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Neue Freie Presse
Morgenblatt
Nr. 8636. Wien, Samstag, den 8. September 1888

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Musikalisches aus München.


0002Ed. H. Man kommt gern und immer wieder gern nach
0003München, das uns jederzeit ein Sümmchen künstlerischer Ein-
0004drücke und Anregungen mitgibt auf die Heimreise. In diesem
0005Sommer vollends sprudelten sie in reicher Fülle. Neben den
0006altberühmten Kunstschätzen dieser Stadt zogen zwei große
0007Ausstellungen ganz verschiedenen Charakters eine unablässig
0008wogende Menschenmenge herbei. Das Hoftheater blieb hinter
0009dessen Anlockungen nicht zurück. In den sechs Tagen, die ich
0010hier verlebte, hat das Residenz-Theater, dieses Juwel unter
0011den kleinen Schauspielhäusern, Goethe’s „Tasso“ und „Die
0012Geschwister“, Shakespeare’s „Widerspänstige“, Sardou’s
0013Ferréol“ und Ibsen’s hochinteresstantes Zeitgemälde: „Die
0014Stützen der Gesellschaft“, gebracht, während daneben im
0015großen Hoftheater Goethe’s „Faust“, Wagner’s „Siegfried“,
0016Tannhäuser“ und „Die Feen“, endlich „Der Barbier von
0017Bagdad“ von Cornelius gegeben wurden. Für die nächsten
0018Abende waren an Opern: Der Freischütz, Verdi’s Otello,
0019Wagner’s Götterdämmerung und „Die drei Pintos“ von
0020C. M. Weber angekündigt.*) Es pulsirt in dem Opern- 
0029und Schauspiel-Repertoire Münchens ein frisches, kräftiges
0030Leben, wie es kaum ein anderes Hoftheater des deutschen
0031Reiches aufzuweisen hat. Werke von altem Adel wechseln mit
0032den besten Schöpfungen der Gegenwart in richtigem Ver-
0033hältniß. Die Vereinigung langjähriger Erfahrung mit noch
0034ungeminderter Schwungkraft und Hingebung verleiht dem
0035Intendanten Baron Perfall ein sicheres Uebergewicht über
0036andere, theils in raschem Wechsel abgelöste, theils in langer 
0037Dienstzeit ermüdete Collegen. Mag ihn, den tüchtigen Musiker
0038und Componisten, immerhin eine stille Vorliebe zur Oper
0039hinziehen, sie unterbindet keineswegs seine Sorgfalt für das
0040Schauspiel, welches, reich bedacht in diesem Sommer, bereits
0041einen Cyklus von Molière’s Comödien und Shakespeare’s
0042Königsdramen für den Winter vorbereitet. In der Oper
0043haben zwei mir noch unbekannte Werke: „Die Feen“
0044von Richard Wagner und der „Barbier von Bag-
0045dad“ von Peter Cornelius, mich vor Allem interessirt.


0046Ueber die „Feen“ hat bereits Freiherr v. Mensi in
0047diesem Blatte so treffend und bündig geurtheilt, daß mir
0048nur von meinem individuellen Eindruck zu erzählen übrig
0049bleibt. Die Münchener Aufführung ist eine Sehenswürdigkeit
0050ersten Ranges; unübertrefflich im Glanz der Costüme und
0051Decorationen, in der Präcision der Maschinerie, in der
0052Plastik der Gruppirungen. Das Alles ist echt künstlerisch.
