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Neue Freie Presse
Morgenblatt
Nr. 12693. Wien, Freitag, den 22. December 1899

[1]

Musik.

(Concerte, Musikalien und Bücher.)


0003Ed. H. Das vierte Philharmonische Concert begann mit
0004Spohr’s Jessonda-Ouvertüre. Zahlreiche Zuhörer freuten
0005sich des Gedankens, daß damit einer Wiederaufführung der
0006seit fünfzehn Jahren nicht gehörten Oper vielleicht präludirt
0007werde. Den zu sicherer Vor- und Ueberherrschaft gelangten
0008Wagner-Cyklen kann die indische Witwe keinen Abbruch thun,
0009und von den allerjüngsten Opern-Novitäten dürfte schwerlich
0010eine unaufschiebbar sein. Wie die Spohr’sche Ouvertüre ist
0011auch Beethoven’s Pastoral-Symphonie vorzüglich gespielt
0012worden. In jedem der vier ersten Concerte hat Director
0013Mahler, der angeblich radicale Secessionist, Beethoven 
0014den Ehrenplatz eingeräumt. Dazwischen spielte Frau Marie
0015Soldat-Roeger das Brahms’sche Violinconcert. Längst
0016in ganz Deutschland anerkannt als eine der ersten Künstle-
0017rinnen auf ihrem Instrument, hat sie jetzt in dem so schwer
0018zugänglichen Philharmonie-Concert gleichsam officiell das
0019Meisterdiplom erhalten. Es war eine musikalische Promotions-
0020Feier glänzendster Art. Frau Soldat wurde mit anhaltendem
0021rauschenden Beifall begrüßt, der sich am Schlusse zu einer
0022förmlichen Ovation steigerte. Hätte sie vor Allem durch ihre
0023Virtuosität blenden wollen, dann sicherten andere Concert-
0024stücke ihr einen leichteren Sieg. Brahms’ Violinconcert 
0025spricht nicht die unmittelbar verständliche, einschmeichelnde
0026Sprache, mit welcher sonst Concert-Compositionen, auch
0027die unserer classischen Meister, dem Spieler wie dem
0028Hörer freundlich zu Hilfe kommen. „Mein Concert
0029ist sehr schwer,“ pflegte Brahms zu betonen;
0030„ich mußte unseren Virtuosen härtere Nüsse zu knacken
0031geben, als seinerzeit Beethoven und Mendelssohn.“
0032Diese Schwierigkeiten sind obendrein tückische, sozusagen
0033unterirdische, die nicht, laut Beifall commandirend, an die
0034Oberfläche dringen. Leicht und makellos wollen sie trotzdem
0035besiegt sein, ohne dem Zuhörer etwas von ihrer gefährlichen
0036Natur zu verrathen. Das paßte so ganz zu Brahms’ sich nie 
0037verleugnendem weltabgewandten Wesen. Marie Soldat hat das
0038Concert nicht blos mit vollendeter Reinheit gespielt, sondern zu-
0039gleich mit bezaubernder Empfindung und Anmuth in den zarten
0040Stellen, mit Energie und Plastik in den kräftigen. Mitten
0041in dem lauten Beifall schien Ein Gedanke unausgesprochen
0042von Freund zu Freund zu wandern: wäre doch Er zugegen!
0043Keine Frage: Marie Soldat und das Brahms’sche Violin-
0044concert, sie haben Beide ihren Weg gemacht. Letzteres viel-
0045leicht noch mühsamer. Anfangs wollte das Werk nicht recht
0046Wurzel fassen, weder im Publicum noch bei den Virtuosen.
0047Erst sehr allmälig im Laufe von zwanzig Jahren errang es
0048sich in der Oeffentlichkeit den Platz neben den Violin-
0049concerten von Beethoven und Mendelssohn, denen es an
0050Größe und Kunstvollendung, wenn auch nicht an melodi-
0051schem Reiz, gleichkommt. Diesen Platz hat ihm seither kein
0052Rivale ernstlich bestritten.


