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Neue Freie Presse
Abendblatt
Nr. 8696. Wien, Donnerstag, den 8. November 1888

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Neue Werke über Musik.

Angezeigt von Ed. H.

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0003Beethoven-Literatur. „Zweite Beethoveniana.
0004Nachgelassene Aufsätze von Nottebohm.“ (Leipzig bei Rieter-
0005Biedermann, 1887.) Dieser 600 Seiten starke Band bildet eine
0006Fortsetzung der früher erschienenen „Beethoveniana“ von Notte-
0007bohm und enthält nicht weniger als 65 Aufsätze über einzelne
0008Beethoven’sche Compositionen. Es sind größtentheils Forschungen,
0009Combinationen, Richtigstellungen, welche Nottebohm auf Grund
0010von Beethoven’s eigenhändigen Skizzenbüchern niedergeschrieben
0011und deren Sichtung und Herausgabe nach Nottebohm’s Tod Herr
0012Eusebius Mandyczewski, der gegenwärtige Archivar und
0013Bibliothekar der „Gesellschaft der Musikfreunde“, übernommen hat.
0014Mit Recht betont er in der Einleitung die große Wichtigkeit der
0015Arbeitsbücher und Skizzenblätter Beethoven’s für den Musik-
0016historiker und Kritiker. Aus ihnen ergibt sich fürs Erste die
0017genaue Compositionszeit sehr vieler Werke; sie machen uns ferner
0018mit künstlerischen Absichten und Plänen des Meisters bekannt,
0019von denen wir sonst keine Kenntniß hätten; endlich ge-
0020währen sie einen Blick in Beethoven’s Werkstätte. Beethoven 
0021ist der einzige von unseren großen Componisten, welcher durch
0022seine Skizzenbücher dem Forscher solchen Vortheil gewährt. Von
0023allen anderen großen Tondichtern besitzen wir nichts Aehnliches;
0024sie haben gar nicht oder im Vergleiche mit Beethoven sehr wenig
0025skizzirt. Beethoven, der langsam und mühsam gearbeitet hat, oben-
0026drein fast immer an mehreren Werken zugleich, brauchte solche
0027Skizzenbücher, in welchen er seine ursprünglichen, plötzlich ent-
0028standenen Gedanken fixirte und vielfach wendete, änderte, bevor
0029sie die endgiltige Form erhielten. So veranschaulichen die Skizzen
0030Beethoven’s das bruchstückweise Entstehen und langsame Heran-
0031wachsen einer Composition. Aus dem vorhandenen Material ge-
0032winnt Nottebohm hier ein chronologisches Ergebniß, dort einen
0033Ueberblick über Beethoven’s Thätigkeit innerhalb eines gewissen
0034Zeitraumes, an anderen Stellen wieder einen Einblick in die
0035Gedankenwerkstatt des Meisters. Die Darstellung ist durchaus
0036kurz und sachlich. Eine Unterhaltungs-Lectüre sind die „Zweiten
0037Beethoveniana“ ebensowenig wie die Ersten; nicht einmal eine
0038zusammenhängende Lectüre. Aber für den Fachmusiker, insbeson-
0039dere für den echten Beethoven-Verehrer, den jede Jahreszahl, jede
0040Lesart, jede Correctur des Meisters interessirt, ist das Buch von
0041großem Werth.