0053Nur die Hauptsache, die Oper selbst, ist es nicht. Man
0054schwankt, ob man das Textbuch oder die Musik unglücklicher,
0055ob man den Dichter oder den Componisten schuldiger nennen
0056soll an der grenzenlosen Langweile, welche diese Feen über
0057uns verhängen. Die Handlung ist ein Kindermärchen —
0058nein, ein kindisches Märchen, das, von keinem tieferen Sinn ge-
0059tragen, uns Geist und Gemüth aushungert, nur das Auge
0060blendet und das Ohr betäubt. Ein junger König, Arindal,
0061hat sich in eine Fee Ada verliebt, die ihm auf der Jagd als
0062Hirschkuh aufgestoßen ist. Sie liebt ihn wieder und möchte
0063seinetwillen herzlich gern auf die langweilige Unsterblichkeit
0064verzichten. Allein die übrigen Feen und der Feenkönig wollen
0065es nicht dulden und verhängen über das Liebespaar eine
0066Reihe schwerster Prüfungen. Ada muß verschiedene empörende
0067Gräuel an Arindal begehen, ohne daß dieser in seiner Liebe
0068dadurch wankend würde. „Schwöre, daß du mir niemals
0069fluchen wirst!“ ruft Ada. — „Nein, schwöre nicht!“ setzt sie
0070gleich hinzu, denn wenn Arindal „den harten Schreckenseid
0071nicht hält“, so muß er untergehen und Ada auf hundert
0072Jahre in einen Stein verwandelt sein. Der Liebhaber leistet
0073den Schwur und kehrt in sein von Feinden verwüstetes
0074Land zurück. Ada folgt ihm dahin, wirft seine zwei Kinder
0075vor seinen Augen ins Feuer, vernichtet seine Krieger und
0076verräth ihn dem Feinde. Nun flucht er ihr und wird wahn-
0077sinnig. Das genügt aber den Feen nicht; sie möchten ihn,
0078der doch noch eines Tags gefährlich werden könnte, 
0079dem sicheren Tod entgegenführen. Zwei Feen, von
0080denen die erste den duftenden Namen Farzana führt,
0081geleiten ihn in die Schreckenschlucht, aus welcher
0082er die versteinerte Ada erlösen soll. Da nimmt die
0083Handlung unerwartet eine ans Komische streifende Wendung.
0084Bisher mußten wir die Feen und den Feenkönig für all-
0085mächtig halten; sie haben den ganzen Abend auf das bös-
0086artigste gehext, die Ada und den armen Arindal mit jed-
0087wedem Unheil geschlagen, ohne daß Jemand sie im mindesten
0088daran zu hindern vermochte. So kann es aber nicht bleiben,
0089wenn die Oper einen guten Ausgang nehmen und das
0090Liebespaar gerettet werden soll. Was thut Wagner? Er läßt
0091ganz zuletzt einen noch mächtigeren Gegenzauberer erscheinen
0092oder vielmehr nur dessen Stimme ertönen zur Rettung der
0093Unglücklichen. Groma heißt dieser Würdige, den wir leider
0094nicht zu sehen bekommen. Arindal wird beim Eintritt in die
0095Kluft heftig von bösen Geistern attaquirt. „Nimm den
0096Schild!“ brüllt Groma aus der Coulisse. Arindal gehorcht,
0097und das Gesindel weicht zurück. Andere, noch scheußlichere
0098Dämonen rücken gegen ihn vor. „Nimm das Schwert!“
0099commandirt Groma von neuem. Und zum dritten und
0100letztenmal: „Nimm die Leier!“ Arindal, eine reine Maschine
0101in den Händen des unsichtbaren Herrn von Groma, thut
0102jedesmal, wie ihm befohlen, erlöst dadurch Ada aus der
0103Versteinerung und wird selber unsterblich. Wir aber bleiben
0104versteinert, und Wagner’s Oper wird nicht unsterblich.


0105Dieses ungenießbare Feen-Ragout hat der junge Wagner 
0106in ein Gebräu von Musik getaucht, aus dem Niemandem
0107die Ahnung einer großen Zukunft aufdämmern würde. Es
0108wäre überaus geschmacklos, wollte man heute dem Compo-
0109nisten des Tannhäuser und der Meistersinger nachtragen,
0110daß er als Zwanzigjähriger eine schlechte Oper geschrieben.