0053Zwei Tage nach ihrem Auftreten im Philharmonischen
0054Concert gab Frau Soldat-Roeger ihre erste Quartett-
0055soirée im Vereine mit den Damen Elsa v. Plank, Natalie
0056Lechner-Bauer und Lucy Herbert-Campbell. Ein
0057kindlich anspruchsloses Quartett von Haydn (B-dur) und
0058Schubert’s so selten gehörtes Octett, op. 166, bereiteten
0059dem sehr zahlreichen Auditorium ein auserlesenes Vergnügen.
0060Frau Soldat erwies sich als Anführerin des Quartetts ebenso
0061hervorragend und gediegen musikalisch, wie Tags zuvor als
0062virtuose Solistin. Auch ihre Partnerinnen, die ganze be-
0063währte Soldateska, marschirten und exercirten wie Ein Mann.


0064Zwischen Haydn und Schubert genossen wir einen seltenen
0065musikalischen Leckerbissen: drei Lieder für eine Singstimme
0066mit Begleitung von Clarinette und Clavier von Spohr.
0067Seltsames Zusammentreffen — am Sonntag eine Ouvertüre,
0068am Dienstag drei Lieder von Spohr — dem seit vielen Jahren
0069hier fast Verschollenen! Seine „Sechs Lieder mit Clavier-
0070begleitung“ hat er im Jahre 1837 für die Fürstin Mathilde
0071zu Schwarzburg-Sondershausen und den an ihrem Hof
0072wirkenden berühmten Clarinettisten Hermstädt geschrieben.
0073Fräulein Mathilde v. Hochmeister sang die drei gemüth-
0074vollen Lieder („Zwiegesang“, „Wiegenlied“ und „Wach auf“)
0075mit weicher klangvoller Stimme und trefflicher Aussprache, 
0076etwas zurückhaltend im Ausdruck. Mühlfeld, der unver-
0077gleichliche Meister aus Meiningen, entzückte durch seinen
0078Vortrag der Clarinettpartie. Die Clavierbegleitung ist kärglich
0079bedacht, doch freute man sich, Fräulein Baumayer (die
0080zweite „Maria“) unter den Mitwirkenden zu sehen. Sie
0081gehört zur Familie.


0082Im Schatten der Philharmonischen Concerte und unter
0083gleichzeitigem Hochdruck von vier Nibelungen-Abenden
0084mußten manche an sich recht lebenskräftige Musikproduc-
0085tionen ein wenig verblassen. So das Concert des Prager
0086Violin-Virtuosen Jan Kubelik, eines Bravourspielers
0087von erstem Rang, dessen junges Talent, vorläufig noch vom
0088Glanz des Virtuosenthums geblendet, immer sicherer der
0089künstlerischen Klärung entgegenwächst. Ihn unterstützte eine
0090junge anmuthige Pianistin, Fräulein Irma Löwe, die
0091soeben in Budapest mit ganz außerordentlichem Erfolg con-
0092certirt hat. Mit poetischer Empfindung spielte sie das Lar-
0093ghetto aus Chopin’s F-moll-Concert, mit erstaunlicher Kraft
0094und Sicherheit die „Toccata und Fuge“ von Bach. Diese
0095zwei Stücke, deren jedes in seiner Art zu den schwierigsten
0096Aufgaben zählt, sicherten der jungen Künstlerin hier den
0097erwünschten Erfolg. Ein glücklicher Antrittsbesuch, keine Ab-
0098schiedsvisite.


