Gesellschaftsconcertes. Sie konnten aber, wie
0037verlautet, aus Gründen, die dem männlichen Theile unseres 
0038Singvereins durchaus nicht zur Ehre gereichen, nicht zur
0039Ausführung kommen. Herr Walter sang das Ständchen
0040Eginhard’s, wie er jede lyrische Arie singt, unübertrefflich;
0041für die stürmische Arie der Florinde reichte Fräulein For-
0042ster’s
zarte Stimme leider nicht ganz aus. Den nachhaltig-
0043sten Eindruck machte der erwähnte Chor, in welchem abwech-
0044selnd Männer und Frauen ihrer herzlichen Festesfreude in
0045natürlichen, echt österreichischen Rhythmen ungezwungenen Aus-
0046druck geben.


0047Den Fierrabras-Fragmenten folgte eine vollständige Auf-
0048führung von Anton Dvořak’s „Stabat mater“. In seiner
0049thränenreichen Eintönigkeit bildet dieser Text für jeden Com-
0050ponisten eine gefährliche Klippe. Palestrina, dessen Kunst
0051des Contrastes entbehren konnte, hat aus dem Stabat mater
0052ein Musikstück gemacht und darin ein Muster erster Art
0053geschaffen. Je mehr wir uns von ihm gegen die Neuzeit ent-
0054fernen, in welcher der Contrast in der Musik eines der ober-
0055sten Kunstgesetze ist, desto mehr sehen wir die Componisten
0056in Verlegenheit einem Texte gegenüber, der an sich die Ein-
0057förmigkeit selbst ist. Sie zerlegen den Text und suchen die
0058einzelnen Theile verschiedenartig zu gestalten. Je mehr sie
0059das erreichen, desto weniger folgen sie aber den Worten, die
0060doch bei einer Vocal-Composition die Hauptsache sind. Aus
0061diesem Dilemma ist kaum Einer glücklich herausgekommen,
0062so daß es scheint, als sollte man heutzutage überhaupt auf-
0063geben, ein Stabat mater zu componiren. Am wenigsten darf
0064man es so sehr in die Breite gehen lassen, wie Dvořak.
0065Denn zur Composition eines Stabat gehört nicht nur tiefe
0066und wahre religiöse Empfindung und reiche musikalische Er-
0067findungsgabe, sondern auch eine ganz besondere Gestaltungs-
0068kraft, namentlich die Fähigkeit, einen langen, rhythmisch gleich-
0069förmigen Text in die knappste musikalische Form zu fassen.
0070Von diesen Bedingungen erfüllt Dvořak nur die zweite;
0071seine Erfindungsgabe, dieses eigentliche musikalische Talent,
0072mit welchem er in reicherem Maße bedacht ist, als
0073irgend ein moderner Componist, und welches seinen
0074Werken so rasche Verbreitung erworben hat, ist geradezu
0075beneidenswerth; um so bedauernswerther ist sein Mangel
0076an Gestaltungskraft und an Selbstkritik. Er ist mit Leib und
0077Seele in seinem Werke befangen und hat nicht die Fähig-
0078keit, sich über dasselbe zu erheben, es von einem freieren 
0079Standpunkte zu überblicken, im Großen zu formen. Er ar-
0080beitet das Detail aus und vergißt darüber die Hauptsache;
0081und weil er in ganz ausgezeichneter Weise das Orchester
0082zu behandeln versteht, so entfaltet er, unfähig dem Drang
0083seines Talentes zu widerstehen, seine Musikstücke aus dem
0084Orchester heraus, also durchaus instrumental. Das wird
0085bedenklich, wenn man einen Text zu componiren hat, dessen
0086metrische Gestalt ja die musikalische Erfindung leiten soll.
0087In Dvořak’s Stabat mater erscheinen demnach auch vielfach
0088Instrumental-Motive auf die Singstimmen übertragen, gleich-
0089viel ob sie sich zum Texte eignen oder nicht; zahlreiche
0090schlechte, sinnstörende Declamationen sind die Folge davon.
0091Die reiche, von so seltener Begabung zeugende Detailarbeit
0092ist es, die Dvořak’s Werke fast durchgehends charakterisirt.
