Neue Freie Presse
Morgenblatt
Nr. 8703. Wien, Donnerstag, den 15. November 1888
[1]Händel’s „Theodora“.
(Ein Vorbericht.)
0003Ed. H. Es ist nicht die Theodora Sardou’s und der
0004Sarah Bernhardt. Ganz das Gegentheil, eine fromme christ-
0005liche Jungfrau, die für ihren Glauben muthig in den Tod
0006geht. Das Textbuch zu „Theodora“ hat ein englischer Dichter,
0007Thomas Morrell, nach einem französischen Drama für Händel
0008verfaßt, welcher es in der erstaunlich kurzen Zeit vom 28. Juni
0009bis zum 31. Juli 1749 componirte. Dieses Oratorium
0010war Händel’s besonderer Liebling; ein Liebling des Publi-
0011cums soll es erst jetzt werden. Zum erstenmale in London
00121750 aufgeführt und spröde aufgenommen, gerieth es bald
0013in völlige Vergessenheit. In Deutschland wurde „Theodora“
0014zuerst 1841 in der Berliner Sing-Akademie gegeben. Dieser
0015Versuch scheint aber spurlos vorübergegangen zu sein, da
0016Ferdinand Hiller die dreißig Jahre später in Köln
0017veranstaltete Aufführung in gutem Glauben als die erste
0018in Deutschland bezeichnen konnte. Die erste erfolgreiche
0019war sie jedenfalls, auch insofern die erste correcte, als ihr
0020Chrysander’s vollständige Partitur zu Grunde lag, während
0021die Berliner Sing-Akademie sich noch auf die alte fehler-
0022hafte Ausgabe des Dr. Arnold angewiesen sah. Seither sind
0023München (1872) und Stuttgart (1874) dem Vorgange Kölns
0024gefolgt, und jetzt soll auch Wien in „Theodora“ eine der herr-
0025lichsten, eigenartigsten Schöpfungen Händel’s zum erstenmale
0026zu hören bekommen. Es scheint mir hier einer der Fälle
0027vorzuliegen, wo nach Carl Maria Weber’s Anschauung eine
0028Kritik vor der Aufführung nützlicher wirkt, als nach der-
0029selben. Vielleicht findet sich ein und der andere Leser dadurch
0030angeregt, das hier gänzlich unbekannte, an Kraft wie an
0031Zartheit unübertroffene Tonwerk mit erhöhter Aufmerksamkeit
0032zu verfolgen. Die von der „Gesellschaft der Musikfreunde“
0033für nächsten Sonntag angekündigte Aufführung verspricht
0034unter der Direction Hans Richter’s und der Mitwirkung
0035von Frau Materna (Theodora), Frau Papier (Irene
0036und Didimus), Herrn Walter (Septimius) und Herrn
0037Weigand (Valens), dem Werke Ehre zu machen.
0038Der Inhalt des Oratoriums ist folgender. Unter dem
0039römischen Kaiser Diocletian (der deutsche Text verschweigt
0040seinen Namen, der englische beginnt gleich mit demselben)
0041herrscht Valens als Statthalter in Antiochien. Am Geburts-
0042tage des Cäsars veranstaltet er ein großes Fest mit Opfern
0043im Tempel des Jupiter. Harte Strafe soll denjenigen treffen,
0044der seine Betheiligung an der Feier verweigert. Die Auf-
0045forderung kommt an die christliche Gemeinde, die um Theo-
0046dora, „eine Christin von edlem Geschlecht“, versammelt ist.