0111Aber merkwürdig bleibt es doch, wie aus diesem ganz un-
0112selbständigen, styllosen und erfindungsarmen Flickwerk der
0113spätere Wagner sich entpuppen konnte. „Die Feen“ sind eine
0114carikirte Nachahmung Weber’s, und zwar nicht des zarten,
0115melodiösen Weber, sondern nur des angestrengt leidenschaft-
0116lichen, wie er in den unruhigsten Partien der Euryanthe 
0117hervortritt. Nicht ein starker, origineller Gedanke, nicht
0118eine reizvolle Melodie, nicht ein aus dem Herzens-
0119grund aufquillender Ton unterbricht das Einerlei die-
0120ser musikalischen Fabriksarbeit. Man möchte diese [2]
0121Musik weniger einem noch ungeschickten jungen Genie zu-
0122schreiben, als vielmehr einem routinirten alten Capellmeister,
0123dem nichts mehr einfällt. Nicht selten hat ein verwegener
0124Jüngling sich an die Composition einer großen Oper ge-
0125macht, blos weil ihm zwei bis drei packende Melodien vom
0126Himmel gefallen sind. Aber ohne eine einzige? Nein! Das
0127spätere Wachsthum Wagner’s, selbst seiner rein melodiösen
0128Ader, ist aus diesem Anfang schier unbegreiflich. In seiner
0129Autobiographischen Skizze“ in Laube’s „Zeitung für die
0130elegante Welt“ (Nr. 5 vom Jahre 1843) sagt Wagner 
0131selbst bei Erwähnung der „Feen“: „In den einzelnen Ge-
0132sangstücken fehlte die selbstständige freie Melodie,
0133in welcher der Sänger einzig wirken kann, während er durch
0134kleinliche, detaillirte Declamation von dem Componisten aller
0135Wirksamkeit beraubt wird. Uebelstand der meisten
0136Deutschen, welche Opern schreiben
.“ Die Stelle
0137ist höchst bezeichnend, noch bezeichnender jedoch, daß Wagner 
0138sie in seinen „Gesammelten Schriften“ (1871) gestrichen
0139hat
! Der selbstständigen freien Melodie“ dürfte schlechter-
0140dings nichts Gutes mehr nachgesagt werden. Musikalisch
0141erinnert an den späteren Wagner allenfalls die schon in der
0142Ouvertüre angekündigte herabsteigende Melodie Ada’s durch
0143ihre nicht beneidenswerthe Aehnlichkeit mit dem Duett-Allegro
0144aus dem fliegenden Holländer: „Was ist’s, das mächtig in
0145mir lebet?“ — ferner der beliebte Mordent, der auch in
0146Wagner’s späteren Opern die sentimentalen Ariosos so alt-
0147modisch kräuselt. Im Großen und Ganzen hat der Feen-
0148Wagner mit dem Componisten des „Tristan“ nichts gemein,
0149als die marternde Weitschweifigkeit und die nervöse Ueber-
0150reizung des dramatischen Ausdruckes, welcher, in lauter
0151Superlativen stammelnd, die Sänger stets in krampfhafter
0152Anstrengung, das Orchester in lärmender Unruhe erhält.


0153Es möchte ungefähr die zwanzigste Wiederholung der
0154Feen“ sein, der ich beiwohnte. Das Haus war zum Er-
0155drücken voll, bei erhöhten Preisen. Und so dürfte es bleiben,
0156bis der große Fremdenzug München im Spätherbst ver-
0157lassen hat und nur die Eingeborenen zurückbleiben, die
0158schwerlich Lust haben werden, sich das Ding ein zweitesmal
0159anzusehen, auch bei gewöhnlichen Preisen. Und woraus er-
0160klären wir uns den enormen Erfolg? Aus einer zweifachen,
0161sehr begreiflichen Neugierde des Publicums: Jedermann will 
0162eine noch unbekannte, aus weiter Verschollenheit gerettete
0163Oper Wagner’s kennen lernen, und Jedermann will die so
0164gepriesene Münchener Ausstattung gesehen haben. Ein auf-
0165richtiges, auch nur theilweises Lob der „Feen“ habe ich selbst
0166aus dem geweihten Munde von Wagnerianern nicht ver-
0167nommen, höchstens eine Klage über den traurigen „Mangel
0168an Pietät“, so die Wiedererweckung dieses Jugendwerkes
0169veranlaßt habe. Ein ungerechter Vorwurf, wie ich glaube.
0170Der Ruhm Richard Wagner’s bedarf heute keiner weiteren
0171Stütze oder Steigerung; die „Feen“ werden denselben nicht
0172erhöhen, aber ebensowenig untergraben, da Jedermann sie
0173als einen ersten Versuch, als eine von Wagner früh über-
0174wundene und verleugnete Phase auffaßt und beurtheilt. Von
0175einer Verletzung schuldiger Pietät kann da nicht die Rede
0176sein. Die „Feen“ tragen München, das bekanntlich viel Geld
0177an Wagner ausgegeben hat, jetzt ihrerseits Geld ein, und das
0178ist das Einzige, wozu sie gut sind.


