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Neue Freie Presse
Morgenblatt
Nr. 13121. Wien, Dienstag, den 5. März 1901

[1]

Musik.

(Philharmonisches Concert. — Requiem von Dvořak.)


0003Ed. H. So bekamen wir sie doch noch zu hören, die
0004Chinesische Ouvertüre“, bevor sie ihre nachgeborene Actualität
0005eingebüßt und Graf Waldersee den Rückzug aus Peking an-
0006getreten hat. Das muntere Stück, welchem classische Präten-
0007sionen ferne liegen, erregte als ein geistreiches Curiosum
0008bei den Hörern lebhaftes Gefallen. C. M. Weber hatte
0009die schon 1806 componirte „Overtura chinesa“ in späterer
0010Umarbeitung als Ouvertüre zu Schiller’s Schauspiel
0011Turandot“ verwendet und sechs die Handlung
0012illustrirende Musiknummern hinzugefügt. Für das Exotische,
0013für fremdländische Eigenart und Romantik war der Com-
0014ponist des „Oberon“ jederzeit leidenschaftlich eingenommen.
0015J. J. Rousseau’s „Dictionnaire de Musique“ hatte ihm
0016eine wunderliche chinesische Original-Melodie von vierzehn
0017Tacten zugeführt; sie reizte seine wanderlustige Phantasie
0018und lieferte ihm notengetreu das Hauptthema zu
0019seiner Ouvertüre. Die Absicht, dieser Composition den
0020Charakter des fremdartig Starren aufzuprägen, hat Weber 
0021mit geistreichem Humor ausgeführt. Allerdings erregte
0022der seltene Vogel bei seinem Erscheinen mehr Ver-
0023wunderung als Gefallen. Darüber gab sich Weber keiner
0024Täuschung hin. „Trommeln und Pfeifen,“ schreibt er selbst,
0025„tragen die seltsam bizarre Melodie vor, die dann, vom
0026Orchester ergriffen, in verschiedenen Formen, Figuren und
0027Modulationen festgehalten und ausgeführt ist. Gefälligen
0028Eindruck kann es, ohne sich ganz an die Tendenz 
0029der Sache zu halten, nicht hervorbringen; aber
0030ein ehrenwerth gedachtes Charakterstück mag es sein.“ ...
0031Die Ouvertüre ist überhaupt selten gegeben worden; in
0032Wien niemals, nicht einmal nach dem großen Erfolg des
0033Freischütz“. So haben wir denn alle Ursache, Herrn Director
0034Mahler für diese unverhoffte, gerade jetzt so witzige Aus-
0035grabung zu danken.


0036Bruckner’s B-dur-Symphonie (Nr. 5), eine Novität
0037bei den Philharmonikern, war uns bereits aus einer früheren
0038Wiener Aufführung bekannt. Es will bei bestem Willen uns
0039nicht glücken, viel Neues über diese „Fünfte“ vorzubringen;
0040die Bruckner’schen Symphonien sehen einander so ähnlich,
0041daß auch die Kritiken sich ziemlich gleichen müssen. Wie in
0042den anderen Symphonien von Bruckner, so wechseln auch
0043in dieser Fünften kühne, originelle Einzelheiten mit leeren,
0044trockenen, auch brutalen Stellen, oft ohne erkennbaren Zu-
0045sammenhang. Wie helle Blitze leuchten hier vier, dort acht
0046Tacte in eigenartiger Schönheit auf; dazwischen ver-
0047wirrendes Dunkel, müde Abspannung, fieberhafte
0048Ueberreizung. Auch in der B-dur-Symphonie ver-
0049missen wir das logische Denken, den geläuterten
0050Schönheitssinn, den sichtenden und überschauenden Kunst-
0051verstand. Sie hat, meines Erachtens, weniger sinnlichen
0052Reiz und Originalität als die Siebente Symphonie in
0053E-dur; weniger Gesang und tiefe Empfindung als (nament-
0054lich im Adagio) die Dritte in D-moll. Nur in Einem Punkte
0055dürfte sie ihre Schwestern noch übertreffen: in ihrer er-
0056müdenden Länge. Director Mahler, ein warmer An-
0057hänger Bruckner’s, doch kein so blinder wie unsere Wiener
0058Fanatiker, hat an der Partitur sehr einschneidende Kür-
0059zungen vorgenommen: im ersten Satz machte er, ganz 
0060abgesehen von kleineren Weglassungen, einen großen Strich
0061über ganze 82 Tacte, im Adagio sogar über 85 Tacte!
0062Trotzdem empfanden wir auch diese neueste Bruckner-Feier
0063als eine starke Geduldprobe. Die Symphonie, eine Pracht-
0064leistung unseres Orchesters, wurde mit jenem unersättlich
0065lärmenden Enthusiasmus aufgenommen, welcher von jeder
0066Bruckner-Aufführung — in Wien — unzertrennlich ist.