0047Theodora erklärt, lieber zu sterben, als den heidnischen Göt-
0048tern zu opfern. „Nicht sterben sollst du,“ antwortet ihr
0049Septimius, des Valens Adjutant, „deine Strafe sei der
0050Dienst in Venus’ festlichem Haus!“ Eine Frist wird ihr
0051gewährt; diese will ihr Geliebter Didimus, ein heimlich zum
0052Christenthum bekehrter römischer Officier, zu Theodora’s
0053Rettung benützen. Er hat Einlaß in ihr Gefängniß erlangt
0054und überredet sie, seine Rüstung anzulegen, um unerkannt
0055entfliehen und der ihr angedrohten Schmach entgehen zu
0056können. Glücklich entkommt sie in dieser Verkleidung und eilt
0057zu der um sie klagenden Christengemeinde, die freudig über-
0058rascht die Gerettete empfängt. Didimus aber wird festgenommen
0059und vor den Statthalter geführt. Wuthentbrannt verurtheilt
0060dieser ihn zum Tod; allein auch Theodora soll sterben, wenn
0061man ihrer habhaft werde. Sie hört das, und sogleich ist ihr
0062Entschluß gefaßt: „Es war die Schmach nur, die ich floh,
0063nicht der Tod!“ Sie geht zu Valens, hoffend, durch ihren
0064Bericht den schuldlosen Didimus zu retten. Aber Valens hält
0065an seinem Spruch auch über Didimus fest: Beide seien
0066dem Tod verfallen. So schreiten denn Theodora und Didi-
0067mus muthvoll und erlösungsfreudig dem Schaffot entgegen,
0068während die Christengemeinde ein Preislied auf das junge
0069Heldenpaar anstimmt.
0070Was zunächst an diesem Oratorium aufällt, ist seine
0071durchaus dramatische Anlage. Händel’s Theodora könnte
0072fast unverändert auf der Bühne im Costüm dargestellt wer-
0073den, wie einst die Florentiner Oratorien. Es enthält
0074Scenen, welche geradezu der theatralischen Anschaulichkeit be-
0075dürfen, um ganz verständlich zu sein, z. B. daß Theodora
0076die Rüstung des Didimus anlegt, aus dem Kerker ent-
0077kommt, anfangs in dieser Verkleidung von den Ihrigen
0078für Didimus gehalten wird und Anderes mehr. In vielen
0079Oratorien Händel’s treffen wir dergleichen, die Oper
0080streifende Situationen: in Saul, in Belsazar, vor Allem in
0081Susanna und in Salamo. Theodora jedoch ist dra-
0082matisch von Anfang bis zu Ende; nichts Erzählendes findet
0083Raum, und die auch von Vischer adoptirte Definition des
0084Oratoriums als einer „episch-lyrischen Kunstgattung“ wird
0085hier, wo Episches gänzlich fehlt, hinfällig. Aber nicht blos
0086diese eminent dramatische Anlage und die dadurch verschärfte
0087Individualisirung ist es, was Theodora so eigenartig heraus-
0088hebt aus der Reihe der Händel’schen Oratorien — vielmehr
0089ist’s der wunderbar verklärte Ton, der über dem Ganzen
0090schwebt, die tiefe, innige Einkehr in das geheimste Gefühls-
0091leben. Die Gestalt der Theodora in ihrer anspruchslosen
0092ruhigen Hoheit, in ihrem zarten Empfinden hat kaum ihres-
0093gleichen bei Händel.
