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Neue Freie Presse
Morgenblatt
Nr. 11207. Wien, Dienstag, den 5. November 1895

[1]

Carl-Theater.

(„Der Apotheker.“ Komische Oper von Joseph Haydn. Aufgeführt im Carl-Theater zum Vortheile der Allgemeinen Politklinik.)


0003Ed. H. Mit dem „Apotheker“ haben wir nicht blos
0004ein neues Stück kennen gelernt, sondern auch einen neuen
0005Mann: den Operncomponisten Joseph Haydn. In dieser
0006Eigenschaft war der Tondichter der „Schöpfung“ den ver-
0007sammelten Zuhörern, ja auch deren Eltern und Großeltern
0008höchstens dem Namen nach bekannt. Haydn’s Opern — er
0009hat deren 19 geschrieben — sind längst so gut wie ver-
0010schollen. In Fink’s „Geschichte der Oper“ (1838) kommt
0011nicht einmal sein Name vor. Schon zu seinen Lebzeiten
0012wurden Haydn’s Opern wenig gegeben, noch weniger ge-
0013feiert. Er selbst lehnte ein Ansuchen der Prager Theater-
0014Direction mit der Motivirung ab: „weil alle meine Opern
0015zu viel an unser Personale (zu Esterhaz in Ungarn) ge-
0016bunden sind und außerdem nie die Wirkung hervorbringen
0017würden, die ich nach der Localität berechnet habe“.
0018Man täuscht sich gern, aber vergeblich mit der An-
0019nahme, Haydn’s Opern seien blos verdunkelt durch
0020den Glanz seiner Symphonien und Quartette, der
0021Schöpfung“ und „Jahreszeiten“. Nein, auch völlig
0022frei von jeder bedrückenden Nachbarschaft, geben diese Opern
0023nur ein sehr bescheidenes Licht, und dieses Licht ist größten-
0024theils ein abgeleitetes. Der unsterbliche Schöpfer unserer
0025modernen Symphonie und Kammermusik, er ist als Opern-
0026componist ein Nachahmer der Italiener. Als ich mit all
0027der Liebe und Ehrfurcht, die ich für Haydn empfinde, zum
0028erstenmale in der Hofbibliothek seine Opern studirte, gerieth
0029ich in eine Art trostloser Verwunderung.*) Zuerst seine
0034berühmteste, für London geschriebene Oper „Orfeo“, die
0035einzige, von der eine gestochene Partitur (bei Breitkopf)
0036existirt. Nur wenige Stücke darin erheben sich über das
0037Niveau der italienischen Tagescomponisten jener Zeit. Alles 
0038weichlich, süß, von Rouladen schier erdrückt, ein wahres
0039Castrum doloris der dramatischen Musik. Daß Haydn seine
0040Arien meistens sorgfältiger instrumentirt und harmonisirt,
0041bietet uns wenig Ersatz für die Dürftigkeit ihrer
0042Erfindung. Die naive Sinnlichkeit und Leidenschaft
0043eines echten Italieners bewegt uns doch stärker,
0044als so ein italienisch costümirtes deutsches Phlegma.
0045Gluck’s „Orfeo“ steigt durch die Vergleichung in fast
0046unabsehbare Höhe. Eine aus Haydn’s ruhmvollster Zeit
0047stammende Oper, wie dieser „Orfeo“, mußte auf talentlose
0048Nachahmer die bedenklichste Wirkung üben. Sie wähnten,
0049eine dramatische Neuheit zu schaffen, indem sie ihren deutschen
0050Schlafrock pomphaft mit italienischem Flitter behingen.
0051Haydn’s dramatische Werke sind übrigens ohne Nach-
0052wirkung geblieben. Hingegen hat der Charakter seiner übrigen
0053Musik, der anmuthige Fluß und naive Humor in den Sym-
0054phonien und Quartetten ohne Frage eingewirkt auf die
0055jüngeren Operncomponisten seiner Zeit: auf Dittersdorf,
0056Wenzel Müller, Weigl, Kauer. Dieser günstige Einfluß ist,
0057mitunter bis auf directes Anlehnen, nachweisbar. Wie Haydn’s
0058Orfeo“, so enthält auch seine große Oper „Armida“ (insbeson-
0059dere der im Zauberhain spielende dritte Act) musikalisch reizvolle
0060Nummern, mit denen man wol eine Concert-Aufführung
0061wagen könnte. Auf dem Theater hatten beide, von Haydn 
0062selbst bevorzugte Werke keinen nachhaltigen Erfolg. Er mußte
0063noch bei Lebzeiten seine Opern vollständig erdrückt sehen
0064von denen seiner jüngeren deutschen, französischen und italieni-
0065schen Zeitgenossen. Die relativ größte Verbreitung und Zu-
0066neigung hat von allen Haydn’schen Opern noch sein
0067Orlando Paladino“ gefunden, besonders in der deutschen
0068Bearbeitung als „Ritter Roland“. In Wien, in Graz,
0069Brünn, Dresden, Berlin, Mannheim und Frankfurt er-
0070götzte man sich an diesem kindischen Ritterstück und seinem
0071Durcheinander von possenhafter Komik und sentimentalem
0072Pathos. Dicht neben einer tragischen Arie Angelica’s im italieni-
0073schen Coloraturstyl steht eine derb komische des Tenor-
0074buffo Pasquale („Hätt’ ich einen Schöpfenbraten, wär’
0075mein Hunger bald vorbei!“). Auf die Zornesrouladen des
0076Tyrannen Medoro folgt wieder ein Possenduett auf „a, e,
0077i, o, u“. In ihrer Verzweiflungsarie („Gib mir Ruh’ im 
0078kühlen Grab’“) singt Angelica auf das Wort „Grab“ sieben
0079ganze Tacte Rouladen und schließt mit dem hohen C und D.
0080Roland, der Titelheld, ist vollends eine Art Gesangs-
0081Holofernes („Ich möchte in Gewittern den Erdball zer-
0082splittern, das Weltall erschüttern“). Das Ganze also eine
0083tragisch-heroische Oper mit eingelegtem Casperl. Haydn war
0084kein dramatischer Componist. Und doch explodirt in seinen
0085Oratorien stellenweise eine eminent dramatische Kraft;
0086man denke an das Winzerfest und die Jagd in den „Jahres-
0087zeiten“! Im Rahmen des Oratoriums fühlte sich Haydn 
0088frei, war er ganz er selbst; sobald er das Theater betrat,
0089verfiel er der conventionellen italienischen Schablone. Am
0090empfindlichsten im pathetischen Styl. Sein Naturell neigte
0091entschieden zur Heiterkeit, zu Frohsinn und Scherz. Darum
0092singt auch der Hanswurst Pasquino überzeugender, als
0093sein großartig edler Ritter Roland, und wirken Haydn’s
0094komische Opern, soweit wir sie kennen, echter und indivi-
0095dueller, als die tragischen. Charakteristisch für Haydn war
0096seine Vorliebe für die komischen Singspiele von Wenzel
0097Müller. Wie Hummel erzählt, ist Haydn oft von Eisenstadt 
0098nach Wien gefahren, um Müller’s „Sonntagskind“ zu hören,
0099das er als ein in seiner Art classisches Werk bezeichnete.
0100Der Apotheker“ — zu dem ich auf diesem Umwege
0101gelangen mußte — beweist Haydn’s Begabung für das
0102komische Singspiel. Indem C. F. Pohl im zweiten Bande
0103seiner Haydn-Biographie (1882) den „Apotheker“ die einzige
0104von allen Haydn’schen Opern nannte, „welche zum Versuch
0105einer Wiederbelebung zu empfehlen wäre“, hat er wol die
0106erste Anregung zu dieser Wiederbelebung gegeben. Danken
0107wir auch Herrn Hirschfeld, welcher die Oper aus dem Ita-
0108lienischen fließend übersetzt und ihre drei Acte sehr zweck-
0109mäßig in Einen zusammengezogen hat.


