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Neue Freie Presse
Morgenblatt
Nr. 10552. Wien, Dienstag, den 9. Januar 1894

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Concerte.


0002Ed. H. Zur ungeschicktesten Stunde, die man nur
0003wählen kann, um halb 2 Uhr, haben die Sänger des Hof-
0004operntheaters daselbst ein Concert zum Vortheile des
0005Pensions-Institutes gegeben. Es war eine von den „Gemischten
0006Akademien“ (wie man früher sagte), welche immer einen
0007gemischten Eindruck hinterlassen, auch wol ungemischte Lang-
0008weile. Schon der Anblick des stummen Orchesterraumes mit
0009seinen verwaisten Pulten und leeren Stühlen stimmt über-
0010aus trübselig in einem Opernhause, welches die besten In-
0011strumentalisten der Welt besitzt und im Orchesterklang seine
0012mächtigste Wirkung. Hätte man wenigstens irgend eine
0013Ouvertüre vor diese Procession von Solovorträgen gesetzt,
0014wir wären voll dankbarer Gefühle gewesen! Im Opern-
0015hause gar Opernscenen bei Clavierbegleitung hören zu
0016müssen, das ernüchtert den Zuhörer und beleidigt den Genius
0017loci. Da tritt Herr Grengg im Frack vor die Rampe und
0018singt, das Notenblatt in Händen, den „Charfreitagszauber“
0019aus Wagner’s „Parsifal“ — wo bleibt da noch das kleinste
0020Restchen von „Zauber“! Wollte man uns damit demon-
0021striren, wie wenig musikalischer Kern in dieser Composition
0022stecke, wenn man sie von dem scenischen Apparat und dem
0023Orchester-Colorit losschält — dann freilich ist der Zweck er-
0024reicht worden. Auch das Frauen-Duett aus dem ersten Acte
0025von Delibes’Lakmé“ — die einzige Novität auf dem
0026Programm — erreicht nur die halbe Wirkung ohne die so
0027feine, lieblich murmelnde und wiegende Orchester-Begleitung.
0028Die Damen Forster und Kaulich sangen das Stück
0029sehr nett, obendrein in französischer Sprache, wie scharf
0030aufhorchende Zuhörer behaupten. Das Duett lehnt sich merklich
0031an Auber’sche Vorbilder — klingt es doch fast wie eine Er-
0032weiterung des reizenden Zwiegesanges aus Haydée: „C’est la
0033fête au Lido“. Bestechende Anmuth und Klangschönheit ist ihm
0034aber nicht abzusprechen. Die Sängerinnen van Zandt 
0035und Frandin mußten es in Paris regelmäßig wieder-
0036holen. Warum hat man in Wien noch nie an die Aufführung
0037der ganzen Oper gedacht, die seit zehn Jahren auf den
0038bedeutendsten Bühnen heimisch ist? Man bemängelt nicht
0039ohne Grund, daß ihr dritter Act an Wirkung abfällt. Aber
0040wie viele moderne Opern besitzen wir denn, vom
0041Freischütz“ und der „Weißen Frau“ angefangen, deren
0042dritter Act nicht herabsänke gegen die früheren?
0043Gewiß hat „Lakmé“ noch andere Schwächen, und doch ist
0044sie nicht zu übersehen, nicht zu übergehen bei dem erschrecken-
0045den Mangel an guten neuen Opern. Ich finde mehr Geist
0046und mehr Musik darin als in den „Rantzau“ oder den
0047Pagliacci“ ... Das Liszt’sche Arrangement von Schu-
0048bert’s
Allmacht“ ist für Tenor-Solo, Männerchor und
0049Orchester geschrieben und nur in dieser Fassung effectvoll.
