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Neue Freie Presse
Morgenblatt
Nr. 12835. Wien, Freitag, den 18. Mai 1900

[1]

Karl Goldmark.

(Zum 18. Mai 1900.)


0003Ed. H. Also auch schon Siebzig? Wie unabsehbar lang
0004dünkt uns in jüngeren Jahren diese Strecke, und doch wie
0005unheimlich schnell finden wir eines Tages uns dort ange-
0006langt! Die erste Hälfte der Wanderung verlief für Gold-
0007mark sorgen- und mühevoll. „Ich hatte viel Bekümmerniß,“
0008sang er mit Sebastian Bach. Wer aber durch einen Wald
0009von Hindernissen sich muthig durchgekämpft zu künstlerischer
0010Höhe und unbestrittener Geltung, den feiern wir glück-
0011wünschend mit verdoppelter Herzlichkeit. Die lange trübe
0012Zeit der Entbehrungen hat unsern Jubilar nicht verbittert,
0013der endlich erlangte Ruhm ihn weder geblendet, noch erkältet.
0014Immer sehen wir ihn neidlos anerkennend bei fremden
0015Erfolgen. Auf sein Wohlwollen, seine Gerechtigkeit kann
0016man bauen. Darum hat seinerzeit Brahms sofort Goldmark 
0017vorgeschlagen, als in unserem dreiköpfigen Comité zur Ver-
0018theilung von Staatsstipendien an talentvolle Musiker eines
0019dieser Ehrenämter zu besetzen kam. Nun half Goldmark 
0020selber junge Componisten betheilen, nachdem er zwanzig
0021Jahre vorher, in unserer allerersten Sitzung, mit dem
0022Staatsstipendium betheilt worden war als der einzige von
0023fünfzehn Bewerbern. Hand in Hand mit der Hochschätzung
0024für den Künstler Goldmark geht die allgemeine Sympathie
0025für den Menschen. Wie laut und festlich kam Beides zum
0026Ausdruck, als vor zehn Jahren Goldmark’s sechzigster
0027Geburtstag zugleich mit der hundertsten Aufführung seiner
0028Königin von Saba“ gefeiert wurde! Und vollends heute
0029wird das allwissende Heimchen am Herd über die Maßen
0030stark und fröhlich zirpen.


0031Da mag der Jubilar wol an jenen Abend in Oeden-
0032burg zurückdenken, wo er als achtjähriger Knabe mit seiner
0033kleinen Geige das erste Concert gab. Von diesem ersten
0034Erfolg bis zu seinem zweiten und dritten dauerte es schon 
0035etwas länger. Es zog den jungen Musikus nach Wien,
0036wo er unter L. Jansa und Joseph Böhm sich zum tüch-
0037tigen Violinspieler ausbildete. Zwei Jahre hindurch saß
0038er dann als Geiger im Orchester des Leopoldstädter Thea-
0039ters. Von dieser Musik ist ihm glücklicherweise nichts an
0040den Fingern kleben geblieben, als er seine ersten eigenen
0041Compositionen niederschrieb. Er producirte sie 1860 in
0042einem gut besuchten Concert, worin seine Schülerin Ca-
0043roline Bettelheim
zum erstenmale als Pianistin
0044vor die Oeffentlichkeit trat. Das talentvolle junge Mädchen
0045war Goldmark’s erste Interpretin. Sie hat in den folgen-
0046den Jahren bei Hellmesberger Goldmark’s Claviertrio 
0047und dessen Suite für Clavier und Violine aus dem Ma-
0048nuscript gespielt. So sehen wir die beiden aufblühenden
0049Talente vom Anfang an enge verbunden. Der glückliche
0050Erfolg von Goldmark’s ersten Kammermusiken befestigte
0051und steigerte sich bei der Aufführung der nachfolgenden.
0052Ich erinnere an seine Quartette in B- und A-moll
0053an die beiden Violinsuiten, vor Allem an das oft ge-
0054spielte Clavierquintett, das unseren besten Pia-
0055nisten, Epstein, Door, Grünfeld u. A. ein willkommenes
0056Geschenk bedeutete. Ein erfreuliches, geistreiches Werk, von
0057ungezwungen strömender Erfindung, das Beste, was wir
0058(etwa neben der ersten Violinsuite op. 11) im Fach der
0059Kammermusik von Goldmark kennen.