0099Herr Concertmeister Rosé hat seinem werthvollen
0100letzten Programm auch eine Violinsonate von Anton Rück-
0101auf
eingeflochten. Das sehr beifällig aufgenommene Werk
0102ist seit längerer Zeit bekannt und gewürdigt. Hingegen sind
0103von Rückauf’s neuesten Liedern nur erst wenige öffentlich
0104gesungen; ihr Erfolg dürfte bald den übrigen den Weg
0105bahnen. Die schöne Lula Gmeiner, die immer höher
0106an ihren Meister Gustav Walter hinaufragt, sang in ihrem
0107Concert zwei Lieder Rückauf’s: „So geht’s“ (op. 21) und
0108Das Stelldichein“ (op. 23). Sie mußte beide wiederholen.
0109Das erstgenannte ist den Gedichten der Johanna Ambro-
0110sius
entnommen, von denen, bei aller poetischen Wahrheit
0111und Tiefe, nur wenige sich ungezwungen dem Gesange
0112öffnen. Während ihr schlichter Volkston einen ermüdenden,
0113einförmigen Rhythmus hervorruft, verleiten andererseits ihre
0114meist schmerzvoll einsinkenden Schlußverse zu einer den [2]
0115musikalischen Bau zerstörenden Recitativ-Behandlung. In
0116dem von Fräulein Gmeiner ausgewählten Lied dieser Samm-
0117lung: „So geht’s“, hat das Talent des Componisten diese
0118Gefahren noch am besten überwunden. Das „Stelldichein“
0119(Text von R. Baumbach) erobert mit seinem raschen Fluß
0120und seiner reizvollen Heiterkeit siegreich Ohr und Herz des
0121Hörers. Der Refrain des erst zweifelnden, dann beglückten
0122Liebhabers: „Ich hab’ mir’s ja gleich gedacht“, athmet bei
0123Rückauf eine überzeugende Kraft, die mit jeder Strophe
0124lebendiger wirkt. Im selben Hefte stehen noch zwei andere
0125glücklich erfundene Lieder: das freudig bewegte „Klopf’ nur
0126an’s Fenster“ (Klaus Groth) und das schlicht gemühtvolle
0127Du überall“ — eines von den zahlreichen Beispielen, wie
0128sehr Rückauf den innigen Ton des Volksliedes in seiner
0129Macht hat. Das gilt auch von dem innigen „All meine
0130Herzgedanken“ von Paul Heyse (aus dem neuen Hefte, op. 25).
0131Scheidemantel hat es kürzlich als Zugabe zu vier
0132älteren Liedern von Rückauf mit großem Erfolg gesungen.
0133Auch Marcella Pregi hat in Wien einige neue Lieder
0134Rückauf’s aus dem „Spanischen Liederbuch“ eingeführt, die
0135jetzt (mit der effectvollsten Schlußnummer „Mögen alle bösen
0136Zungen“) als op. 24 erschienen sind. So gut es Rückauf 
0137trifft, auch „einmal Spanisch zu kommen“, wir sehen ihn
0138doch noch lieber Hand in Hand mit Klaus Groth, der für
0139sein „Trauliches Heim“ und das ergreifende Gedicht „Ver-
0140loren“ (op. 25) sich keinen berufeneren Componisten wünschen
0141konnte. Es ist erfreulich, daß Rückauf’s Lieder sich immer
0142mehr die Gunst der besten Sänger und Sängerinnen er-
0143werben.


0144Meister Joachim hat uns drei genußreiche Quartett-
0145Abende geschenkt. „Von Joachim spricht man nicht mehr,“
0146bemerkt der Berliner Correspondent der „Allgemeinen Zeitung“,
0147nachdem er von anderen Künstlern recht ausführlich ge-
0148sprochen. In der That, über Joachim und für Joachim 
0149braucht sich kein Kritiker mehr anzustrengen. Aber wem die
0150Musik am Herzen liegt, den freut es jedesmal, wenn er
0151in einem guten Buch unversehens auf ein Capitel „Joseph
0152Joachim“ stößt. Diese angenehme Ueberraschung verdanke
0153ich soeben zwei neuen Büchern: „Musikalisches und Persön-
0154liches“ von Bernhard Scholz und „Opern und Concerte
0155im Hoftheater zu Hannover“ von Dr. Georg Fischer.