0050Herr Winkelmann sang es mit einem winzigen Chor
0051bei Clavierbegleitung. Letztere wurde obendrein zu diesem und
0052anderen Gesangstücken zu schwach gespielt. In dem Duett
0053aus „Lakmé“ lechzte das Ohr förmlich nach einem deutlichen
0054Grundbaß unter dem luftigen Terzengeflatter der beiden
0055Frauenstimmen. Es ist ein Irrthum so vieler, sonst sehr
0056verläßlicher Begleiter, daß man nicht zart genug accompag-
0057niren könne; er rächt sich besonders in großen Räumen, wo
0058die Hörer an volles Orchester gewöhnt sind. Viel besser
0059wirkte die Clavierbegleitung von Fräulein Gisela v. Ehren-
0060stein zu den Liedervorträgen ihrer Schwester Louise
0061v. Ehrenstein
. Man merkte sofort, daß ein leben-
0062diges, energisch mitfühlendes Wesen am Piano sitze, kein
0063theilnahmslos nachfolgender Schatten. Frau v. Ehrenstein,
0064Frau Forster, Fräulein Mark, Fräulein Beeth, Herr
0065Reichmann, Herr Schrödter — Jede und Jeder sang
0066nacheinander drei oder vier Lieder. Böse Menschen haben
0067keine Lieder; aber gute, sehr gute Menschen haben mitunter
0068böse Lieder. So viel Salon-Sentimentalität und Alltags-
0069heiterkeit haben wir selten in Einem Zug genossen. Schade,
0070daß Herr Reichmann für gut fand, statt der ursprünglich
0071angekündigten Arie des Grafen Rudolph aus Boïeldieu’s
0072Rothkäppchen“ die nur zu bekannte „Margareth’ am Thore“
0073zu singen. Glücklicherweise hatten wir zwei Tage vorher uns
0074an seinem vortrefflichen Hans Heiling erfreut; aus der 
0075Margareth’“ würde sich kaum Jemand ein Bild von den
0076Wirkungen dieses eminent theatralischen Sängers gemacht
0077haben. Ueberhaupt gilt dies mehr oder minder von allen in
0078diesem Concert beschäftigten Künstlern und Künstlerinnen.
0079Sie wurden zwar sämmtlich viel stürmischer applaudirt und
0080öfter gerufen als an Opernabenden — das Publicum war
0081in einer geradezu krankhaft wilden Beifallsstimmung —
0082trotzdem glaube ich, daß sie in jeder ihrer Rollen bedeutender
0083dastehen, als es in unserer Matinée der Fall war. Zwischen
0084den hohen, dichten Liedergarben stand ein einziges Instru-
0085mental-Blümchen: die bereits rühmlich anerkannte junge
0086Geigerin Rosa Hochmann. Sie spielte mit reiner Intona-
0087tion und zierlichster Technik zwei Salonstücke und ein drittes dazu.
0088Den Beschluß des Concertes machten die in Wien auffallend
0089selten gehörten reizenden „Zigeunerlieder“ von Brahms 
0090für gemischtes Quartett und Clavier. Diese interessanteste
0091Nummer des Programms hat leider den mäßigsten Beifall
0092errungen. Die Zuhörer waren gleichzeitig zu satt (von Liedern)
0093und zu hungrig (nach leiblicher Nahrung). Gesungen wurde
0094das Quartett mit aller Sorgfalt von Fräulein Mark,
0095Frau Kaulich, den Herren Schittenhelm und Grengg,
0096begleitet aufs beste von Herrn Mader. Nur waren die
0097schnellen Tempi fast durchweg zu rasch genommen — zu
0098rasch wenigstens für die Dimensionen der Großen Oper, die
0099eine klarere Auseinandersetzung, also ein minder hastiges
0100Zeitmaß erheischt, als ein kleiner Saal. Für einen solchen,
0101auf intime Wirkung, sind aber die „Zigeunerlieder“ that-
0102sächlich berechnet. Und so wären wir denn schließlich wieder
0103bei unserer Thesis angelangt: daß jede Musik ihren ent-
0104sprechenden Raum verlangt und Alles nicht blos seine rechte
0105Zeit hat, sondern auch seinen rechten Ort.


0106Eine englische Clavier-Virtuosin, Miss Ethel Sharpe,
0107hat im Bösendorfer-Saal sehr viel Beifall und mehr Kränze,
0108Bouquets und Blumenkörbchen eingeheimst, als man in einem
0109gewöhnlichen Fiaker nach Hause bringen kann. Die von dem
0110verehrten Director des Royal College of Music, Sir
0111George Grove, warm empfohlene Künstlerin muß außer-
0112dem noch viel nachdrücklichere Recommandationen mitge-
0113bracht haben, denn die ganze vornehme englische Colonie [2]
0114war in ihrem Concert versammelt; in den ersten Sitzreihen
0115herrschte durchwegs englische Conversation. An Miss Sharpe 
0116haben wir zuerst ihr Programm zu loben; es ist etwas
0117ganz Ungewöhnliches, daß eine junge Pianistin sich mit
0118Schumann’s Fis-moll-Sonate und den beiden Rhapsodien 
0119op. 79 von Brahms einführt. Mit so ernstem künstlerischen
0120Sinne verbindet Miss Sharpe ein bedeutendes Können.