0042Noch einmal müssen wir mit nachdrücklicher Anerkennung
0043den Namen Mandyczewski’s in Zusammenhang mit
0044Beethoven nennen. Mandyczewski (nebenbei bemerkt, der einzige
0045Oesterreicher, dem die Auszeichnung wurde, unter die selbststän-
0046digen Herausgeber der großen Härtel’schen Gesammt-Ausgabe von
0047Beethoven’s und Schubert’s Werken gewählt zu werden) hat auch
0048den kürzlich erschienenen Supplementband von Beetho-
0049ven’s Werken redigirt. Welch unvermutheter Schatz! Man staunt,
0050wie viele bisher ungedruckte oder doch verschollene Compositionen
0051Beethoven’s neuestens ans Licht gebracht worden sind und nun in
0052diesem starken Folioband uns vorliegen. Den Anfang machen die
0053beiden großen Cantaten aus Beethoven’s Jugendzeit auf den Tod
0054Kaiser Joseph’s II. und auf die Erhebung Leopold’s II. zur
0055Kaiserwürde. Es folgen Chöre, Arien, Lieder, theils mit Clavier- 
0056theils mit Orchester-Begleitung. Märsche und Polonaisen für
0057Militärmusik, ein Trio für Clavier, Flöte und Fagott, eine
0058Sonate und ein Adagio für die Mandoline, endlich eine Anzahl
0059kleiner Clavierstücke. Darunter insbesondere einige Ecossaisen,
0060Allemanden und Walzer, ganz reizend und uns um so merkwür-
0061diger, als die schönsten aus Beethoven’s letzten Jahren (1824 
0062und 1826) herrühren.*)


0067Wenden wir uns von den Schöpfungen Beethoven’s zu seiner
0068Persönlichkeit, so finden wir neue Aufschlüsse in einem bei Gerold 
0069in Wien erschienenen, höchst elegant ausgestatteten Buche von
0070Dr. Theodor Frimmel, betitelt, „Neue Beethoveniana“.
0071Außer einer stattlichen Anzahl von zum Theile noch ungedruckten
0072Briefen Beethoven’s gibt uns Dr. Frimmel zwei interessante Auf-
0073sätze: „Beethoven als Clavierspieler“ und „Beethoven in Möd-
0074ling“, eine fleißige Zusammenstellung der (mitunter recht ab-
0075weichenden) Schilderungen, welche Beethoven’s Zeitgenossen von
0076dessen äußeren Erscheinung gemacht haben. Eine Reihe vorzüg-
0077licher Heliogravüren bringt uns sämmtliche Porträts und Büsten
0078Beethoven’s aus seinen verschiedenen Lebensepochen zur Anschauung.


0079Vierteljahrschrift für Musikwissenschaft.“
0080(Leipzig, Breitkopf & Härtel.) Diese von Fr. Chrysander,
0081Ph. Spitta und Guido Adler herausgegebene Zeitschrift
0082beendet mit ehrendem Erfolg ihren vierten Jahrgang. Ihr streng
0083wissenschaftlicher Charakter schließt selbstverständlich den großen
0084Leserkreis jener Musikliebhaber aus, welche weder hinreichende
0085Lust noch Vorbildung besitzen, um antiquarischen und archivali-
0086schen Forschungen in frühere Jahrhunderte zu folgen oder in
0087physikalisch-mathematische Berechnungen und gelehrte Detailfragen
0088sich zu vertiefen. Der wissenschaftlich gebildete Musiker wird aber
0089in jedem Heft wertholle belehrende Arbeiten finden. Es fehlt
0090übrigens auch nicht an Aufsätzen, welche Interessen der Gegen-
0091wart berühren. Da bringt gleich das erste Heft dieses Jahr-
0092ganges einen vortrefflichen Aufsatz Chrysander’s über den
0093kürzlich verstorbenen Director der Berliner Sing-Akademie, Eduard
0094Grell, dessen bis zur Absurdität sonderbaren Ansichten über die
0095Schädlichkeit der Instrumental-Musik, der Orgel, der Temperatur
0096und der Virtuosität schlagend widerlegt werden. Hermann
0097Deiters
, der verdienstvolle Uebersetzer der Beethoven-Biographie 
0098von Thayer, veröffentlicht eine Reihe von Briefen Beethoven’s an
0099dessen Schüler und Freund Ferdinand Ries. In den bekannten
0100Biographischen Notizen über L. von Beethoven“ von Wegeler 
0101und Ries (1838) hatte Letzterer nicht alle an ihn gerichteten
0102Briefe Beethoven’s mitgetheilt und auch die mitgetheilten nicht
0103vollständig abgedruckt. Deiters hat nun die im Besitz der Enkelin 
0104von Ries befindlichen Original-Briefe eingesehen und veröffentlicht
0105den vollständigen Wortlaut derselben zum erstenmal. Sehr werth-
0106volle, an neuen Aufschlüssen reiche Monographien sind die Essays
0107Rinaldo di Capua“ von Spitta und „Claudio Monte-
0108verdi
“ (so lautet die richtige Schreibart des Namens) von
0109Emil Vogel. Ein Muster liebevoll eingehender, wohl-
0110wollender Kritik liefert Spitta in seinem Aufsatz über
0111den französischen Componisten und Musikhistoriker George Kastner.