0094Machen wir einen flüchtigen Orientirungsgang durch
0095das Oratorium. Den ersten Act eröffnet der Christenver-
0096folger Valens mit einer Arie („Geh’, mein treuer Krieger!“)
0097von kräftiger Charakteristik und wohlthuender Kürze. Es
0098folgen zwei herrliche Chöre der Heiden: der erste, ein echt
0099Händel’scher Jubelchor in D-Dur mit Trompeten und
0100Pauken, stolz zwischen Tonica und Dominante sich wiegend;
0101der zweite („So komme jeder Feind zu Fall!“) von schmet-
0102terndem Hörnerklang belebt, mehr festlichen als wild leiden-
0103schaftlichen Charakters. Doch Valens und seine Schaar treten
0104für uns in den Schatten, sobald Theodora mit der Christen-
0105gemeinde erscheint. Gleich ihre erste Arie in C-moll ver-
0106schmäht die conventionelle alte Arienform mit der Repetition
0107des ersten Theiles, verschmäht jede Fioritur und bewegt sich
0108in ruhiger Schönheit, schlicht, würdig und so gefühlvoll, als
0109es der etwas steife Text („Fahr’, stolze Welt, dahin!“)
0110zuläßt. Die sich anschließende Arie der Irene:
0111„Schnöder Schmeichler nied’rer Hänge“ behandelt in [2]
0112redseligerer und geschmückterer Weise denselben Inhalt. Der
0113Chor der Christen in A-dur („Komm’, gnäd’ger Vater!“)
0114athmet wieder die volle gesunde Kraft Händel’s. Wie schön
0115dieses Thema mit seinem Herabsinken in die Septime, von fis
0116nach gis! Wie kunstreich die Verflechtung der Stimmen, und
0117doch wie klar und durchsichtig! Energischer, rascher schreitet
0118der folgende Chor einher („Die Macht im Himmel“) und
0119entwickelt sich zu breiteren Dimensionen. Die Arie des Sep-
0120timius an die widerspenstigen Christen („Wehe diesem
0121frommen Wüthen!“) schlägt einen mehr heitern als drohen-
0122den Ton an. Abermals ist’s Theodora, die mit einer kurzen,
0123seelenvollen Arie („Engel, ewig licht und klar“) alle früheren
0124Sologesänge verdunkelt. Dieselbe rührende Milde und
0125Glaubenskraft beseelt den Schlußchor dieser Abtheilung („Geh’
0126frommer Jüngling!“) mit seinem so stimmungsvoll verhal-
0127lenden Schluß. — Der zweite Act bildet den Höhepunkt
0128des Werkes und enthält Musikstücke, die in ihrer genialen
0129Eigenart zu den höchsten Inspirationen Händel’s gehören.
0130Wie im ersten Act, so ist auch hier ein heidnischer Chor
0131weislich an den Eingang gestellt, als wirksames Gegenbild zu
0132den darauffolgenden Scenen der Christen. Welche frische und
0133schönheitstrunkene Sinnlichkeit in diesem dreistimmigen Chor zum
0134Preise der Venus! Die Scene wechselt; Theodora im Gefängniß.
0135Wir hören ein merkwürdiges langsames Vorspiel in G-moll;
0136nach je vier gleichen Accorden des Streichquartetts intonirt
0137jedesmal die Flöte allein einen einzelnen klagenden Ton, er
0138weht wie ein Seufzer durch das kurze, in seiner Dürftigkeit
0139unbeschreiblich rührende Ritornell. Theodora’s Arie ist kurz,
0140ohne Repetition, eine innige, von monoton klopfenden Bratschen-
0141tönen durchschauerte Klage, welche in dem Ausrufe: „O rette,
0142Tod!“ gesteigerten Ausdruck erreicht. Wieder ertönt das
0143schwermüthige Ritornell mit der einsam klagenden Flöte,
0144diesmal in E-moll und etwas länger ausgeführt. Es prä-
0145ludirt der zweiten Arie Theodora’s („O könnt dort hinauf
0146ich dringen“), auf die wir in Wien verzichten müssen. Nach
0147einem längeren recitativischen Dialog zwischen Didimus und
0148Septimius, von denen jeder auch eine Arie hat, erfreut uns
0149wieder eines der zartesten Gesangsstücke: die Arie Irenens
0150in E-moll („Wölbt unsichtbar ein schirmend Dach“). Und