0093Sie hält das Interesse eines aufmerksamen Zuhörers un-
0094unterbrochen wach, aber einen künstlerischen Vollgenuß läßt
0095sie am Schlusse doch nicht aufkommen; denn für diesen reicht
0096das schönste Detail nicht aus, es ist stets nur das Ergebniß
0097eines wohlgeformten Ganzen. In empfindlicher Weise trat
0098dies beim Stabat mater zu Tage, dessen Text Dvořak 
0099auf zehn langgedehnte, naturgemäß durchaus ruhig be-
0100wegte Nummern vertheilt hat, ohne bestrebt zu sein, die-
0101selben wenigstens in der Klangfarbe sich von einander
0102abheben zu lassen. Jedoch nicht nur allgemeinen musikalischen,
0103sondern auch ästhetischen Anforderungen genügt das Werk
0104nicht. Es ist in seiner ursprünglichen Anlage verfehlt, denn
0105es fehlt ihm die für den Ernst des Textes nothwendige
0106Polyphonie, und seine Melodik ist von ganz weltlicher Art.
0107Die Sprache, die es spricht, ist nicht die Sprache religiöser
0108Empfindung, sondern die sinnlicher Empfänglichkeit und Un-
0109befangenheit; sie ist die Sprache der irdischen Liebe, nicht
0110der göttlichen. Das Werk ist ebensowenig ein kirchliches, wie
0111das Stabat mater von Rossini, und wenn dieses seinen Weg
0112über die ganze musikalische Welt gemacht hat, so verhalfen
0113ihm dazu glänzende äußerliche Eigenschaften, die dem
0114Dvořak’schen Werke abgehen. Dvořak’s „Stabat mater“ hat
0115in England Erfolg gehabt, und dieser scheint die Gesellschaft
0116der Musikfreunde bewogen zu haben, das Werk in Wien 
0117zur Aufführung zu bringen. Aber der Erfolg blieb bei uns
0118aus und konnte so weder die Wahl des Werkes noch die
0119sorgfältige Aufführung unter Hanns Richter lohnen, unter [2]
0120dessen Leitung Orchester, Chor und Soli (Fräulein Forster,
0121Frau Neuda Bernstein, die Herren Walter,
0122Adolfi und Weiß) ihr Bestes zu liefern bestrebt waren.


0123Obiger Bericht unseres Gewährsmannes läßt nichts zu
0124wünschen übrig, als eine kleine Bemerkung über die unheilvolle
0125Zusammenstellung des Programms. Dvořak’s Stabat mater 
0126ist so lang, daß es allein eine gewöhnliche Concertdauer ganz
0127gut ausfüllt. Indem Herr Hanns Richter demselben vier
0128große Nummern aus „Fierrabras“ vorausgehen ließ (er
0129hatte sogar deren sechs angesetzt), rückte er den Schluß des
0130Stabat“ so nahe an die dritte Nachmittagsstunde, daß das
0131erschöpfte Publicum während der letzten Nummern schaaren-
0132weis flüchtete. Es ist dies eine mit den Wiener Lebens-
0133gewohnheiten eng verwachsene, sich stets wiederholende Er-
0134scheinung, die man beklagen, aber als Concertdirector nicht
0135ignoriren darf. Es müßte schon eine außerordentlich lustige
0136Musik sein, bei welcher unser Publicum von halb 1 bis
0137gegen 3 Uhr vollzählig sitzen bliebe. Dazu gehört das
0138Stabat mater nicht, im Gegentheil. Dieser geistliche Trauer-
0139gesang war von der Direction dem sicheren Mißerfolg auch
0140noch dadurch preisgegeben, daß sie vorher unsere Sinne tief
0141in die reizendste Weltlichkeit Schubert’scher Opernmelodien
0142tauchte. Es ist kaum denkbar, daß unser Concertpublicum die
0143neueste Tondichtung eines so hochbegabten Musikers wie
0144Dvořak nicht mit Aufmerksamkeit zu Ende gehört hätte, wäre
0145diese für sich allein — am besten in der dafür prädestinirten
0146Charwoche — uns vorgeführt worden.