0121Bravour, Kraft und Ausdauer besitzt sie in nicht gewöhn-
0122lichem Grade; besondere Vorliebe hegt sie offenbar für
0123leidenschaftliche, stürmisch bewegte Musik. Trotzdem hat sie
0124uns zumeist in dem seelenvollen Andante der Schumann’schen
0125Sonate befriedigt, jener schwärmerischen „Aria“, welche
0126Schumann aus einem älteren (erst kürzlich erschienenen)
0127Lied „An Anna“ herüber gerettet. Miss Sharpe spielte
0128dieses sehnsuchtswunde Liebeslied mit klarer und tiefer
0129Empfindung. Dieser Vortrag bewies ihr echt musikalisches
0130Fühlen und Denken, das wir in den stürmischen Allegrosätzen
0131fast ein wenig angezweifelt hätten. Scherz und Finale der
0132Schumann’schen Sonate, sowie die Rhapsodien von Brahms 
0133waren zwar richtig aufgefaßt und feurig wiedergegeben, aber
0134häufig überstürzt und, was noch schlimmer, durch unaus-
0135gesetzten Pedalgebrauch verwischt. Man sehe sich nur den
0136Anfang dieser Stücke mit ihrem fortwährenden Harmonien-
0137wechsel an und erwäge, wie das klingt, wenn je vier Tacte
0138lang die Dämpfung gehoben bleibt. Miss Sharpe kommt
0139vom Pedal gar nicht los, und so läßt sie uns die Umrisse
0140der Melodien und deren harmonischen Grund nur wie durch
0141eine Staubwolke sehen. Diese leidige Staubwolke erschwert
0142uns leider auch ein völlig gerechtes Urtheil über Miss
0143Sharpe’s Spiel. Nur wenn sie jene abscheuliche Gewohn-
0144heit ablegt, wird man recht verstehen, was und wie sie
0145spielt. ... Eine neue Erscheinung war auch die Sängerin
0146Fräulein Margarethe Petersen, welche in Miss
0147Sharpe’s Concert mit entschiedenem Erfolge aufgetreten ist.
0148Sie besitzt einen kräftigen, volltönenden, dem Alt
0149zuneigenden Mezzosopran. Ihre glockenreine Intonation
0150— ein Nationalvorzug der schwedischen Sängerinnen — ihr
0151musikalisches Verständniß und schlichter, unaffectirter Aus-
0152druck haben gleich nach dem ersten Lied (Schumann’s
0153Widmung“) für die Sängerin eingenommen. Brahms’ 
0154tiefergreifender Gesang „Immer leiser wird mein Schlummer“
0155verlangt einen leiseren, durchgeistigteren Ton, eine fast
0156leidend angehauchte Stimme, um ganz überzeugend zu
0157wirken. Fräulein Petersen singt mit aufrichtiger und tiefer
0158Empfindung, aber der Ausdruck dieser Empfindung hat
0159etwas eigenthümlich Gefesseltes, Einfärbiges, wie wir es bei
0160nordischen Sängerinnen öfter beobachtet haben. Zwischen
0161einem schönen piano und einem schönen forte vermißten
0162wir einen größeren Reichthum an Nuancen. Mit ausge-
0163zeichnetem Erfolg sang Fräulein Petersen Heuberger’s 
0164Morgenständchen“ und ein schwedisches Lied von Kjerulf,
0165dem sie auf allgemeinen Wunsch ein zweites nachfolgen
0166ließ. Ihr schönes kräftiges Organ und eine günstige
0167Bühnenerscheinung dürften der Sängerin für die Oper zu
0168statten kommen.