0151abermals senkt Theodora’s Stimme sich tief in unser
0152Herz, tiefer und schöner noch, als zuvor. Ihre Arie („Des
0153Kranken Heil“) berührt uns wie eine musikalische Offenbarung:
0154sie ist breit und ununterbrochen hinfließender Gesang, im
0155Gegensatze zu den meisten Händel’schen Arien, welche mit
0156einem kurzen Gesangsmotiv, wie mit einer zu beweisenden
0157These anheben, dann warten, bis die Instrumente es genau
0158wiederholt haben, worauf nach längerem brockenartigen Alter-
0159niren endlich der Sänger mit seinen unvermeidlichen Bravour-
0160passagen den Platz behauptet. Nichts von alledem in dieser
0161Arie Theodora’s, welche als reiner Ausfluß unverschnörkelter
0162Empfindung höchstens in der Arie des erblindeten Samson
0163(„Nacht ist’s umher“) ein ebenbürtiges Seitenstück besitzt. Die
0164ganze Kerkerscene in „Theodora“ ist (bis auf ihre E-moll-
0165Arie) mit vollkommener Freiheit in dramatischem Geist com-
0166ponirt und reich an tiefen, vollen Herzenstönen. Und noch
0167immer folgt Schönes, folgt Herrliches: das Duett zwischen
0168Theodora und ihrem Retter Didimus. Kein frostiger Zier-
0169rath entstellt das zärtliche „Auf Wiedersehen!“, das die
0170Liebenden sich abwechselnd zurufen. Ein großer Chor der
0171Christen beschließt den Act; das einleitende Largo: „Er sah
0172den Jüngling“ übergeht in einen energisch dahinrollenden
0173Allegrosatz: die einzige Gesangsfuge in dem ganzen Ora-
0174torium. Nach einem solchen zweiten Acte war es nicht
0175leicht, einen ebenbürtigen dritten zu schreiben. Eine weniger
0176bemerkenswerthe Arie Irenens leitet diesen ein; Theodora
0177folgt mit einer Arie von edler Einfachheit, nur etwas monoton
0178im Rhythmus („Als tief aus Jammer“). Der sich an-
0179schließende mächtige Chor der Christen („Heil!“) bringt eine
0180wunderbare Ueberraschung: die Stimme Theodora’s unter-
0181bricht ihn wie ein plötzlich einfallender breiter Sonnenstrahl;
0182in langen, langsamen Noten, choralartig, singt sie ganz
0183allein: „Herr, lenke du des Jünglings Pfad“, worauf alle
0184Soprane dieses Motiv aufnehmen und über den figurirenden
0185Chorstimmen weiterführen. Ein Duett, mehr ein Wechsel-
0186gesang, zwischen Theodora und Irene („Wohin willst du
0187fliehen?“) wirkt durch überzeugende Wärme des Ausdruckes
0188bei knapper Form. Noch hören wir eine zornige Arie des
0189Valens, der sich angemessen kurz faßt und seine Rouladen
0190wenigstens mit überschäumendem Verfolgungseifer motiviren
0191kann. Zwei Chöre, zwischen welchen die letzten recitativischen
0192Auseinandersetzungen der Hauptpersonen sich abspielen, sind
0193die letzten vorragenden Nummern dieses Actes. In dem ersten
0194(„O edler Kampf!“) bewundern wir neuerdings Händel’s
0195unerreichte Kunst, polyphone Stimmverflechtung mit voll-
0196kommener Klarheit und populärer Eindringlichkeit des Satzes
0197zu vereinigen. Noch tiefer ergreift uns der Schlußchor der
0198Christen: „Göttliche Liebe!“, ein schlichter Gesang von
0199rührendstem Gottvertrauen, über welchen man nichts weiter
0200zu berichten braucht, als daß Händel selbst diesen Chor höher
0201gestellt haben soll, als das unsterbliche „Hallelujah“ in
0202seinem „Messias“.
0203Das Orchester verwendet Händel durchaus einfach, bei-
0204nahe dürftig nach unseren heutigen Anschauungen. Weitaus
0205die Mehrzahl der Musikstücke in „Theodora“ ist blos vom
0206Streichquartett begleitet; zwölf Nummern (von mehr als
0207vierzig) haben außerdem zwei Oboën aufzuweisen, die jedoch
0208häufig, blos verstärkend, mit den Violinen unisono gehen.