0112Ein größerer Aufsatz von Chrysander über „Händel’s
0113Instrumental-Compositionen für großes Orchester“ ist uns nicht
0114blos durch seinen Inhalt werthvoll, sondern auch als ein Beweis
0115von dem erfreulichen Fortschreiten der Händel-Biographie des ge-
0116lehrten Verfassers. Seit Jahren vergeblich wartend auf den
0117Schlußband dieses Werkes, sind wir Chrysander für die aus-
0118drückliche Mittheilung dankbar, daß er „ein langes Schweigen
0119endlich breche“ und seine frühere Thätigkeit zur Beschreibung des
0120Lebens und der Kunst Händel’s wieder beginne. Chrysander ist
0121es auch gelungen, die ursprüngliche Form von Gazzaniga’s Oper
0122Don Giovanni“ (1787) aufzufinden und den Namen des
0123Librettisten, Giovanni Bertati, sicherzustellen. Das war um so 
0124wichtiger, als bekanntlich über das Verhältniß des Mozart’-
0125schen „Don Juan“ zu dem früher componirten von Gazza-
0126niga schon viel hin- und hergeschrieben worden ist. Nach
0127Chrysander’s Darstellung unterliegt es keinem Zweifel, daß
0128Mozart’s Textdichter, L. da Ponte, das Libretto Gazzaniga’s
0129gekannt und stark benützt, freilich auch wesentlich veredelt und
0130gehoben hat. Was Mozart’s Partitur betrifft, so steht sie, bis
0131auf das Zusammentreffen von zwei Tacten (B-dur- und
0132F-dur-Dreiklang zwischen Leporello’s Eingangsarie und Donna
0133Anna’s Worten „Non sperar“) vollkommen selbstständig da. Wer
0134Gazzaniga’s „Don Juan“ durchspielt, der wird sofort die
0135Ueberzeugung haben, daß Mozart nicht von Gazzaniga zu borgen
0136brauchte und auch nicht geborgt hat. Zwischen jenem routinirten
0137Dutzendcomponisten und diesem Genie liegt eine ganze Welt.
0138Der Fall ist also durchaus nicht analog mit dem äußerst „libe-
0139ralen“ Verhalten Händel’s gegen die Werke Urio’s und
0140anderer Componisten. Wir nennen noch aus dem Inhalt der
0141letzten Hefte einen interessanten Aufsatz von Professor Guido
0142Adler
über ein von ihm aufgefundenes, bisher unbekanntes Clavier-
0143Concert (erster Satz) von Beethoven, das aus den Jahren
014417881793 stammen dürfte.


0145Dramaturgie der Oper“ von Heinrich Bult-
0146haupt
. (2 Bände, 1887. Leipzig, Breitkopf & Härtel.) Dieses
0147Buch nennt sich einen „Versuch, aus einigen Meisterwerken
0148unserer deutschen Oper Klarheit über die Lebensbedingungen und
0149Gesetze einer der umstrittensten Erscheinungen der Kunstwelt zu
0150gewinnen.“ Es ist ein Seitenstück zu der „Dramaturgie der
0151Classiker“ desselben Verfassers, das uns die Meisterwerke
0152Shakespeare’s, Lessing’s, Schiller’s und Goethe’s mit liebevoller
0153Vertiefung erklärt und so großen Beifall gefunden hat, daß be-
0154reits eine dritte Auflage nothwendig geworden ist. Wie Bulthaupt 
0155dort das Drama stets in seiner Verbindung mit der Bühne be-