0110Titelheld unserer Oper ist der Apotheker Sempronio 
0111ein bornirter Alter, der, nach Gewohnheit aller Lustspiel-
0112vormünder, sich um Herz und Hand seiner schönen Nichte
0113Griletta abzappelt. In diesem Unternehmen wird er von
0114zwei jungen Leuten gehindert, die Beide in Griletta ver-
0115liebt sind. Der Eine ein reicher Geck, Namens Volpino,
0116der Andere, Mengone, ein schüchterner Jüngling, der
0117Griletta zuliebe als Lehrling bei dem Apotheker eingetreten [2]
0118ist. Die beiden Nebenbuhler, sowol der begünstigte Mengone 
0119als der verschmähte Volpino, benützen die Leichtgläubigkeit
0120des passionirten Zeitungslesers Sempronio, um ihm aller-
0121hand Possen zu spielen. Zuerst erscheinen sie als
0122Notare, um Sempronio’s Heiratscontract aufzusetzen, dann
0123kommt Volpino als türkischer Pascha. Verkleidungen sind
0124ja die Hauptsache in einer richtigen Opera buffa;
0125und immer wird bei dem Gefoppten eine schier unmögliche
0126Dummheit und Blindheit vorausgesetzt. Natürlich führt
0127schließlich der glückliche Mengone die Braut heim. Diese
0128Handlung, die sich im Apothekerladen abspielt, entwaffnet
0129uns durch die Anspruchslosigkeit ihrer possenhaften Komik.
0130Dem Componisten bot sie manche dankbare Situation und
0131hübsch charakterisirte Personen. Die Musik leuchtet von
0132naiver Heiterkeit und Anmuth. Im Styl der italienischen
0133Buffo-Oper gehalten, bei übrigens mäßigem Coloratur-
0134Aufputz, ist sie dem von uns gekannten deutschen Haydn nicht
0135unähnlich, nicht unwürdig. Glücklich erfunden und von
0136solider Meisterhand ausgeführt, sind die (im Original als
0137Finale dienenden) Ensemble-Nummern: das Quartett mit
0138den beiden falschen Notaren und die durch einen kleinen
0139Männerchor verstärkte Türkenscene. Von den Arien muthen
0140uns am freundlichsten die erste des Mengone und die des
0141Sempronio an.