0156Dr. Bernhard Scholz, der als junger Mann nach
0157Hannover kam und dort als Dirigent, Componist und
0158Musikschriftsteller eine rühmliche Thätigkeit entwickelt hat,
0159erzählt uns seine Erinnerungen aus den Jahren 1859 
0160bis 1866. Sie beginnen mit Amalie Weiß (der
0161späteren Frau Joachim), die nach ihren Wiener An-
0162fängen ihre eigentliche Künstlerlaufbahn in Hannover 
0163eröffnet und als Opernsängerin leider auch beschlossen
0164hat. Sie lernte dort den jungen Concertmeister Joachim 
0165kennen, heiratete ihn und entsagte der Bühne. Sehr
0166hübsch schildert Scholz die Musikabende beim König, deren
0167Seele Joachim war. König Georg konnte als geborener
0168Engländer unglaubliche Quantitäten Musik vertragen, aber
0169er hatte kein sicheres Urtheil; ihm gefiel Alles, namentlich
0170das freundlich Anmuthige und unter Voraussetzung dieser
0171Eigenschaft auch das Gute; so wußte er eine Beziehung zu
0172Joachim’s Kunst zu finden. Gewisse gefällige Stücke, z. B.
0173eine Barcarole und eine Gavotte von Spohr, verlangte er
0174immer wieder. Ein Programm wurde vorher nicht gemacht;
0175der König wählte unter den von Joachim mitgebrachten Stücken.
0176Nach der Musik setzten sich die Herrschaften mit den Künstlern zum
0177Thee bei zwangloser Unterhaltung, die der König sehr gut
0178zu leiten verstand. Doch boten diese Musikabende durch die Blind-
0179heit des Königs auch allerhand Verlegenheiten. Eines Abends
0180rückte er in seinem Entzücken den Quartettspielern mit dem
0181Stuhl immer näher, noch ein Ruck, und er warf die Pulte
0182um! Da hielt ihn die Königin fest und flüsterte ihm etwas
0183ins Ohr. Neben Joachim ziehen in Scholz’ „Erinnerungen“
0184viele bekannte Künstlergestalten an uns vorüber: Niemann,
0185Stockhausen, Brahms, Jaëll, Dr. Gunz und Andere. Der
0186Verfasser bietet in demselben Band noch eine Reihe
0187gehaltvoller Aufsätze über Clara Schumann, Hans v. Bülow,
0188Berlioz, Edgar Tinel und besonders Richard Wagner. Auf
0189diese ebenso einsichtsvoll wie muthig urtheilenden Wagner-
0190Aufsätze und ihren Epilog: „Wohin treiben wir?“ möchte
0191ich bei einer anderen Gelegenheit zurückkommen. Heute gilt
0192es noch, dem Dr. Georg Fischer gerecht zu werden, dessen 
0193mächtiger Band hannover’scher Musikgeschichte wie ein Riese
0194neben dem schlanken Büchlein von Scholz aufragt. Eine
0195streng historische actenmäßige Darstellung, die von der
0196Mitte des siebzehnten Jahrhunderts bis zur Annectirung
0197des Königreiches 1866 reicht. Nur ein ungewöhnlicher Fleiß,
0198Kunst- und Vaterlands-Enthusiasmus konnten diese müh-
0199same Arbeit schaffen, die nicht von einem musikalischen
0200Fachmanne, sondern von einem praktischen Arzt und
0201Spitalsdirector herrührt. Es ist in Hannover keine Oper
0202gegeben, kein Sänger oder Capellmeister engagirt, kein
0203Theatergesetz erlassen worden, worüber wir nicht verläßlich
0204Auskunft erhielten. Diese streng sachliche Tendenz hat jedoch
0205den Verfasser nicht gehindert, über manche Vorgänge von
0206allgemeinem Culturinteresse sich behaglicher zu verbreiten.
0207Es dürfte den meisten Lesern neu sein, daß König Georg V. 
0208schon als Kronprinz an 200 Musikstücke componirt und
0209Abhandlungen über Musik geschrieben hat. Aus seinem 20. Jahr
0210stammt eine kleine Schrift: „Ideen und Betrachtungen über
0211die Eigenschaften der Musik“, welche 1839 anonym erschienen,
0212dann 1858 zum Besten des Ernst-August-Denkmals unver-
0213ändert wieder abgedruckt worden ist. In dieser von reli-
0214giösem Geist durchdrungenen Schrift erzählt der erblindete
0215Prinz, wie die Musik, der er von früher Jugend sich mit
0216ganzer Seele hingegeben, ihm eine unschätzbare Trösterin
0217geworden sei. Noch eine zweite Schrift des Königs „Ueber
0218Musik und Gesang“ wurde nach seinem Tode als
0219Manuscript gedruckt. König Georg, der im 32. Lebensjahre
0220den Thron bestiegen hatte, war, nach Dr. Fischer’s Schil-
0221derung, eine poetisch hoch angelegte Natur. Er lebte in
0222Musik und besaß, unterstützt von einem Riesengedächtniß,
0223auch genaueste Kenntniß der dramatischen Literatur.
0224Seine Stellung zur Kunst war eine ideale; er lebte
0225in der Ueberzeugung, „daß die Künstler vor Gottes Thron
0226einen besonderen Gerichtsstand erhalten“. Der König war
0227sein eigener General-Intendant, und ein sehr freigebiger.
0228So geschah es, daß unter seiner Herrschaft die kleine Stadt
0229Hannover als ein Haupt- und Vorort der Musik in Deutsch-
0230land glänzte. Dazu hatte nebst Niemann Joachim am
0231meisten beigetragen, der zweiundzwanzigjährige Concertmeister. [3]
0232„Mit Joachim begann eine bis dahin unbekannte Blüthezeit
0233der Concerte.“ Er stand in voller Thätigkeit, als für das
0234Königreich Hannover die letzte Stunde schlug. Dr. Fischer 
0235erzählt noch von dem Hofconcerte am 14. Juni 1866, in
0236welchem Jenny Lind und Joachim mitwirkten. Während
0237des Musicirens traf eine Depesche aus Frankfurt mit der
0238Abstimmung auf dem Bundestage ein: die Mobilisirung
0239gegen Preußen war beschlossen. Zwei Tage später bei Morgen-
0240grauen verließ König Georg die Stadt.*)