0156leuchtet, so unternimmt er es hier, die Oper zugleich mit musikali-
0157schem, dramatischem und theatralischem Maßstabe zu messen. Auf
0158die beiden letztgenannten Factoren legt der Verfasser nach seinem
0159eigenen Geständniß den größeren Nachdruck, und er thut wohl daran,
0160denn in diesem, dem eigentlich dramaturgischen Gebiet ist er
0161vollkommen zu Hause. In der Musik scheint er uns mehr zu den
0162gebildeten, warmblütigen Dilettanten zu gehören; seine Scheu
0163vor musikalischem Detail verräth dies nicht minder, als der oft
0164überschwängliche Enthusiasmus, womit er die Musik der ihm
0165vorliegenden Opern, und zwar gleicherweise der Mozart’schen
0166wie der Wagner’schen, preist. Es werden in Bulthaupt’s
0167Dramaturgie“ nur deutsche Opern-Componisten behandelt, und
0168zwar im ersten Band Gluck, Mozart, Beethoven und
0169C. M. Weber. Der zweite Band ist (mit Ausnahme eines
0170kürzeren Capitels über Meyerbeer, welcher mit jener Vor-
0171eingenommenheit und Unterschätzung beurtheilt wird, die jetzt
0172Mode ist) ausschließlich Richard Wagner gewidmet, der
0173somit fast ebenso viel Raum bei Bulthaupt einnimmt, wie alle
0174übrigen Componisten zusammen. Die Textbücher Wagner’s er-
0175fahren hier in manchen Einzelheiten eine treffende, viel-
0176fach neue Beurtheilung. Seine Bewunderung Wagner’s hat
0177dem Verfasser nicht die Einsicht in die Schwächen und Wider-
0178sprüche seiner Dichtungen geraubt, noch den Muth, sie aufzudecken.
0179Wir haben diese Seite des Buches, die Kritik der Textbücher
0180Wagner’s, um so anerkennender hervor, als ja die „echten“
0181Wagnerianer auch daran nicht die mindeste Ausstellung zulassen
0182und anstatt ernsthaft zu untersuchen, in Pausch und Bogen be-
0183wundern. Freilich mit der Beurtheilung des Dramatischen bei
0184Wagner ist Bulthaupt’s kritische Strenge und Ruhe vorüber.
0185Ueber Wagner’s Musik schreibt er durchwegs in einem Rausch
0186des Enthusiasmus. Wenn er die Gebrechen des dramatischen Ge-
0187dichtes bloßgelegt hat, nimmt er regelmäßig die Wendung, es habe
0188damit die unbeschreibliche Herrlichkeit der Musik nichts zu schaffen.
0189— Die Analyse der Opern von Gluck, Mozart, Beethoven und
0190Weber bot Herrn Bulthaupt eine dankbare, nur dadurch erschwerte
0191Aufgabe, daß über Don Juan, Fidelio, Euryanthe bereits so
0192viel und so Gutes, ja Erschöpfendes geschrieben ist. Konnte hier
0193die Nachlese an neuen Bemerkungen demnach nicht reichlich aus-
0194fallen, so werden die Leser doch auch in diesen Abschnitten gründ-
0195liche Belehrung finden und sich an dem warmen, nur etwas zu
0196redseligen Vortrage erfreuen. Insbesondere diejenigen Leser, welche
0197viel Zeit haben und einige Vorliebe für häufige Umschreibungen
0198und Wiederholungen von bereits Gesagtem.