0147Von den zahlreichen eben flügge gewordenen Clavier-
0148jünglingen ist Herr Karl Prohaska einer, der uns auf-
0149richtige Freude gemacht hat. Er spielt mit sehr schönem
0150Anschlag, feinem musikalischen Gefühl und einer bedeutenden,
0151dabei nicht virtuosenhaft flunkernden Technik. Wir hörten
0152ihn schwierige, glänzende Compositionen von Chopin, Brahms,
0153Rubinstein vortragen, ohne auch nur ein einzigesmal durch
0154das Hauen, Stechen und Walken, das heute sogar bei jungen
0155Pianistinnen vorherrscht, aufgeschreckt zu werden. Herr
0156Prohaska ist ein sehr ernsthaft arbeitender Musiker, auch,
0157wie wir hören, talentvoll als Componist. Er hat in seinem
0158Concert nichts von seinen eigenen Sachen gespielt, eine Be-
0159scheidenheit, die auch nicht zu den häufigen Tugenden junger
0160Tonsetzer gehört.


0161In dem Philharmonischen Concert vom letzten Sonntag
0162bekamen wir die neue Es-dur-Symphonie (Nr. 2) von Karl
0163Goldmark zu hören. Der große Erfolg, der sie bereits
0164durch viele Städte des Auslandes begleitet hat, ist ihr auch
0165in Wien treu geblieben. Der Componist wurde nach jedem
0166der vier Sätze stürmisch gerufen. In glänzender effectvoller
0167Behandlung aller Kunstmittel, insbesondere der Orchestrirung,
0168bezeichnet dieses Werk einen Fortschritt über Gold-
0169mark’s „Ländliche Hochzeit“ betitelte Erste Symphonie.
0170Welches von beiden Werken an Reiz der Erfindung voran-
0171stehe und einen befriedigenderen Total-Eindruck zurücklasse,
0172dürfte getheilten Ansichten begegnen. Wenn die ganze Es-dur-
0173Symphonie sich auf der Höhe ihres ersten Satzes erhielte,
0174so würden wir keinen Augenblick anstehen, sie hoch über die
0175Ländliche Hochzeit“ und in die Reihe der besten neueren
0176Orchesterwerke zu stellen. Nach seiner freundlichen, idyllischen
0177Stimmung und seinem klaren Fluß dürfte dieser Satz allen-
0178falls auch zu den Illustrationen einer ländlichen Hochzeit
0179passen. Goldmark scheint darin von der Mystik und dem
0180glühenden Pathos seines „Merlin“ auszuruhen, sich zu er-
0181holen; die Themen athmen lebensfreudige Behaglichkeit, ja
0182unverkennbar Schubert’sche Luft. Ihre Entwicklung ge-
0183schieht natürlicher, einheitlicher, maßvoller, als wir von Gold-
0184mark’s Leidenschaftlichkeit erwartet hätten. Nur vorüber-
0185gehend, im Durchführungssatz, sehen wir die Stimmung in
0186einen von dröhnenden Posaunen angefeuerten Aufruhr um-
0187schlagen, dessen Nothwendigkeit wir nicht verstehen. Jeden-
0188falls gehört dieser Allegrosatz zu dem Vorzüglichsten, was
0189Goldmark geschrieben hat; er ist überall des lebhaftesten
0190Anklanges und reiner Wirkung sicher. Dieser Geist der Ein-
0191heitlichkeit und schönen Consequenz verläßt den Componisten
0192leider im folgenden Satz, einem Andante in As-moll, dessen
0193sanft melancholischer Gesang gleich nach dem 12. Tact
0194einem wilden Reißen und Fegen von abgebrochenen
0195Zweiunddreißigstel-Figuren, untermischt mit drohenden
0196Posaunenstößen, Platz macht. Ebenso unerwartet übergeht dieser
0197rabbiate Anfall wieder in ein sanftes Seitenthema in der
0198Dur-Tonart, welches nach kurzer Zeit sich zu einem „quasi
0199Allegretto“ beschleunigt. Noch ein- bis zweimal wechselt das
0200Tempo; wieder beginnt das wilde Schleifen und Reißen der
0201Violinen, um ebenso schnell wie das erstemal zu verschwin-
0202den. Der Satz schließt leise ausklingend. Auch dieses Andante
0203ist reich an einzelnen geistreichen Zügen und Orchester-
0204Effecten, entläßt uns aber schließlich unklar und unbefriedigt,
0205weil es eben kein organisches Ganzes ist. Man möchte es
0206fast einer Opernscene vergleichen, zu welcher uns der Text
0207fehlt. Das Scherzo, ein fliegend rascher Sechsachteltact
0208(E-dur), ist das Effectstück par excellence in dieser Sym-
0209phonie. Es pflegt überall da capo gespielt zu werden; man
0210schien auch hier durch stürmischen Beifall seine Wiederholung
0211erzwingen zu wollen. Ein glitzerndes, flimmerndes Bravour-
0212stück, bei dessen Glanz uns förmlich die Augen übergehen,
0213ein Orchester-Feuerwerk von blendendem Effect und äußerstem
0214Raffinement. Aus diesem Gesichtspunkte mag man das Scherzo
0215bewunderungswürdig finden. Sein eigenster musikalischer
0216Gehalt scheint uns trotzdem nicht schwerwiegend: es sind die
0217wohlbekannten Elfen Mendelssohn’s und Berlioz’, die hier
0218in noch viel reicherem und wunderlicherem Instrumental-
0219gewand (natürlich mit Triangel in den Händen und Sor-
0220dinen auf dem Nacken) vor uns im Wirbeltanze kreisen.