0245Von Joachim zu Joachim! Ein anderes allerneuestes
0246Buch, in welchem der Name Joachim unzähligemale vor-
0247kommt — freilich nur der Name — sind die Briefe
0248Franz Liszt’s an die Fürstin Caroline
0249Wittgenstein
. (Leipzig, Breitkopf & Härtel, 1899.)
0250Es ist der vierte Band Liszt-Briefe, den wir dem
0251Sammelfleiß der La Mara verdanken. Wer in beispiellos
0252bewegtem, ja gehetztem Leben eine so riesige Correspondenz
0253wie Liszt geführt hat, von dem können der inhaltreichen,
0254bleibend werthvollen Briefe nur wenige sein. Schon an den
0255Briefen Hans v. Bülow’s mußte ich die maßlose Ver-
0256schwendung in der Herausgabe von intimen Mittheilungen
0257beklagen, von denen heute schon die Hälfte Niemanden
0258interessirt — und erst in zwanzig, in vierzig Jahren? Von
0259Liszt’s Briefen — es sind bereits vier Bände erschienen
0260— scheinen mir gerade diese an die Fürstin ge-
0261richteten am wenigsten geeignet, einen ernsten Leser
0262anhaltend zu fesseln, mag dieser noch so sehr
0263eingenommen sein von Liszt’s Künstlerruhm und geistvoller
0264Persönlichkeit. Viel bedeutender ist sein Briefwechsel mit
0265Wagner, mit Bülow, mit der ungenannten „Freundin“ und
0266Anderen. Und doch urtheilte seinerzeit Hermann Grimm:
0267„In den unendlichen Mittheilungen, die zwischen Liszt und
0268seinem Lieblingsschüler (Bülow) hin und her fliegen, habe
0269ich nichts gefunden, was mehr als die Dauer weniger
0270Augenblicke beanspruchte.“ Die vorliegende Sammlung von
0271361 Briefen umfaßt die Zeit von 1847 bis Ende 1859, 
0272dürfte also, da Liszt und die Fürstin noch ein Viertel-
0273jahrhundert länger gelebt und geschrieben haben, ausgiebige
0274Fortsetzung erhalten. Außer dem deutschen Titelblatt und
0275dem Vorwort von La Mara ist das ganze Buch in franzö-
0276sischer Sprache. Der Inhalt von Liszt’s Briefen — die
0277Antworten der Fürstin fehlen leider — ist durchaus tage-
0278buchartig, aphoristisch. In fliegender Eile berichtet er, was
0279er den Tag über gethan oder erlebt, wen er besucht oder
0280empfangen habe, wie sein letztes Concert ausgefallen, wann
0281und wo das nächste stattfindet, welche Journale ihm günstig,
0282welche ungünstig sind u. s. w., ohne ein Athemholen zu
0283ruhigem Urtheil oder behaglicher Schilderung. Ueber diese
0284Eilfertigkeit und Nachlässigkeit seines Schreibens entschuldigt
0285er sich selbst bei der Fürstin: „Impossible de relire
0286mes lettres!“ Das Fragmentarische, Ueberstürzte von
0287Liszt’s Mittheilungen ist also sehr begreiflich. Unbe-
0288greiflich aber, wie eine feingebildete Schriftstellerin
0289von dem Rang der La Mara diese Briefe in
0290ihrem Vorworte „ein schriftstellerisches Kunstwerk“ nennen
0291kann! Für die Fürstin Wittgenstein waren sie gewiß un-
0292schätzbar. Die Zärtlichkeit und Schwärmerei, mit welcher der
0293Heißgeliebte zu ihr spricht, hat etwas Rührendes.