0199Der Fall Wagner.“ Ein Musikanten-Problem von
0200Fr. Nietzsche. (Leipzig, bei C. G. Naumann. 1888.) Das
0201Büchlein ist eigentlich ein psychologisches Curiosum. Herr Friedrich
0202Nietzsche war bisher einer der fanatischesten — wie er selbst sagt,
0203„einer der corruptesten“ — Wagnerianer. Das Bayreuther
0204Festspiel erklärte er 1876 für „die erste Weltumseglung im Reiche
0205der Kunst, wobei nicht nur eine neue Kunst, sondern die Kunst
0206selber
entdeckt wurde. Alle bisherigen modernen Künste sind
0207dadurch entwerthet“. Nietzsche’s Sorge war damals nur, „ob die,
0208welche das Festspiel erleben, seiner würdig sein werden“! Ihm
0209galten die Besucher des Wagner-Theaters für „geweihte Zu-
0210schauer, Menschen, die sich auf dem Höhepunkte ihres Glückes
0211befinden“. Und weiter rief er aus: „Lernt es, selbst wieder Natur
0212zu werden, und laßt euch dann mit und in ihr durch meinen
0213Feuer- und Liebeszauber verwandeln! Es ist die Stimme der
0214Kunst Wagner’s, welche so zu den Menschen spricht. Daß
0215wir Kinder eines erbärmlichen Zeitalters ihren Ton zuerst hören
0216durften, zeigt, wie würdig des Erbarmens gerade dieses Zeit-
0217alter sein muß. Mußte die wahre Musik erklingen, weil die
0218Menschen sie am allerwenigsten verdienten, aber am meisten ihrer
0219bedurften?“ Diese und ähnliche Explosionen Nietzsche’s muß man
0220sich ins Gedächtniß rufen, um den vollen Haut-goût seiner neue-
0221sten Versicherung würdigen zu können: „Bayreuth ist große Oper
0222— und nicht einmal gute Oper“; „Wagner gewann die Menge,
0223er verdarb den Geschmack, er verdarb selbst für die Oper unsern
0224Geschmack.“ Der Nietzsche von heute verhöhnt den „Bayreuther
0225Cretinismus
“ und wirft geradezu die Frage auf: „War
0226Wagner überhaupt ein Deutscher? Es ist schwer, in ihm
0227einen deutschen Zug ausfindig zu machen.“ Kaum kann man vor
0228Ueberraschung weiterlesen. Denselben Wagner, den er vordem als
0229das Höchste in der Kunst, als einen Heiland gepriesen, nennt
0230Nietzsche heute einen alten Zauberer, eine kluge Klapperschlange,
0231einen großen Schauspieler, einen modernen Cagliostro, einen alten
0232Räuber, der uns die Jünglinge und unsere Frauen raubt und
0233sie in seine Höhle schleppt. „War Wagner überhaupt ein
0234Musiker?“ fragt Nietzsche. „Jedenfalls war er etwas Anderes
0235mehr: nämlich ein unvergleichlicher Histrio. Er gehört wo
0236anders hin, als in die Geschichte der Musik; mit deren großen
0237Echten soll man ihn nicht verwechseln. Wagner und Beethoven 
0238— das ist eine Blasphemie ... Wagner war nicht Musiker
0239von Instinct. Dies bewies er damit, daß er alle Gesetzlichkeit und,
0240bestimmter geredet: allen Styl in der Musik preisgab, um aus
0241ihr zu machen, was er nöthig hatte, eine Theater-Rhetorik, ein
0242Mittel des Ausdrucks, der Geberden-Verstärkung, der Suggestion,
0243des Psychologisch-Pittoresken ... Wagner’s Musik, nicht vom
0244Theatergeschmacke, einem sehr toleranten Geschmacke, in Schutz
0245genommen, ist einfach schlechte Musik, die schlechteste vielleicht, die
0246überhaupt gemacht worden ist. Wenn ein Musiker nicht mehr bis
0247Drei zählen kann, wird er „dramatisch“, wird er „wagnerisch“.
0248Der Kern von Nietzsche’s Betrachtungen liegt in dem Ausspruche,
0249Wagner sei „der Künstler der Decadence, ein typischer Decadent,
0250der sich nothwendig in seinem verderbten Geschmacke fühlt, der 
0251mit ihm einen höheren Geschmack in Anspruch nimmt, der seine
0252Verderbniß als Gesetz als Fortschritt, als Erfüllung in Geltung
0253zu bringen weiß.“ „Wagner macht Alles krank, woran er rührt
0254— er hat die Musik krank gemacht... Wagner ist ein
0255großer Verderb für die Musik. Er hat in ihr das Mittel er-
0256rathen, müde Nerven zu reizen. Er ist der Meister hypnotischer
0257Griffe. Der Erfolg Wagner’s — sein Erfolg bei den Nerven
0258und folglich bei den Frauen — hat die ganze ehrgeizige Musiker-
0259welt zu Jüngern seiner Geheimkunst gemacht. Und nicht nur die
0260ehrgeizige, auch die kluge. Man macht heute nur Geld mit
0261kranker Musik; unsere großen Theater leben von Wagner.“ Sehr
0262Vieles von dem, was Nietzsche gegen Wagner anführt, ist ohne
0263Frage vollkommen richtig; es ist auch nicht neu, nur neu aus
0264dem Munde Nietzsche’s, des bedeutendsten und geist-
0265reichsten Wagnerianers von ehedem. Aber auch die Wahrheiten,
0266die er ausspricht, müssen durch die Frivolität und den bellenden
0267Styl seiner Schrift an Wirkung einbüßen. „Krankhaft“, wie er
0268Wagner nennt, ist Nietzsche selber. Und wenn er (S. 33) sich
0269über den Größenwahn Wagner’s lustig macht, so durfte er,
0270Nietzsche, nicht in Einem Athem von sich selbst rühmen: „Ich
0271habe den Deutschen die tiefsten Bücher gegeben, die sie überhaupt
0272besitzen!“


0273Briefe von Felix Mendelssohn-Bartholdy
0274an Ignaz und Charlotte Moscheles
.“ Herausgegeben
0275von Felix Moscheles. (Leipzig 1888, bei Duncker & Humblot.)