0179Ungleich anziehender und werthvoller als Wagner’s
0180pomphafte Feenwirthschaft ist eine kleine komische Oper von
0181Peter Cornelius: „Der Barbier von Bagdad“. Man
0182kennt die Geschichte dieses Werkchens, das mit einem gewal-
0183tigen Lärm auf die Welt kam. Es war der Lärm Eines,
0184der mit krachendem Gepolter durchfällt. Liszt, der 1858 in
0185Weimar das Erstlingswerk des jungen Cornelius liebevoll
0186einstudirt und dirigirt hatte, fühlte sich durch die rücksichts-
0187lose einstimmige Ablehnung desselben so tief verletzt, daß er
0188sich sofort vom Theater zurückzog. So mächtig hatte der
0189Sturz dieser Oper widerhallt, daß allen Bühnenleitern davon
0190die Ohren gellten und sie zehn Jahre lang vor dem „Bar-
0191bier“ scheu auswichen, wie vor einer gefüllten Bombe. Wie
0192solle nicht vor dreißig Jahren eine komische Oper befremden,
0193welche das massive musikalische Rüstzeug Wagner’s und Ber-
0194lioz’ dem Körperchen eines kleinen Lustspiels auflud und den
0195Hörern eine in diesem Genre ganz ungewohnte geistige An-
0196strengung zumuthete! Man könnte den „Barbier von Bagdad“
0197füglich einen schüchternen Vorläufer der „Meistersinger“
0198nennen. Der Vorläufer ward jedoch die Treppe herabgeworfen
0199und ist erst später durch die von den Meistersingern weit
0200geöffnete Pforte wieder ans Licht emporgekommen. Nachdem
0201einmal das Publicum mit Wagner’s Meistersingern be-
0202freundet war, deren Styl sich zur älteren komischen Oper 
0203etwa verhielt wie Frescomalerei zu Miniatur-Bildern, da
0204erinnerten sich die Theater-Directoren auch des „Barbier von
0205Bagdad“. Cornelius selbst hat diesen günstigen Umschwung
0206leider nicht mehr erlebt; sein „Barbier“ aber ist wieder
0207lebendig geworden und treibt heute auf zahlreichen Bühnen,
0208am erfolgreichsten wol auf der Münchener, sein lustig Hand-
0209werk: Cornelius besitzt nicht die originelle schöpferische Kraft,
0210welche die großen Ensembles wie die schönsten lyrischen Par-
0211tien der „Meistersinger“ charakterisirt; hingegen verräth er
0212in der Behandlung des Komischen mehr Natürlichkeit und
0213Anmuth als Wagner, dessen Komik fast immer gezwungen,
0214übertrieben und schwerfällig wird. Wenn Cornelius in einem
0215Briefe äußert, daß seine Melodienbildung „auf dem
0216Wagner’schen Wege geht, ohne im mindesten platte Nach-
0217ahmung zu sein“, so entspricht dies vollkommen der Wahr-
0218heit. Man stößt in seiner Oper auf keine directen Wagner-
0219Reminiscenzen, obgleich ihre ganze Atmosphäre mit Wagner 
0220imprägnirt ist; mit Wagner und Berlioz, dessen „Römischer
0221Carneval“ in der Ouvertüre unverkennbar nachklingt. Als
0222ein starkes, ursprüngliches Musikgenie erscheint uns Cornelius 
0223nicht, am wenigsten als ein melodiös üppiges; wol aber ist
0224er ein feiner, beweglicher Geist, der auch gewöhnliche Melo-
0225dien interessant zu machen versteht durch pikante Rhythmik
0226und Harmonisirung. Von diesem scharfen Gewürz, zu wel-
0227chem wir auch den sehr häufigen Tactwechsel rechnen, nimmt
0228er gerne eine volle Hand; Bizarres und Uebertriebenes bringt
0229er häufig, Triviales niemals. Die Person des Barbiers von
0230Bagdad bildet eine Art Gegenstück zum Barbier von Sevilla.
0231Beide sind Schwätzer: Figaro ein jugendlich lustiger, Abul
0232Hassan ein alter, lehrhafter, pathetischer. Letzterer ist eine
0233ganz neue, originelle Figur; er erinnert in seiner drolligen
0234Feierlichkeit an Bodenstedt’s köstlichen Mirza-Schaffy, in
0235seiner Virtuosität des Reimens an den Abu-Seïd von Rückert.