0067In bescheidenen, reingehaltenen Grenzen, ohne die
0068Prätension des „Uebermenschen“, aber desto menschlicher,
0069erquickender, liebenswürdiger erklingt Dvořak’s Serenade
0070für Blasinstrumente. Vor dreiundzwanzig Jahren componirt,
0071hat sie jetzt ihre erste Aufführung im Philharmonischen
0072Concert erlebt und stürmischen Beifall errungen. Die
0073Serenaden (auch „Cassationen“, „Nocturnos“, „Diverti-
0074menti“) gehören zur musikalischen Charakteristik des acht-
0075zehnten Jahrhunderts. Da hatte jeder Fürst und jeder
0076reiche Edelmann seine kleine Musikkapelle, die an Sommer-
0077abenden im Park Musik machte. Auch in den Städten war’s
0078noch gemüthlicher; zu Haydn’s und Mozart’s Zeiten er-
0079klangen Nachts die Straßen und Plätze in Wien von
0080sanften Huldigungsmusiken, welche das Namensfest der
0081Angebeteten oder, wenn der Liebhaber Raison ver-
0082stand, ihrer gestrengen Mama feierten. Bekanntlich
0083hat Mozart viele solcher Serenaden geschrieben, theils für
0084Harmoniemusik, theils für ganzes Orchester. Das waren
0085wirkliche Gelegenheitsmusiken, und die besondere Veranlassung
0086wirkte bestimmend auf die Form des Stückes und Zu-
0087sammensetzung des Orchesters. Die „Serenaden“ zählten
0088sechs bis acht Sätze, worunter zwei bis drei Menuetts.
0089Spohr’s Notturnos für Harmoniemusik gehören in diesem
0090Sinne zu den letzten Ausklängen einer Kunstgattung, welche
0091so menschlich schön den Herzensangelegenheiten unserer
0092Großeltern zur Seite stand. In neuester Zeit hat (neben
0093Ignaz Brüll und Robert Fuchs) vor Allem Brahms 
0094die Serenade wieder auferweckt. Seine beiden Orchester-Sere-
0095naden gefallen sich, älterem Herkommen getreu, in größerer Red-
0096seligkeit; sechs Sätze zählt die in D, fünf Sätze die kleinere in A-Dur. [2]
0097Dvořak begnügt sich weislich mit vier Sätzen; eine länger
0098ausgedehnte Alleinherrschaft von Blasinstrumenten würde
0099bald monoton wirken. Den Charakter der einzelnen Instru-
0100mente und deren Gruppirung behandelt der Componist mit
0101feinem Verständniß und herrlicher Wirkung. In marsch-
0102artigem Rhythmus eröffnet der erste Satz sanft und feierlich
0103die Serenade; ohne Alterthümelei hält er doch eine gewisse
0104altväterische Haltung fest. Ebenso das sich anschließende
0105reizende Menuett. Auf die heitere Anmuth dieses Stückes
0106folgt das sentimentale Mondschein-Andante in A-dur; ein
0107zarter Wechselgesang zwischen Oboe und Clarinette, auf einer
0108vollharmonischen synkopirten Begleitung der Hörner und
0109Bässe. Man darf dieses Stück von idealer Schönheit wol die
0110Krone des Ganzen nennen. Im nothwendigen Gegensatz
0111dazu überläßt sich das Finale unbedingtem Frohsinn, dem
0112auch ein bischen Derbheit gar nicht übel steht. Dvořak’s
0113Serenade stellt den Bläsern keine leichte Aufgabe. Das Stück
0114muß so unübertrefflich rein und fein gespielt werden, wie
0115von unseren Philharmonikern; dann ist aber sein Erfolg
0116sicher. Möchte dieser Musterverein sich gelegentlich auch des
0117Sextetts für Streichinstrumente von Dvořak, seiner
0118Suite für Orchester, seiner Ouvertüre „Mein Heim“ und
0119noch manches anderen Stückes von Dvořak erinnern, das
0120unserem alljährlich dürftiger zusammenschrumpfenden Novi-
0121täten-Programme gar wohlthätig zu statten käme.