0142Haydn’s „Apotheker“ hat uns ein ruhiges Vergnügen
0143bereitet. Heutzutage sind wir recht dankbar für anspruchs-
0144losen Frohsinn selbst altmodischer Façon, seitdem so selten
0145eine Oper auftaucht, die nicht mit dem Kopfe an die Wolken
0146stößt und mit den Füßen im Blute watet. Zum Repertoire-
0147stück eines großen Opernhauses taugt freilich der allzu be-
0148scheidene „Apotheker“ nimmermehr. Mit seiner kindischen
0149Handlung, seinen gemächlichen Tempos, seinen gleichmäßigen
0150Rhythmen und Harmonien, seiner dürftigen Instrumen-
0151tirung vermag er ein modernes Publicum nicht zu fesseln.
0152Diese Musik hat weder Gegenwart noch Zukunft, aber ein
0153buntes, lebendiges Bild der Vergangenheit rückt sie uns vor
0154Augen. Drei bis vier Aufführungen des „Apotheker“ wür-
0155den unserem Hofoperntheater wahrlich nicht geschadet haben,
0156das jetzt, bei bedenklichen Lücken im Personalstand und im
0157classischen Repertoire, förmlich in Monotonie einschlummert. 
0158Der Ruhm, den Wienern zum allererstenmale Haydn als
0159Operncomponisten vorgeführt zu haben, war doch auch nicht
0160zu verachten. Freilich bedarf Haydn’s in Text und Musik
0161vielfach veraltete Oper, um heute zu wirken, einer so
0162vortrefflichen Aufführung, wie die vom letzten Sonntag.