0236Das Komische und das Sentimentale sind in Cornelius’
0237Oper glücklich verschmolzen, und was ihr mehr noch als
0238manche reizende Einzelheit zur Zierde gereicht, ist der ein-
0239heitliche Zug von Liebenswürdigkeit und geistreicher heiterer
0240Laune, welcher das Ganze durchströmt.


0241Noch eine dritte verschollene Novität bekam ich in
0242München zwar nicht zu hören, aber doch zu lesen: Meyer-
0243beer’s
Composition des vom Könige Ludwig I. verfaßten [3]
0244Gedichtes „Der bayrische Schützenmarsch“. Der interessante
0245Bericht, welchen Herr Legationsrath Trost in der „Neuen
0246Freien Presse“ darüber veröffentlicht hatte, machte mich be-
0247gierig, jene bisher verloren geglaubte Partitur einzusehen.
0248Sie ist für Männerstimmen (Chor und Soli) geschrieben,
0249mit Begleitung eines stark besetzten Orchesters von Blech-
0250instrumenten nebst großer Trommel, Tambour und Becken.
0251Die Composition, die füglich eine Cantate heißen darf,
0252stimmt aus dem Jahre 1829, da Meyerbeer bereits am
0253Robert“ arbeitete und sein Talent in frischer Blüthe stand.
0254Trotzdem dürfte sie heute wenig befriedigen. Der Fluch der
0255„Gelegenheitsmusik“ lastet darauf; mühsam arbeitet sich der
0256Componist in eine künstliche Begeisterung hinein, welche kein
0257Echo in uns weckt. Beethoven’sGlorreicher Augenblick“,
0258Weber’sKampf und Sieg“ und so viele andere Gelegen-
0259heits-Cantaten zeigen dieselbe Mischung von Ueberanstrengung
0260und Nüchternheit, von fliegender Hitze und raschen Ermatten
0261— und doch waren sie mitten in der weltgeschichtlichen „Ge-
0262legenheit“ selbst entstanden. Wie schwer mußte es aber
0263Meyerbeer werden, sich in den längst verrauchten Zorn
0264König Ludwig’s gegen den siegreichen Bonaparte hineinzu-
0265leben, sechzehn Jahre nach der Schlacht bei Leipzig!
0266Ein glücklicher Griff Meyerbeer’s war es jedenfalls,
0267einen alten, original bayrischen Scharfschützenmarsch in
0268flottem Sechsachteltact zum Hauptmotiv zu machen.
0269Dieser Marsch, vom Blechorchester allein geblasen, erscheint
0270zuerst als selbstständige Introduction, kehrt dann refrainartig
0271nach den meisten Strophen wieder und läßt sich sogar zum
0272Schluß als Fugenthema brauchen. Er ist das erfrischende,
0273populäre Element und überhaupt das Beste in der ganzen,
0274ziemlich umfangreichen Cantate. Für die elegischen Stellen
0275hingegen findet Meyerbeer nur den Ton zopfig süßlicher
0276Sentimentalität; für die pathetisch erregten, herausfordern-
0277den, nur gewaltsam modulirende verbrauchte Opern-
0278phrasen. Es fehlt die Natürlichkeit, die Ueberzeugung, die
0279Wahrheit. Ob ein tüchtiger Männergesang-Verein es nicht
0280trotzdem wagen möchte, seiner Novitätennoth durch eine Auf-
0281führung dieses historischen Curiosums momentan abzuhelfen,
0282ist eine andere Frage. Auf einen hilfreichen Geist dürfte
0283das Unternehmen wahrscheinlich zählen, auf denselben, der
0284jetzt Wagner’s „Feen“ beschützt: die Neugierde.

Fußnoten
  • *)Eigentlich sind es nicht „3 Pintos“, sondern nur 1/3 Pinto,
    was man jetzt als „Weber’s nachgelassene komische Oper“ auf den
    deutschen Bühnen zu hören bekommt. Weber hat blos sieben Num-
    mern dieser Oper in flüchtigen Skizzen hinterlassen; die übrigen vier-
    zehn Nummern, also zwei Drittheile des Werkes, sind theils aus
    alten Liedern Weber’s, die mit den „Drei Pintos“ gar nichts zu
    schaffen haben, zusammengestoppelt, theils von Herrn August Mahler 
    hinzucomponirt.