0209Die Begleitung zahlreicher Arien besteht lediglich aus
0210Violinen (unisono) und Bässen, ohne Bratschen, ist dem-
0211nach, abgesehen von der harmoniefüllenden Orgel, blos zwei-
0212stimmig. Trompeten und Pauken kommen in einer einzigen
0213Nummer vor (dem Festchor), Fagotte nur in einer einzigen
0214(dem Duett Theodora’s mit Didimus), Flöten nur einige
0215Tacte lang in der Gefängnißscene, Hörner blos zweimal (in
0216dem Chor: „So komme jeder Feind zu Fall“ und im
0217Venus-Chor). Posaunen und Clarinetten fehlen gänzlich.
0218Daß Händel Flöten, Hörner, Fagotte, Trompeten und Pauken
0219im Orchester gehabt und sie doch nur ganz ausnahms-
0220weise in je einer Nummer zu Wort kommen läßt,
0221erscheint uns heute befremdend. In Scenen, welche wilde
0222Leidenschaft ausdrücken, wie die Arien des Valens, wird unser
0223verwöhntes Ohr das dröhnende Erz vermissen, in anderen
0224Gesängen von sanfter Empfindung die weiche Fülle der Holz-
0225Blasinstrumente. Hofcapellmeister Richter hat sich für den
0226Standpunkt der historischen Genauigkeit und Pietät ent-
0227schieden und, abweichend von Hiller, welcher stellenweise die
0228Instrumentirung verstärkte, die Original-Partitur unverändert
0229beibehalten.
0230Für die Dauer eines Concertes, zumal eines Mittags-
0231Concertes, ist „Theodora“ in ihrer Originalgestalt offenbar [3]
0232zu lang; die Wiener Aufführung wird acht Arien, ein Duett
0233und den kurzen Chor („Menuetto“) zu Anfang des zweiten
0234Actes weglassen. Das letzte Duett zwischen Theodora und
0235Didimus auf ihrem Gang zur Hinrichtung vermissen wir
0236schwer, es bildet auch dramatisch einen letzten Aufschwung der
0237Handlung. Was die übrigen in Wien wegfallenden Nummern
0238betrifft, so tröstet uns die Erwägung, daß sie nicht zu den
0239hervorragendsten der Partitur gehören, vielmehr zu jenen, die
0240mehr Händel’s Factur als Händel’s Genie repräsentiren. Auch
0241in der „Theodora“ mischen sich zwischen duftige, farbenfrische
0242Blüthen hin und wieder vergilbte Blätter. Der erhebenden
0243Wirkung des Ganzen schadet es nicht, wenn man sie ab-
0244streift. Man weiß, daß Händel sich oft wiederholt und daß
0245dies nicht blos in seiner Individualität, sondern überhaupt
0246in der Gewohnheit und Anschauungsweise der älteren Com-
0247ponisten lag. Auch in der „Theodora“ klingt nicht Alles neu
0248was uns Händel darbringt. Wer so außerordentlich viel
0249producirte, wie Händel, und ein ganzes Oratorium gewöhn-
0250lich in drei bis vier Wochen fertig machte, der konnte un-
0251möglich immer Neues und Originelles bringen, noch bei
0252jeder Nummer den Genius an seiner Seite haben. Man mag
0253sich schweren Herzens zu Kürzungen entschließen, aber das
0254öffentliche Kunstleben unterliegt Geboten von zwingender Noth-
0255wendigkeit, deren Verletzung sich gemeiniglich an dem Kunstwerke
0256selbst rächt. Die Pietät, Händel’s „Theodora“ unverkürzt
0257anzuführen, würde ich vermuthlich damit belohnt sehen,
0258daß nur eine Handvoll Zuhörer ausharren und auch diese
0259in einer Reihe absteigender Stimmungen bis zur tödtlichen
0260Ermattung anlangen würden — ein Zustand, in welchem
0261man bekanntlich so gut wie nichts mehr hört. In einem Auf-
0262satze über „das Gesetz der Ergänzung in den Künsten“ er-
0263zähl W. H. Riehl von einer vollständigen Aufführung des
0264Schiller’schen „Don Carlos“ in München, welche von 6 Uhr
0265bis nach Mitternacht dauerte und der fast alle Zuschauer bis
0266zu Ende treu blieben. Es werde schon die Zeit kommen,
0267meint Riehl, wo wir auch Bach’s „Matthäus-Passion“ und
0268Händel’s „Messias“ ohne jede Kürzung hören werden und
0269wo der Freund der Poesie uns Musikfreunde beneiden wird,
0270weil wir dann eine sechshalbstündige Passion haben werden,
0271und er nur einen fünfhalbstündigen Don Carlos.“ Riehl über-
0272sieht ganz, daß die Fassungskraft des Zuschauers im Drama eine
0273ganz andere, ausdauerndere ist, als die des Zuhörers im Concert.