0276Man kann nicht gerade behaupten, daß diese Briefsammlung uns
0277neue Seiten von Mendelssohn aufzeigt; steht doch das Bild
0278dieses geistvollen, liebenswürdigen Menschen und Künstlers bereits
0279in seinen zahlreichen, früher veröffentlichten Briefen längst so
0280unverrückbar fest, daß kaum ein neuer Charakterzug noch hinzu-
0281kommen konnte. Trotzdem hat auch dieser schriftliche Verkehr
0282zwischen zwei durch langjährige, treueste Freundschaft verbundenen
0283ausgezeichneten Tonkünstlern einen ganz eigenen Reiz. Die Be-
0284kanntschaft der Beiden begann damit, daß der 1824 auf einer
0285Kunstreise in Berlin verweilende Moscheles von Mendelssohn’s
0286Mutter ersucht wurde, dem fünfzehnjährigen Felix einigen Unter-
0287richt zu geben. Moscheles erfüllte diesen Wunsch, schrieb
0288aber sofort in sein Tagebuch, er verkenne es keinen Augen-
0289blick, daß er neben einem Meister, nicht neben einem Schüler
0290sitze. Das Verhältniß zwischen Lehrer und Schüler verwandelte
0291sich bald in ein dauerndes Freundschaftsbündniß. Am innigsten
0292gestaltete sich dasselbe in London, wo Mendelssohn wiederholten
0293längeren Aufenthalt nahm und bei Moscheles wie ein Sohn des
0294Hauses verkehrte. Nicht ohne Staunen vernehmen wir aus diesen
0295Briefen unter Anderm die Thatsache, daß von dem bei Novello
0296verlegten ersten Hefte der „Lieder ohne Worte“ (von Mendels-
0297sohn, damals „Melodies for the Pianoforte“ benannt) in Jahres-
0298frist nur 48 Exemplare verkauft waren und volle vier Jahre
0299nach der Herausgabe im Ganzen nur 114 Exemplare. Mendels-
0300sohn erbittet sich häufig Moscheles’ Rath und Urtheil über seine
0301Compositionen. Wie streng und bescheiden er über sich selbst
0302urtheilte, beweist folgende Briefstelle: „Meine eigene Armuth an
0303neuen Wendungen fürs Clavier ist mir wieder recht bei
0304diesem Rondo aufgefallen; die sind es, wo ich immer stocke und
0305mich quäle, und ich fürchte, du wirst es bemerken. Einige
0306Stellen gefallen mir ganz gut; aber wie ich’s anfangen
0307soll, mal ein ordentliches ruhiges Stück zu machen (und
0308ich erinnere mich wohl, daß du mir gerade, das im
0309letzten Frühjahr empfahlst), das weiß ich gar nicht.“ Ueber neue
0310Compositionen tauschen die beiden Freunde ihre Meinungen auf-
0311richtig und unumwunden aus. Dergleichen Urtheile Mendelssohn’s,
0312der gegen andere Correspondenten viel zurückhaltender war, als
0313gegen Moscheles, sind von ganz besonderem Interesse. So schreibt
0314er im August 1835 über Liszt’s Harmonies: „Ich hatte das
0315Ding schon in Düsseldorf kennen gelernt und gleichgiltig beiseite
0316gelegt, weil mir’s sehr dumm vorkam; aber wenn das Zeug Auf-
0317sehen macht oder gar Anklang findet, ist es freilich verdrießlich.