0060Den ersten Schritt über die Kammermusik hinaus
0061wagte Goldmark mit seiner Ouvertüre zu „Sakuntala“.
0062Das mit versengend glühenden Farben gemalte Charakter-
0063bild hat überall stark gewirkt und Goldmark’s Namen
0064zuerst weit über Oesterreich hin verbreitet. Zu meinen Lieb-
0065lingen gehört es, ehrlich gestanden, nicht. Um so reiner und
0066freundlicher wirkte nach dieser orientalischen Sommerschwüle
0067Goldmark’s „Frühlings-Ouvertüre“ und seine
0068fünfsätzige Symphonie „Ländliche Hochzeit“; mir die
0069willkommensten von Goldmark’s Orchesterwerken wegen ihres
0070selten getrübten Gefühls für Schönheit und Natürlichkeit.
0071Nach den lieblichen Bildern der „Ländlichen Hochzeit“ kehrt
0072Goldmark wieder zu dem stürmischen Pathos seiner „Sa-
0073kuntala“ zurück in den beiden Concert-Ouvertüren 
0074Penthesilea“ und „Sappho“. In der heißen
0075Energie ihres Ausdruckes sind sie charakteristische Beispiele
0076von Goldmark’s Vorliebe für tragische Stoffe und leiden-
0077schaftliches unversöhntes Ringen. Die dritte Concert-
0078Ouvertüre, „Prometheus“, erhebt sich ansehnlich über
0079die beiden genannten durch selbstständigeren musikalischen
0080Gehalt und übersichtliche Form. Ueber diesen Spitzen Gold-
0081mark’scher Instrumentalmusik dürfen wir seine Chor-
0082werke
nicht ganz vergessen: den schlichten klangschönen
0083Chor „Wer sich die Musik erkiest“, den kunstreicher auf-
0084gebauten „113. Psalm“, die „Frühlingshymne“ mit ihrer
0085lebhaften Quellenmalerei, das „Regenlied“ und manches
0086andere bewährte Stück.