0274Im Schauspiel ist unsere Mitthätigkeit eine viel ruhigere,
0275verstandsmäßigere, als bei der Musik, deren sinnliche Macht
0276ungleich aufregender und trotz dieser Aufregung doch weit
0277einförmiger, einseitiger wirkt. Dort bietet neben dem gespro-
0278chenen Wort die vor unseren Augen vorschreitende Hand-
0279lung, das farbenbunte Leben der Decorationen und Costüme,
0280das charakteristische Spiel der Darsteller eine so reiche Ab-
0281wechslung und stetige Auffrischung, daß wir einem fünfstün-
0282digen Drama viel leichter bis zu Ende aufmerksam folgen können,
0283als einem dreistündigen Oratorium. Dem liegt nicht Laune
0284noch Mode, noch Gewohnheit zu Grunde, sondern ein psycho-
0285physiologisches Gesetz, das sich weder wegleugnen noch spotten
0286läßt. Ebenso bedenklich ist der motivirende Zusatz Riehl’s
0287daß ja „sämmtliche Arien ebensogut zur Passion gehören,
0288wie sämmtliche Scenen zum Don Carlos“. Die meisten
0289Arien in Händel’s und Bach’s Oratorien sind lyrische Ruhe-
0290punkte, die den Fortgang der Handlung nicht berühren, für
0291den Zusammenhang des Ganzen also nicht schlechtweg un-
0292entbehrlich sind. Wir mögen den Wegfall einer Arie, die
0293eine allgemeine Betrachtung oder eine ruhende Empfindung
0294ausdrückt, als eine Verkürzung unseres musikalischen Ver-
0295gnügens empfinden, aber keineswegs als einen Riß durch den
0296ganzen Organismus, wie er durch das Streichen wichtiger
0297Scenen im Drama entsteht.
0298Ich schließe diesen Vorbericht, für welchen mir leider
0299nur die Partitur der „Theodora“ und noch nicht die leben-
0300dige Anschauung zu Gebote stand, mit einem Ausspruche
0301Ferdinand Hiller’s, der durch seine Kölner Aufführung diesem
0302Meisterwerk die Bahn gebrochen hat. Es wäre schlimm,
0303schreibt Hiller, wenn in unserem gemüthstiefen Deutschland
0304diese Tondichtung sich nicht eine große Schaar von Freunden
0305erobert. Man darf nicht erwarten, in derselben die Donner-
0306klänge des „Israel in Egypten“ zu finden oder die Triumph-
0307lieder des „Maccabäus“ oder die Jubelchöre, wie sie sogar
0308der „Messias“ enthält — das Schönste in der Theodora ist
0309innig-seelischer Natur und will mehr mitempfunden als be-
0310lauscht sein. Je mehr Hingabe der Hörer mitbringt, je reich-
0311licher wird er sich belohnt finden.