0318Ich kann mir’s gar nicht denken, daß unbefangene Leute an der-
0319gleichen Mißtönen Freude finden sollten, daß sie es nur irgend
0320interessiren kann; ob es ein paar Recensenten heraustreichen oder
0321nicht, das ist ebenso spurlos wie die ganze Composition. Was
0322mich dabei gewöhnlich verstimmt, ist, daß daneben gar so wenig
0323Gegengewicht aufkommt, denn was unsere Herren Reißiger und
0324Consorten machen, ist in einer andern Art, aber ebenso leer, und
0325was Berlioz schreibt, ist ebensowenig Musik. ... Ich sehe dann
0326in all den Sachen eine doppelte Verpflichtung, fleißig zu
0327sein, um nach meinen Kräften wenigstens das hinzustellen,
0328was mir als Musik vorschwebt. Aber freilich ist es mir zuweilen,
0329als würde ich auch nicht weit genug kommen, und gerade heute
0330ist so ein Tag, wo ich mit meiner Arbeit gar nicht zufrieden bin
0331und mein Oratorium lieber wieder von vorne anfinge.“ (Paulus!)
0332Liest man die Briefe, so voll von freundschaftlicher Beredsamkeit,
0333in welchen Mendelssohn den Freund zu bestimmen sucht, die
0334Stelle als Clavier-Professor an dem neugegründeten Leipziger
0335Conservatorium zu übernehmen, so begreift man, daß Moscheles 
0336mit Freuden zustimmte. Leider war es dem trefflichen Mann nur
0337Ein Jahr lang vergönnt, neben Mendelssohn zu wirken. Ende
0338October 1846 traf er in Leipzig ein, am 4. November 1847 
0339stand er an Mendelssohn’s Sterbebett. Herr Felix Moscheles,
0340der Sohn des trefflichen Clavier-Componisten und Virtuosen und
0341Pathenkind Felix Mendelssohn’s, hat durch die Herausgabe der
0342vorzüglich angeordneten und mit 13 Illustrationen geschmückter
0343Briefsammlung das Andenken seines Vaters und seines Pathen
0344in würdigster Weise geehrt.


0345Franz Liszt.“ Erinnerungen einer Landsmännin von
0346Janka Wohl. (Jena, bei H. Costenoble. 1888.) Die Ver-
0347fasserin hat in Pest viel und anhaltend mit Liszt verkehrt, dessen
0348Vertrauen und Sympathie sie genoß und bei dessen Correspondenz
0349sie häufig behilflich sein durfte. Sie theilt uns manche interessante
0350Thatsachen aus Liszt’s Leben mit, Aussprüche derselben über
0351Musik, Literatur und Personen, auch einige Briefe. Das Büchlein
0352athmet enthusiastische Verehrung für den stets großmüthigen und
0353liebenswürdigen Meister und wird allen Freunden desselben will-
0354kommen sein.


0355Max Hesse’s Deutscher Musiker-Kalender 
0356für das Jahr 1889.“ (Leipzig, bei M. Hesse.) Eines der voll-
0357ständigsten und brauchbarsten Hilfsbüchlein dieser Gattung. Außer
0358den in allen Kalendern vorfindlichen Rubriken bringt der
0359Hesse’sche ein vollständiges Adressen-Verzeichniß der Musiker nicht
0360nur im deutschen Reich, sondern auch in Oesterreich, Italien, der
0361Schweiz u. s. w. Eine sorgfältig zusammengestellte Revue des ge-
0362sammten Concertwesens in Deutschland von 1887/88, sowie acht Por-
0363träts und Biographien neuerer Componisten bilden eine willkom-
0364mene Zugabe.

Fußnoten
  • *)Auch die soeben bei Jos. Eberle in Wien erschienene Volks-
    ausgabe von Beethoven’s Sonaten in 3 Bänden hat den
    Vorzug, von Mandyczewski nach Aufzeichnungen Nottebohm’s
    sorgfältig revidirt zu sein.