0294„Je me mets à genoux près de vous, et y resterai.“ „Laissez-
0295moi m’abimer en vous et m’y reposer, c’est ma seule destinée et
0296elle sera glorieuse avec la bénédiction de Dieu.“ „Soyez et ma
0297grâce et mon salut!“ „Vous êtes pour moi l’ange de la miséricorde
0298céleste et désormais je mourrai en paix, en bénissant votre nom!“
0299„Bonjour mon bon ange! On vous aime et vous adore du matin
0300au soir et du soir au matin.“ „Tout ce que j’ai de coeur et d’âme,
0301de foi et d’espoir n’est qu’en vous, par vous et à vous. Puisse
0302l’ange de Seigneur vous conduire, ô vous qui êtes ma radieuse
0303étoile du matin!“ „Je baise vos chers petits pieds!“ „Mon âme se
0304fond en la vôtre, brisée et dêlatée dans l’infini de l’amour, de
0305l’adoration, de l’extase!“


0306Und so geht es fort, fast in allen Anfangs- und Schluß-
0307zeilen an seine „très infiniment chère Unique“. — Ein
0308Rosenbeet, auf welchem Tropfen von Weihwasser glänzen.


0309Robert Schumann schließt einmal eine seiner Davids-
0310bündler-Reden mit den Worten: „Ich habe heut’ wenig
0311gesprochen, aber gut.“ Diese hübsche Schlußwendung möchte
0312ich mit einer kleinen Variante mir ausleihen: „Ich habe
0313heut’ nicht gut geschrieben, aber viel.“

Fußnoten
  • *)Dr. Georg Fischer, der Historiograph des musikalischen Han-
    nover, ist bekanntlich auch Herausgeber der Briefe Billroth’s, die
    soeben — ein Erfolg ohnegleichen — in fünfter, vermehrter Auf-
    lage (1900, bei Hahn in Leipzig) erschienen sind.