0087Inzwischen sehen wir Goldmark unablässig arbeiten an
0088seiner großen Oper „Die Königin von Saba“.
0089Sein Naturell drängt nach energischer Bethätigung auf der
0090Bühne, nach dramatischer Wirksamkeit. Zehn Jahre lang
0091war der peinlich gewissenhafte Componist mit der Partitur
0092beschäftigt. Damit glücklich zu Ende gelangt, stand er aber erst
0093am Anfang fast unübersehbarer Schwierigkeiten und Hinder-
0094nisse. „Ja, Opern componiren ist leicht,“ pflegt ein
0095Berliner College Goldmark’s zu sagen, „aber sie zur Auf-
0096führung bringen, das ist schwer.“ Goldmark konnte davon
0097erzählen. Der damalige General-Intendant Graf Wrbna 
0098wollte durchaus seine Zustimmung nicht ertheilen zur An-
0099nahme der Goldmark’schen Oper. In seiner Bedrängnis
0100schrieb mir Goldmark im Januar 1873 einen langen
0101Brief, der heute, nach 27 Jahren, nicht ohne eigenthüm-
0102liches Interesse ist. Darin heißt es unter Anderm:
0103„Mir ist das große Unglück geschehen, eine Oper zu com-
0104poniren. Wer nie sein Brot mit Thränen aß, wer nie eine
0105Oper componirte, der kennt euch nicht, ihr himmlischen
0106Mächte. Die ganze Tiefe eines solchen Unglücks kann aber
0107nur der ermessen, der eine solche aufzuführen beab-
0108sichtigt. Und ich bin in diesem traurigen Falle; darum rufe
0109ich zu Ihnen. Sie allein können mir helfen, mehr als alle
0110vierzehn Nothhelfer. Schon öfter hatte ich mich der Beweise
0111Ihrer persönlich wohlwollenden Gesinnung zu erfreuen. Ich
0112habe Ihnen allezeit ein lebhaftes Dankgefühl hiefür bewahrt. [2]
0113Auch glaube ich mich dieser Empfehlung künstlerisch nicht
0114unwürdig gezeigt zu haben. Bei aller nothwendigen Be-
0115scheidenheit werden Sie mir das bischen Selbstgefühl nicht übel
0116nehmen, wenn ich’s hier ausspreche; daß ich der einzige öster-
0117reichische
Componist bin — da man Brahms und Volkmann 
0118nicht zu diesen zählen kann — dessen Werke auf allen deutschen
0119und außerdeutschen Concertprogrammen zu finden sind.
0120Allein nicht die früheren Beweise Ihrer freundlichen Ge-
0121sinnung blos ermuthigen mich, heute Ihr einflußreiches
0122Wort anzurufen, sondern auch die Würdigkeit meines
0123Werkes. Capellmeister Dessoff hat, wie ich erfahre, ein
0124lebhaft anerkennendes, der Aufführung durchaus zustimmendes
0125Urtheil abgegeben. Wer das strenge Pflichtgefühl, die Tüch-
0126tigkeit Dessoff’s kennt, wird ein solches Urtheil nicht gering
0127anschlagen. Daß an dem Texte (obwol er um Vieles besser
0128als früher) noch Manches auszusetzen sei, weiß ich wohl.
0129Aber du lieber Himmel! Goethe und Schiller haben leider
0130nicht mehr gelebt, als ich „mit dem Stipendium im Ge-
0131wande“ an die Herren Dichter um einen Text herankam,
0132und wie ich Goethe und Schiller kenne, hätten sie mir
0133schwerlich einen geschrieben. Wahrlich, das Buch zur „Zauber-
0134flöte“ ist auch kein Ideal eines solchen, und lebt doch schon
0135fast ein Säculum auf der Bühne. Nun höre ich schon
0136Ihre lächelnde Antwort: Ich sei auch kein Mozart! Und
0137das, weiß der Himmel, ist wahr. Dafür wäre ich
0138auch für mein Werk mit der Hälfte der Lebens-
0139dauer dieser „Zauberflöte“ recht sehr zufrieden.
0140Alles in Allem glaube ich ein tüchtiges, lebensfähiges Werk
0141geschrieben zu haben, für dessen Erfolg, für drei Viertel des
0142Werkes wenigstens, ich bei genügender Darstellung einstehen
0143möchte, wenn Sie eine so zweifelhafte Bürgschaft überhaupt
0144gelten lassen — und das vierte Viertel werden sie ohnehin
0145streichen. Ich habe Grund zu glauben, daß unsere Direction
0146durch einige vaterländische Mißerfolge ängstlich und miß-
0147trauisch wurde. Es mag wol manchmal ein Unglück sein,
0148ein Oesterreicher zu heißen, aber eigentlich doch noch keine
0149Schande. Der Staat gibt Pensionen, Aufträge, Stipendien
0150an Künstler — und wenn dieser nun sein Wort hält, nach
0151jahrelanger angestrengter und gewissenschafter Arbeit ein 
0152würdiges, Erfolg versprechendes Werk vorlegt, findet er nur
0153verschlossene Thüren! Es fällt mir nicht ein, wenn mein
0154Werk schlecht ist, mich auf den „Vaterländischen“ zu be-
0155rufen; aber wenn es, wie hier der Fall, gut ist, sollte mir
0156das billig kein Hinderniß sein. ... Sie sind vom Staate mit
0157dem schönen Ehrenamte betraut, die Kunst und die künst-
0158lerischen Interessen zu fördern — welches zum Theile auch
0159darin besteht, den Künstlern in ihren Nöthen beizustehen.
0160Ich appellire an diese Ihre schöne Mission!“