0221Das langsamere Trio klingt nach der raffinirten Phan-
0222tastik des Scherzosatzes recht spießbürgerlich: ein populärer
0223liedmäßiger Satz, von der Solotrompete geblasen! Spielt
0224die Goldmark’sche Symphonie in Säkkingen? Ein kurzes,
0225schwermüthiges Andante, das uns flüchtig den chroma-
0226tischen Jammer von Tristan und Isolde ins Gedächt-
0227niß ruft, leitet rasch in das eigentliche Es-dur-Finale. Auch
0228dieser Zusammenhang will uns durchaus nicht klar werden.
0229Das Hauptmotiv des Finales — drei vom ganzen Orchester
0230gehämmerte Es-Viertelnoten, die ein flatterndes Band von
0231Geigentriolen nach sich ziehen — ist rhythmisch sehr glücklich
0232erfunden. Es scheint eine ähnliche lebensfrohe Stimmung,
0233wie der erste Satz, anzukündigen, nur gesteigerter, enthu-
0234siastischer. Dieser energische Frohsinn überschlägt aber bald
0235in eine zornig verbissene Heftigkeit, die uns in dem
0236Maße abkühlt, als sie sich selber erhitzt. Im Ganzen ist die
0237Wirkung dieses wasserfallartig hinabstürzenden und weislich
0238kurz gehaltenen Finales eine recht kräftige, äußerlich packende.
0239Als Symphoniker ist Goldmark mehr anregend als über-
0240zeugend, mehr blendend als schöpferisch; auf dramatischem
0241Gebiet erscheint er echter und reicher. Das Philharmonische
0242Orchester hat unter Hanns Richter’s Leitung mit der [3]
0243glänzenden Ausführung der Symphonie nicht nur Herrn
0244Goldmark, sondern ebensosehr sich selbst einen Triumph
0245bereitet.


0246Kammersänger Walter hat in seinem zweiten Concert
0247abermals die große Schaar seiner Anhänger versammelt. Er
0248war sehr gut bei Stimme und im Vortrag liebenswürdiger
0249als je. Daß Walter nach so vielen Jahren noch immer un-
0250erreicht dasteht als Liedersänger, ist eine Thatsache, die, über-
0251aus rühmlich für ihn selbst, doch für uns allmälig etwas
0252Besorgnißerregendes annimmt. Will sich denn unter den
0253Wiener Sängern noch immer keiner zeigen, der Anspruch
0254machen könnte, Walter’s Rivale oder Nachfolger zu werden?
0255Von bereits bekannten Liedern sang Walter Dvořak’s 
0256Zigeunerlied“, Grädener’sWandernder Musikant“,
0257Gounod’s „Frühlingslied“, schließlich — mit seiner an-
0258muthigen Tochter Minna Walter — die beiden Duette
0259So lass uns wandern“ von Brahms und „Unter’m Fenster“
0260von Schumann. Das erstere klang frisch und fröhlich, wie
0261es das Gedicht verlangt; das zweite war durch übertriebene
0262Ritardandos ins Sentimental-Theatralische gezogen und musi-
0263kalisch gesprengt. Die von Walter vorgeführten Novitäten jün-
0264gerer Wiener Componisten gehören der Schumann-Brahms’-
0265schen Richtung an; die meisten haben sich in Brahms fest
0266eingebohrt. Die Eigenschaften eines genialen Tondichters, wie
0267Brahms, lassen sich nicht nachahmen; seine Eigenheiten wol.