0169Ueber Fräulein Marie v. Timoni haben wir bereits
0170öfter mit Vergnügen berichtet. Sie gehört zu den nicht allzu
0171häufigen jungen Pianistinnen, welche Temperament und
0172rhythmisches Gefühl besitzen. Ihr diesjähriges Concert ver-
0173sammelte ein sehr zahlreiches Publicum; das ist an sich
0174schon eine Kunst angesichts des rapiden Sinkens der Clavier-
0175concert-Actien und des Thermometers obendrein. Eine Auf-
0176frischung der nahezu stereotyp gewordenen Programme unter-
0177nahm Fräulein Timoni mit zwei originellen, effectvollen
0178Kleinigkeiten von Smetana: „Slepiczka“ (Die Henne)
0179und „Polka de concert“. Der Geist dieser Compositionen
0180kam der witzigen Natur Fräulein Timoni’s sympathisch ent-
0181gegen. Die stärkste Seite ihres Talentes entfaltet sie in an-
0182muthig bewegter Bravour, in pikanter Rhythmik, in zier-
0183lichem Passagen- und Trillerschmuck. Für die Gesangsstellen
0184wünschten wir manchmal mehr und süßeren Ton. Bei
0185ruhigerer Haltung würde Fräulein Timoni’s Spiel noch
0186besser wirken. Ihr begeistertes Mienen- und Geberdenspiel
0187beruht gewiß nicht auf Affectation, kann aber doch leicht
0188den Schein davon erregen. Ein ungedrucktes Clavierquintett 
0189von Karl Frühling, einem jungen Wiener Componisten,
0190habe ich leider versäumt. Fräulein v. Timoni soll es, von
0191vier tüchtigen Musikern begleitet, sehr beifällig vorgetragen
0192haben. Ein sachkundiger Zuhörer charakterisirt die Composi-
0193tion mit den Schlagworten: Viel Gewandtheit bei geringer 
0194Erfindung; größtmögliche Beherrschung der Technik bei aus-
0195giebigster Anlehnung an Brahms, Wagner und Grieg.


0196Das Concert des Violoncell-Virtuosen Herrn Sigmund
0197Bürger, vom Pester Opernorchester, war nur schwach
0198besucht. Daran ist nicht sowol der Künstler schuld, als sein
0199Instrument. Das Violoncell als Solo-Concert-Instrument
0200ist mehr commencement als fin du siècle; unser nervöses
0201Zeitalter wird leicht ungeduldig, wenn ein noch so treffsicher
0202Virtuose sich zwei Stunden lang auf diesem Instrument der
0203dunklen Schwermuth ergeht. Herr Bürger hat oft und
0204erfolgreich in Wien gespielt. Er ist ein solider Musiker, dem
0205Außerordentliches nicht nachgesagt werden kann, weder starke
0206Persönlichkeit, noch großartige Bravour. Er hat einen
0207geraden, ebenen Weg gewählt, auf dem er fest und sicher
0208wandelt. Angenehm berührt an ihm der gänzliche Mangel
0209an Affectation, die Bescheidenheit, mit der er sich selbst in
0210den Hintergrund, die Composition in den Vordergrund stellt.


0211Eine wahre Erquickung nach den vielen Virtuosen-
0212Concerten bot die Production der „Russischen National-
0213Capelle
“, im großen Musikvereinssaal. Das Wiener
0214Publicum kennt und liebt diesen originellen Chor, in welchem
0215Knaben, Männer und Frauen so klangvoll und trefflicher zu-
0216sammenwirken. Die prächtig aussehende Führerin dieser Ge-
0217sellschaft ist Frau Nadina Slaviansky, gute Sän-
0218gerin und tüchtiger Capellmeister in Einer Person. Viele
0219von den jüngst gesungenen Chören begrüßten wir als liebe
0220alte Bekannte. Doch fehlte es auch nicht an neu hinzugekom-
0221menen, worunter die von Frau Slaviansky arrangirten
0222Brahms’schen Zigeunerlieder besonderes Interesse erregten.
0223Wieder erfreute man sich an der schönen Uebereinstimmung
0224der Sänger in dem häufigen Wechsel des Zeitmaßes und in
0225allen Schattirungen der Tonstärke. Letztere wissen sie zu
0226einem überraschenden Pianissimo abzuschwächen. An den
0227Liedern selbst, deren lange Reihe allerdings nicht immer der
0228Monotonie entgeht, kann man sich herzlich erlaben. Ein
0229großes, noch unverbrauchtes Kapital steckt in diesen originellen,
0230träumerisch weichen, selbst den Frohsinn schwermüthig an-
0231hauchenden Volksgesängen. Rubinstein hat es verstanden,
0232mit glücklicher Hand daraus zu schöpfen.