0163Es war eine Mustervorstellung der Dresdener 
0164Hofoper im Carl-Theater. Frau Schuch-Proska und
0165Fräulein Wedekind, Scheidemantel und Anton
0166Erl — da ist kein Name darunter, der uns nicht lieb
0167und vertraut wäre. Wer gedächte nicht gern der Susanne,
0168Rosina, Rose Friquet von Clementine Proska, der
0169liebenswürdigen, classisch geschulten Gesangskünstlerin? Im
0170Apotheker“ hatte sie, aus Gefälligkeit für die plötzlich er-
0171krankte Chavanne, den Volpino übernommen und über-
0172raschte in der ungewohnten Rolle eines jungen Gecken auf
0173das angenehmste durch ihr degagirtes Spiel und feinen
0174Gesangsvortrag. Fräulein Wedekind, unsere jüngste Be-
0175kanntschaft, erfüllte als Griletta auf das schönste die Er-
0176wartungen, die sie in „Hänsel und Gretel“ so reichlich er-
0177weckt hatte. Wie schön sie den Ton ansetzt, wie musterhaft
0178rein sie singt! Ein älterer, uns sehr werther Bekannter ist
0179Herr Anton Erl, der den schüchternen Liebhaber Mengone 
0180mit der ihm eigenen natürlichen Grazie und Liebenswürdig-
0181keit darstellt. Im colorirten Gesang hat dieser Tenor heute noch
0182keinen Rivalen in Deutschland. Herr Scheidemantel, be-
0183rühmt als Oratoriensänger wie in ernsten Opernpartien, ist
0184uns zum erstenmale in einer Buffo-Rolle, als Apotheker Sem-
0185pronio, erschienen. Die ursprünglich für einen Tenor (Karl
0186Frieberth) geschriebene Partie stellt an den Sänger und an
0187den Schauspieler nicht geringe Anforderungen. Herr Scheide-
0188mantel löst beide Aufgaben mit überraschender Leichtigkeit
0189und komischer Wirkung. Dieses vortreffliche Sängerquartett
0190würdig zu unterstützen, gab sich das Orchester des Carl-
0191Theaters die lobenswertheste Mühe. Nur in moderne
0192Operettenmusik eingespielt, würde es die ihm neue, fremd-
0193artige Aufgabe nicht so zufriedenstellend gelöst haben, hätte
0194es einen weniger vortrefflichen Dirigenten als Herrn General-
0195Musikdirector Ernst Schuch an seiner Spitze gehabt.
0196Herr Schuch mußte zu der kleinen Oper viele mehrstündige
0197Proben halten, denn wenn auch Haydn’s Partitur keine 
0198eigentlich virtuosen Aufgaben stellt, so fordert doch das
0199rasch und fein anschmiegende Accompagnement der Secco-
0200Recitation eine vollkommene Einübung. Es ist uns sehr
0201werthvoll, die Bekanntschaft dieses gefeierten Dirigenten ge-
0202macht zu haben, welchem die Dresdener Hofoper ein hohes
0203künstlerisches Ansehen verdankt. Gerne hätten wir sein Talent
0204an einem größeren Werke sich bewähren sehen, aber auch
0205im bescheidenen Rahmen offenbarte sich der Meister.


0206Für Wien war diese Aufführung ein Ereigniß. Hatte
0207doch Keiner von uns mehr gehofft, jemals eine Oper von
0208Haydn aufgeführt zu sehen! Der „Apotheker“ ist ein kleines
0209Werk, aber es führt uns einen großen Mann in ganz
0210eigenartiger glänzender Umgebung vor Augen: den Haydn 
0211als Operndirector des Fürsten Esterhazy im Schlosse Esterhaz.
0212Der bloße Anblick des Theaterzettels macht die wunderlichsten
0213Erinnerungsbilder in uns lebendig. Das prachtvolle Esterhaz,
0214mit seinem Schloß und Park, das der Fürst aus einem
0215Sumpfe in ein zweites Versailles verwandelt hatte; das
0216Schloßtheater, dessen Vorstellungen die höchste Aristokratie
0217Oesterreichs und Ungarns versammelte; ihm gegenüber die
0218Grotte mit dem berühmten Marionetten-Theater, für das ja
0219Haydn auch Singspiele componirt hat; Opernsänger und
0220Orchester im beständigen Dienst des Fürsten; Haydn als
0221Capellmeister von 1767 bis 1790 auf hohen Befehl alles
0222Mögliche componirend und dirigirend! Diesen einen
0223Luxus kennt unser reicher Adel längst nicht mehr: den
0224musikalischen. Das Hof- und Kunstleben in Esterhaz dünkt
0225uns als sociale und künstlerische Erscheinung in unabseh-
0226barer Ferne und liegt doch erst ein Jahrhundert hinter uns.
0227Wir achten es als einen unverhofften großen Gewinn, in
0228Haydn’s „Apotheker“ einen lebendigen Ausschnitt jener merk-
0229würdigen Zeit angeschaut zu haben. Die Wiedererweckung
0230des „Apothekers“ war für uns mehr als ein Curiosum;
0231wir genossen sie als einen historischen Leckerbissen. Diese
0232Erfahrung und diesen Genuß verdanken wir der unermüd-
0233lichen patriotischen und künstlerischen Thätigkeit der Fürstin
0234Metternich. Nur ihr allein konnte es gelingen, die Perlen
0235des Dresdener Hoftheaters und mit ihnen Haydn’s Oper 
0236auf eine Wiener Bühne zu zaubern. „Notre-Dame de
0237Vienne.“

Fußnoten
  • *)Die Wiener Hofbibliothek besitzt außer dem gestochenen
    Orfeo noch folgende Opern von Haydn in geschriebenen Partituren:
    Alessandro il Grande, Armida, Roland, l’Isola disabitata, Il mondo
    della Luna, La vera constanza, l’Incontro improviso.