0268Und diese Eigenheiten werden aus zweiter Hand leicht gefährlich
0269für das Lied, dessen bester Segen, die Einfachheit, unter dem
0270geistreich detaillirenden und tiefsinnig grübelnden Wesen ver-
0271loren geht. Die neuen Lieder zeigten fast alle eine gut decla-
0272mirte, etwas verfaserte Melodie, unter welcher das Clavier
0273mit pikanten Vorhälten, Synkopen, chromatischen und enhar-
0274monischen Kunststückchen eine Art selbstständigen Monolog
0275ausführt. Die Componisten scheinen am meisten darauf be-
0276dacht, daß alles Nebensächliche recht „bedeutend“ und der
0277Charakter des ganzen Liedes möglichst „distinguirt“ sei. Es
0278wäre Thorheit gegen diesen die ganze moderne Liederkunst
0279beherrschenden Zug ankämpfen zu wollen. Erlaubt bleibt
0280immerhin der bescheidene Wunsch, es möchte neben den zahl-
0281reichen Brahms-Nachahmern auch einmal Einer erstehen, der
0282sich Franz Schubert zum Vorbild wählte und dessen
0283klaren, sonnigen Melodienfluß. Freilich, dazu gehören Mittel. 
0284Walter’s Publicum hat übrigens keinen der einheimischen
0285Componisten ohne lebhafte Anerkennung entlassen. Gleich das
0286erste zartempfundene Lied von Robert Fuchs, „Seliger
0287Tod“, wurde zur Wiederholung verlangt. Das nur vierzeilige
0288Uhland’sche Gedicht, das obendrein in jeder dieser vier Zeilen
0289einen neuen, witzigen Gedanken bringt, sträubt sich im
0290Grunde gegen die Musik, welche sich ausbreiten möchte
0291und hier doch nicht ausbreiten darf. Richard Heu-
0292berger
war durch sein auffallend gekünsteltes Lied „Fasse
0293Muth“ nicht von seiner vortheilhaftesten Seite repräsentirt.
0294Am echtesten und liebenswürdigsten gibt sich dieser sehr
0295talentvolle Liedercomponist in seinen graziösen, heiteren, leicht
0296an Volksthümliches anklingenden Gesängen, wie wir sie in
0297seinen „Sechs Liedern“, Op. 24, seinen „Fünf Liedern“,
0298Op. 31, seinen Duetten, Op. 28, u. A. vorfinden. Hier schlägt
0299R. Heuberger manchen ganz neuen Ton an und weiß bei aller
0300Lebendigkeit des Ausdrucks doch der naheliegenden Gefahr
0301des Dramatisirens auszuweichen. Viel Anklang fanden auch
0302zwei ungedruckte Lieder von V. Herzfeld („Lieb war die
0303Nacht“) und von Rottenberg („Lieb’ Seelchen“). Letz-
0304teres gefällt uns weniger als die vier einfacheren und frische-
0305ren Lieder (Op. 1), mit welchen dieser Componist vor einigen
0306Jahren debütirt hat. Herr Dr. Rottenberg ist ein sehr be-
0307gabter und vielseitig gebildeter Künstler, der nicht blos als
0308mustergiltiger Accompagnateur, sondern auch als Solospieler
0309in Walter’s Concert mitwirkte. Mit der Wahl von Beet-
0310hoven’s C-moll-Sonate, Op. 111, hat er seine Kräfte
0311allerdings überschätzt. Dieses Stück, das wir bisher nur von
0312Bülow und Rubinstein gehört haben, ist technisch wie
0313geistig eine der schwierigsten Aufgaben, die es überhaupt in
0314Clavier-Literatur gibt. Den höchsten Rang in Walter’s Pro-
0315gramm behaupteten Brahms und Dvořak. Von den
0316drei Brahms’schen Manuscript-Liedern: „Schwalbe sag’“,
0317Ständchen“ und „Melodien“ ist eines köstlicher als das
0318andere. Walter, der sie unvergleichlich singt, mußte sie alle
0319wiederholen. Von Dvořak waren „Gute Nacht“ und „Die
0320Mäherin“ neu; originelle und reizvolle Lieder, von jenem
0321weichen Hauch slavischer Schwermuth angeweht, der Dvořak’s
0322Musik charakterisirt. Sie sind den „Vier Liedern im Volks-
0323ton“, Op. 73, entnommen, welche wir bei einer früheren
0324Gelegenheit unseren Lesern empfohlen haben.