0161Der Appell an meinen sehr zweifelhaften Einfluß er-
0162wies sich als unnöthig; hatten doch Herbeck und Dessoff,
0163in diesem Fall die einzig berufenen Anwälte, Goldmark’s
0164Oper nachdrücklich empfohlen und bei Wrbna’s Amtsnach-
0165folger, dem Fürsten Hohenlohe, ein geneigtes Ohr gefunden.
0166Für die damaligen Wiener Opernzustände ist Goldmark’s
0167Brief ebenso charakteristisch wie für Goldmark’s tüchtige
0168Künstlernatur, in welcher Bescheidenheit und Selbstgefühl
0169harmonisch zusammenstimmen. Nach langem Harren und
0170unsäglichen Mühen kam endlich die „Königin von Saba“
0171zur Aufführung, volle zwei Jahre nach Goldmark’s
0172Brief an mich! Der 10. März 1875 bezeichnet den
0173eigentlichen Geburtstag von Goldmark’s Ruhm, dessen
0174mächtigste Säule bis heute die „Königin von Saba“
0175geblieben ist. Gerne gedenken wir der glänzenden
0176Aufführung mit der Materna als Königin, der
0177Wilt als Sulamith, Walter als Assad, Beck 
0178als König Salamo. Freilich, Goldmark’s Phantasie
0179hatte ihm anfangs die Bettelheim als ideale Königin 
0180von Saba vorgegaukelt, war doch aus der trefflichen jungen
0181Pianistin eine noch vorzüglichere Sängerin geworden —
0182unsere erste „Selica“! Für sie war von Anfang an das
0183Sujet der Oper gewählt und die Hauptrolle geschrieben.
0184Aber so lange wie Goldmark’s Partitur konnte doch seine
0185geträumte Königin nicht ledig bleiben — der grausame
0186Julius v. Gomperz entführte sie als Kammer-Präsidentin
0187nach Brünn; der Componist und das Hofoperntheater hatten
0188das trauernde Nachsehen. Einer nachträglichen Schilderung
0189oder Kritik bedarf die „Königin von Saba“ ebensowenig wie
0190die übrigen allgemein gekannten und längst gewürdigten 
0191Hauptwerke Goldmark’s. Heute ziemt es sich, sie nur zu
0192nennen, nicht zu zergliedern. Die „Königin von Saba“,
0193welche schon vor zehn Jahren bei ihrer hundertsten Auf-
0194führung hielt, hat sich über alle großen Opernbühnen dies-
0195seits und jenseits des Weltmeeres verbreitet und rühmlichst
0196erhalten. Ich denke, das genügt.


0197Nach der „Königin von Saba“ hat uns Goldmark 
0198noch mit drei Opern beschenkt. Jede grundverschieden von
0199der andern. Es reizte ihn, Stoffe zu bearbeiten, Aufgaben
0200zu lösen, an die noch keine Hand gerührt. Auf die leiden-
0201schaftliche Gluth des Orients in der „Königin von
0202Saba
“ folgt die mit dämonischen Elementen versetzte
0203mythische Ritterwelt „Merlin’s“. Diese vertauscht dann
0204Goldmark, zu allgemeiner Ueberraschung, mit dem stillen
0205englischen Dorf, dessen schlichte Bewohner auf das
0206Heimchen am Herd“ horchen. Und was reiht sich
0207unmittelbar an diese lauschige Idylle, in welcher zum
0208erstenmale Goldmark’s Humor und Heiterkeit aufleuchtet?
0209Die Kriegsgefangene“, ein tragischer Ausschnitt
0210aus der Iliade, mit Achilles, Agamemnon und anderen
0211Helden des trojanischen Krieges! Von seinen Textdichtern
0212war Goldmark mitunter ungenügend unterstützt. „Merlin“
0213hat deßhalb nur theilweise den Erfolg der „Königin von
0214Saba“ erreicht; die „Kriegsgefangene“ nicht die Popu-
0215larität des „Heimchens am Herd“. Aber eine Tugend
0216vergoldet sie Alle: der schöne Ernst, mit welchem Goldmark 
0217dem Echten und Wahren nachstrebt und, seiner künstlerischen
0218Ueberzeugung unverbrüchlich treu, jeden zweideutig leichten
0219Erfolg verschmäht. In jüngster Zeit productiver geworden
0220als in seinen früheren Jahren, plant er jetzt eine neue
0221Oper, deren Held dem deutschen Volke am Herzen liegt:
0222Götz von Berlichingen. Von der heroischen wie von
0223der gemüthlichen Seite dieses Stoffes sympathisch angezogen,
0224erblickt Goldmark hier ein reiches Feld für seine Musik.
0225Er hat, wie sein Götz, eine eiserne Hand, einen wetterharten
0226Kopf und ein weiches Herz. Mit diesen drei Verbündeten
0227wird er zu unserer Freude noch lange rüstig schaffen
0228und siegen.


0229Karlsbad, 15. Mai 1900.