0122Wenige Tage nach der „Serenade“ überraschte uns ein
0123zweites größeres Werk des sonst in Wien recht stiefmütterlich
0124behandelten Dvořak: sein Requiem op. 89. Dasselbe ist
0125vor zehn Jahren geschrieben, und zwar (wie sein „Stabat
0126mater“) für ein Musikfest in England. Sei es gleich an-
0127fangs gestanden, daß wir Dvořak’s weltliche Musiken
0128seinen kirchlichen vorziehen — die letzteren sollen deßhalb
0129nicht unterschätzt sein. Dvořak’s Musik ist ein Weltkind,
0130rothwangig, lebensfroh und anmuthig; es hat Momente der
0131Schwermuth, aber nicht Tage der Buße und Kasteiung.
0132Dvořak’s Kirchenmusiken verrathen seine Kunst, die weltlichen
0133Stücke seine Natur. Wie alle modernen Tondichter von Bedeu-
0134tung, denkt auch Dvořak als Requiem-Componist mehr an den
0135Concertsaal als an die Kirche. Das bedeutet keinen Vor-
0136wurf, nur eine Richtung der Zeit. In der Kirche sind wir
0137fromme Christen und lassen uns die Musik dazu gefallen;
0138im Concert sind wir Musiker und vertragen uns mit der
0139Frömmigkeit. Immer kleiner wird die Zahl der für die
0140Kirche schaffenden Meister. Die gottesdienstlichen Com-
0141positionen selbst eines Mozart und Haydn sind fast alle ver-
0142schollen. Sie leben nur in der Kirche fort, also für das nicht
0143eigentlich musikalische Publicum. Dem Tanzlustigen ist bekannt-
0144lich leicht aufgespielt; dem frommen Kirchengänger auch. Unsere
0145heutigen Componisten begnügen sich nicht mit solcher Nebenrolle;
0146wenn sie einmal sich zusammennehmen und Kirchenmusik
0147schreiben, so hegen sie einen größeren, sagen wir einen andern
0148Ehrgeiz. Wie die Todtenmessen von Cherubini, Berlioz,
0149Schumann, Brahms, Verdi, so ist auch Dvořak’s Requiem 
0150mehr für den Concertvortrag als für den Gottesdienst ge-
0151dacht, schon ob seines großen Umfanges und der bedeuten-
0152den technischen Anforderungen. Was wir an dieser gewissen-
0153haften, gediegenen Arbeit vermissen, ist das uns liebgewordene
0154persönliche Gepräge des Autors. Auch für Verdi wie für
0155Berlioz war das Requiem ein fremdes Feld; dennoch
0156erkennt man die Beiden sofort. Nicht so Dvořak. Der
0157Zwang der feststehenden Form und der kirchlichen Tradition
0158hält Wache vor seinem Schaffen; sie lassen nichts Fremdes
0159herein, aber auch nicht sein Eigenstes.


0160An der Spitze des Requiems steht gleichsam als
0161Motto eine aus kleinen halben Tönen zusammengesetzte
0162Figur, welche als Leitmotiv durch das ganze Werk sich
0163hindurchzieht. Wir vermissen an dieser glücklichen Idee
0164nur einen prägnanteren Charakter dieses Leitmotivs selbst.
0165Auf den edlen, klangschönen Chorsatz „Requiem aeternam“
0166folgt das „Dies irse“, welches Dvořak, ähnlich wie
0167Mozart, in sechs abgeschlossene Sätze gliedert. Wir
0168staunen, wie maßvoll Dvořak in der Auffassung und Aus-
0169malung dieses Stückes sich beschränkt hat, das ja meistens
0170zu stark theatralischen Effecten verleitet. Postirt doch 
0171Verdi an den vier Enden des Saales Trompeten, die
0172zur Auferstehung rufen; Berlioz an derselben Stelle
0173sogar vier verschiedene Orchester von Blechinstrumenten
0174und acht Paar Pauken! Vielleicht haben gerade diese
0175Beispiele abmahnend auf Dvořak gewirkt, der auch mit
0176den bescheidenen Mitteln seines „Dies irae“, eine er-
0177greifende Wirkung erzielt. Auf die Schrecken des letzten
0178Gerichts legt sich mit sänftigender Hand das Tenorsolo
0179„Recordare“, mit dem sich innig anschließenden Gesangs-
0180quartett. Ueberhaupt scheint uns der Componist in jenen
0181Theilen am glücklichsten, welche als eigentliche Gebete den
0182Charakter tiefer Empfindung tragen. So das „Lacry-
0183mosa“, das als Zwiegesang zwischen Baß und Tenor
0184einsetzt. Desgleichen das „Sanctus“ und „Benedictus“
0185welche Dvořak, der liturgischen Ordnung entsprechend, in
0186Einen Satz vereinigt. Welch sonnig helle und warme
0187Melodie! Der folgende Abschnitt „Pie Jesu“, wol einen
0188der schönsten dieses Requiems, blieb bei der Wiener Auf-
0189führung weg; ohne Zweifel, weil in diesem schwierigen
0190a capella-Gesang eine makellos reine Intonation kaum
0191zu erreichen und festzuhalten ist. Auf die Worte „Quam
0192olim Abrahae“ bringt Dvořak, altem Herkommen fol-
0193gend, eine Fuge; die einzige in dem ganzen Requiem.
0194Die Virtuosität der alten Meister im strengen Fugenbau
0195stirbt immer mehr ab, und damit naturgemäß die Lust
0196dazu. Um so glücklicher wirkt es, daß Dvořak’s Requiem 
0197gegen das Ende sich nicht abschwächt, sondern im Gegen-
0198theil an Kraft und Reiz der Erfindung sich steigert. Das
0199„Agnus Dei“ krönt in würdigstem Abschluß das Werk.


0200Dvořak’s Requiem ist für Sänger und Orchester keine
0201leichte Aufgabe. Herr Director Loewe, welcher ein sehr
0202sorgfältiges Studium daran gewendet, sowie die be-
0203währten Gesangskräfte Frau Katzmayer und Fräu-
0204lein Bratanitsch, die Herren Schmedes und
0205R. Mayr haben den lauten herzlichen Dank des Publi-
0206cums vollauf verdient.